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J’attends, antwortete sie lässig

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Über Berlin stand der graue Novemberhimmel. Die Straßen sahen aus, als wären sie wochenlang nicht gekehrt worden. Mit dem Sieg des Volkswillens schien sich eine Schicht von altem Papier, von verwehtem Schmutz, von Unwirtlichkeit herabgesenkt zu haben. Der besiegte Bürger hat noch nicht gelernt, daß er nun die Straßen fegen soll, dachte Waldemar. Aber vielleicht griffen viele erlöste Volksgenossen bald wieder lieber zu einem Besen, als zu Schreibfedern und Büchern, war seine leichtsinnige Meditation. Die schmutzigen Straßen, die plötzlich die reinlichste Stadt der Welt zeigte, machten ihm Unbehagen. Auch die verwahrlosten Soldaten, die Menge schlechtgekleideter, nachlässiger Müßiggänger. Dann fiel ihm wieder ein: das Volk glaubt, es hat seine großen Tage. Die rissen es aus Druck, Sorge, Not, aus aller Tiefe von greifbarstem Elend. So schnell war das gekommen, daß sie keine Feierkleider herbeisuchen konnten und keine frohen und lichten Gebärden unter diesem Novemberhimmel erfassen. Waldemar überschritt die Potsdamer Brücke und bog in die Straße am Ufer ein. Es blieben ihm, wie er sich auf einem Stadtplan unterrichtet hatte, vielleicht noch zwanzig Häuser zu besuchen. Wenn er da Ellen v. Envers nicht fand, mußte ihre Existenz ein Traum gewesen sein, oder sie hatte die Stadt wieder verlassen, in neuer Flucht. Dieser Gedanke begann ihn zu peinigen. Wieder war das vergebliche Treppensteigen, das sinnlose Fragen, die erschrockenen oder mürrischen Antworten. Endlich sah Waldemar an einer Straße einen Blumenkeller. Chrisanthemen standen vor seinen Stufen in die Tiefe und Grabkränze aus tiefrotem Buchenlaub und Moos und bunten Tuffs luden zu pietätvollen Handlungen ein. In der Tiefe des Verkaufsraumes roch es heftig nach Thujazweigen, die Waldemar peinlich waren. Eine Frau unterhandelte mit der Inhaberin und erging sich in entsetzten Ausrufen über den Preis von Totenblumen. Die kam auch schon heran. Sie hatte den wie ausgeleierten Mund der Berliner Portierfrau, der viel redet, viel keift, viel jammert, glattes schwarzes Haar und schiefes Lächeln. Waldemar hatte nicht mehr die Kraft, neue Frische in seine Frage zu legen. Sein: »Wohnt hier ein alter Herr, zu dem dieser Tage zwei Damen, Flüchtlinge gekommen sind,« klang matt und wie ohne Interesse. Doch über das Gesicht von Frau Brandenburg breitete sich ein Lichtschein.

»Die Damen sind aus Rußland, aus Riga, nicht wahr? Und es ist ihnen alles gestohlen, nur det nackte Leben haben sie noch.«

Er stürzte mit Chrisanthemen behaftet zwei Stockwerke des Hauses hinauf. Ein paar Minuten später stand er in einem unbeschreiblich ruhigen, altmodischen und hellen Zimmer vor der Gefährtin der sonderbaren Nacht. Er fühlte bei ihrem Anblick, er hatte es nicht mehr für möglich gehalten, sie wieder zu finden. Er hatte geglaubt, sie wäre ein Phantom. Und in der sonderbaren Nacht war der Wunsch, sie möchte ihn küssen, wie eine Flamme über ihn hingeflogen. Es war sein erster solcher Wunsch gewesen. Sekundenlang sah er die Fremde an. Er machte ein paar Schritte vorwärts, lächelte kindlich, breitete seine Arme aus und umfaßte die Schultern des schönen Mädchens. Er konnte nichts dafür. Bei Gott, nein. Taumelnd trat er zurück, halb fröhlich, halb entsetzt über sich selbst. »Verzeihen Sie tausendmal, ich habe Sie so sehr gesucht. Wie ein Verfolger lief ich hinter Ihnen her.« »Kind,« antwortete sie mit leisem Erblassen. Es störte ihn nicht, daß in diesem Wort, das sein Ungestüm verzieh und verwischte, eine große Überlegenheit lag. Er sah die Fremde mit seinen lebhaften, unruhigen, blauen Augen an. Wohlgefühl überkam ihn. