Читать книгу 1919 - Herbert Kapfer - Страница 12
Sie brauchten keinen Fahnenjunker mehr
ОглавлениеDer Novemberhimmel, von Wolken überfetzt, grau, melancholisch und trübe, brachte dem kein Lustgefühl, der hoffte, draußen im Freien könnte es besser sein.
Waldemar näherte sich wieder der Stadt. Die Menschen hatten ein paar flackrige Tage lang geglaubt, ihre Rufe nach Amerika würden mit Engelsstimmen beantwortet. Ein gepeinigtes und halb verzweifeltes Volk schien plötzlich den Verstand verloren zu haben. Es bekannte sich zu Idealen, deren Träger es gestern noch verlacht hatte, und hoffte, wenn es sich nun mit seiner wunden und zerquälten Seele den Pazifisten entgegenwarf, wäre ein Fest wie einst in biblischen Zeiten bei der Heimkehr des Sohnes.
So fühlte Waldemar Ring. Er ging durch die Straßen von Danzig. Es war nun nichts mehr mit den Husaren. Sie brauchten keine Fahnenjunker mehr. Waldemar merkte an der Leere in seinem Innern, wie sehr er sich eingerichtet hatte auf den Krieg. Er war so bereit gewesen, seine achtzehn Jahre hinzugeben, weil es nicht anders ging, weil man seinem Vaterlande angehörte.
Gewiß, die Bücher, von jungen Deutschen aus schönen Alpentälern oder Städten der Schweiz heraus gegen den Krieg geschrieben, würden große Kulturdokumente bleiben. Waldemar besaß ein starkes Selbstgefühl und der Krieg war ihm nie anders als ein Ungeheuer erschienen. Doch zu einer Sicherheitsreise in die Schweiz mußte man aus traditionslosen Gegenden stammen.
Es war völlig sinnlos für ihn, noch in Danzig zu bleiben. Es galt, sich anderswie einzurichten. Ein Studium natürlich. Aber was denn, wie denn? Wie können die Weisheiten noch wahr sein, die man vor diesem Zusammenbruch für richtig hielt? Waldemar erfuhr, abends um neun Uhr würde wahrscheinlich ein Zug nach Berlin gehen. Den wollte er benutzen. Das Vaterland hatte sich seines Stolzes begeben, die Mutter heiratete einen neuen Mann. Ganz frei, ganz allein ging man nun seines Weges.
Der Zug war angstvoll überfüllt. In den Korridoren kauerten ermüdete Soldaten auf hochgeschwollenen Gepäckstücken. Manche trugen die rote Kokarde an der Mütze, anderen waren die Achselstücke abgerissen. Aber auch die Revolutionäre besaßen kein Feuer. Stumpf und dumpf, mit geschlossenen Augen und offenen Mündern lehnten die meisten da, erschöpft von langer Fahrt oder von dem Entsetzlichen, dem sie entronnen.
Waldemar zwängte sich durch die Korridore. Es waren auch viele Flüchtlinge im Zuge. Die Wagen hatten schlechte Beleuchtung, eine trübselige Kälte breitete sich aus, Gerüche aller Art beklemmten den Atem. Waldemar fand endlich am Durchgang zu einem andern Wagen noch ein Stückchen leere Wand, an die er sich lehnen konnte. In trauriger Finsternis lag draußen das westpreußische Land. Der Zug hatte wohl ein- bis zweimal gehalten, und es entstand ein Geschrei um Plätze, die es nicht mehr gab. Die Soldaten fuhren dann für einen Augenblick aus ihrem Schlaf und sanken erleichtert zurück, als kein Weckruf kam und kein Feuergeknatter. Ein Herr zwängte sich durch den Harmonikaweg des Zuges, stieß Waldemar unsanft mit einem Koffer an und bat dann um Entschuldigung. Der Herr hatte blanke, dunkle Augen und sprach Thüringisch. Ob er erfahren könne, wie die nächste Station hieße? Weit und breit sei kein Schaffner zu finden. Doch der Fremde, der schon seit Königsberg mitführe, könne es im Zuge nicht mehr aushalten. Lieber bleibe er im elendesten Gasthaus eines bis jetzt noch unbekannten Ortes. Ob der junge Herr so gut sein möge, ihm sein Gepäck hinaus zu reichen, sobald der Zug mal wieder hielte? Der Zug hielt nach einer Weile. Der Herr schlüpfte an einem schnarchenden Soldaten vorbei zur Türe hinaus und Waldemar reichte ihm das Gepäck. Er sah flüchtig, daß auf den Koffern und Taschen eine Krone war, und er bemerkte auch, die gelbliche Pelzdecke, die er als letztes Stück beförderte, hatte ein sehr schönes, lichtblaues Futter. Waldemar hörte noch ein Weilchen den Singsang der Räder, dann schlief er stehend ein.
Dann stand Waldemar vor einem Schaffner, der den Gang versperrte. Neben diesem wuchtigen Mann befand sich eine junge Dame. Ihre seltsam großen Augen waren bernsteinfarben und blickten über die Dinge hinweg, während sie mit einer dunkeln, eintönigen Stimme sagte: »Die Koffer sind mit einer Krone und v. E. gezeichnet, die Pelzdecke ist mit hellblauem Tuch gefüttert.« Es ging wohl nicht an, daß Waldemar sein ihn bestürzendes Wissen zurückhielt. Der Dieb war erst an der vorigen Station ausgestiegen. Die junge Dame wandte in einer fast trägen Bewegung ihr Gesicht Waldemar zu. Er fühlte sich unter ihrem Blick erröten, überstürzte sich in bedauernden Worten, wurde aber von dem Schaffner unterbrochen, der eine Beschreibung der gestohlenen Sachen in sein Notizbuch machte. Wie die Damen hießen? Frau und Fräulein von Envers. Woher sie kämen? Von einem Landgut bei Riga. Gut, der Schaffner würde von der nächsten Station telegraphieren, daß man die Koffer, wenn sie ermittelt, an den Anhalter Bahnhof, Berlin sende.
Aus dem Halbabteil, vor dem Waldemar noch unschlüssig neben der jungen Dame stand, kam eine etwas ängstliche Stimme: »Ellen, es ist kalt. Gib mir doch die Decke.«
Da zog Waldemar Ring seinen Überzieher aus. Es war eine kurze, hübsche, pelzgefütterte Jacke und sein ganzer Stolz. Doch er entledigte sich dieses Beweises seiner Eleganz beglückt. Denn die junge Dame war überaus apart, und er konnte zeigen, daß es ihm nicht an Ritterlichkeit gebrach. Er blieb vor der Türe des Abteils stehen und überlegte, was nun weiter seine Pflichten gegen die Damen waren, an deren Beraubung er sich mitschuldig fühlte. Da kam Fräulein v. Envers und bat Waldemar, einzutreten.
Das Abteil war schwach beleuchtet – in der Ecke schlief sitzend eine Dame, die weißes Haar hatte, und das Gesicht in ein Kissen versteckt. Waldemars Überzieher lag auf den Knien der alten Dame. Die junge Dame an seiner Seite schlief ein. Sie bog sich ein wenig von ihm weg, nach einer Stütze für den Kopf, legte ihre Hände sonderbar still und langgestreckt in den Schoß und schloß die Augen. Er betrachtete die Hände. Sie waren schmal, sehr weiß und vollkommen ringlos. Von den Händen ging der Blick zu der Schlafenden. Sie hatte sehr dunkles Haar mit einem sehr reingezeichneten Stirnansatz. Es fiel in einer schlichten Welle über die Schläfen. Der Mund, schmal und mit sehr roten Lippen, hob sich in starker Abgrenzung aus dem blassen Gesicht. Der junge Mensch fühlte sich lebhaft erregt und wartete angestrengt auf ihr Erwachen, bis er selbst schlief.
Es mochte viele Stunden später sein, als ihm Worte ans Ohr klangen. »Du warst noch nicht in Großpapas Wohnung am Augustaufer, Ellen. Aber wir gehen nicht gleich zu ihm. Was würde er erschrecken, wenn wir so ohne Gepäck ankommen. Wir steigen im Kaiserhof ab –«
»Ohne Gepäck, Mama?«
»Wir fahren erst in Läden, ich habe etwas deutsches Geld, es ist eingenäht.«
Eine Pause entstand. Waldemar besann sich, ob er nun aufstehen sollte. Da klang die angstvolle Stimme wieder: »Wir müssen uns ein paar farbige Dinge kaufen. Wir dürfen nicht vor Großpapa hintreten, schwarz wie Raben von einem Schlachtfeld.«
»Aber liebe Mama – wir können ihm doch nicht etwas vortäuschen –«
»Doch – doch. Ich kann nicht so vor meinem alten Vater stehen und ihm sagen: Meinen Mann und Ellens Vater, den haben die Bolschewisten mit einer Axt in Stücke gehauen, und mich hielten vier von den Teufeln fest, und ich mußte zusehen –«
Die arme Frau bekam von ihren Worten einen Weinkrampf – der klang noch schrecklicher, als die Worte. Waldemar verließ das Abteil. Ihn schauderte. War das eine Irre? Aber dann fiel ihm ein, solche fürchterlichen Dinge hatte man ja so oft in den Zeitungen gelesen – gefühllos fast, stumpf, wie die Menschen in den vier Kriegsjahren geworden waren, weil kein Hirn und kein Herz imstande war, auch nur den tausendsten Teil all des Fürchterlichen, was geschah, sich ganz begreiflich zu machen. Er drängte sich durch die Korridore. Es ging dem Morgen zu. Waldemar stieß auf eine Gruppe von bärtigen Landwehrmännern, die gerade ihre Stullen auspackten. Er bot Zigaretten und Geld an und erhandelte ein paar Brote. Die befreite er von schmutzigem Zeitungspapier, in das sie gewickelt waren und riß Notizblätter aus seinem Taschenbuch ab, welche die Teller vorstellen sollten. Frau v. Envers hatte sich beruhigt. Sie sah Waldemar durch eine Stielbrille flüchtig an und sagte: »Mein Herr, ich wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie uns an der nächsten Station etwas Kaffee besorgen würden.«
Waldemar stand an der Wagentür – öffnete das Fenster und fand, die Kälte, die eindrang, war immerhin besser als die verbrauchte Luft des Wagens. Das Land lag noch im Dämmern. Plötzlich fühlte Waldemar einen leichten Aufstrom, eine Frische in sich – und wußte sofort, was es sei: Fräulein v. Envers war zu ihm herausgekommen. Dunkel und schlank, fast ebenso groß wie er, stand sie neben ihm.
»Sie müssen Ihre Frau Mutter nicht in ein Hotel bringen, sondern gleich zu dem Großvater,« sagte er und errötete, denn er verriet sein Zuhören. Die sonderbare Entgegnung kam: »Haben Sie sich nicht auch die Befreiung anders gedacht? Der Anfang war nicht schön. Aber vielleicht wird es in Berlin anders sein. Wir warten doch alle so –«
Er sah in das blasse Gesicht des jungen Mädchens, fühlte sich von rätselhafter Anziehung erregt, und blieb doch gehemmt, sich zu äußern. Sie standen minutenlang stumm nebeneinander, den Blick voneinander gerichtet, hinaus auf die dämmernde Ebene, über der ein trauriger Himmel stand, dessen Gestirne erloschen. Da fuhr der Zug in einen Bahnhof ein und Waldemar gedachte des Wunsches nach Kaffee, sagte hastig, er wolle mal nachsehen und sprang aus dem Wagen. Es war eine Station, von der eine andre Linie abzweigte, und die Bewirtung befand sich auf einem Bahnsteig, der erst durch eine Unterführung zu erreichen war.
Als Waldemar wieder durch den Tunnel rannte, rollte sein Zug über ihm hinweg. Er hatte gerade noch den Anblick des letzten Wagens und sah seine roten Lichter in den Morgennebel hineinfahren. Waldemar blickte dem Zuge nach, als sei er ein entschwindendes Phantom. Dann, um doch etwas zu tun, trank er wenig von dem schrecklichen Kaffee und schleuderte Glas und Inhalt achtlos über den Bahnsteig hinweg. Sechs Stunden später ging ein andrer Zug und kam am frühen Nachmittag in Berlin an.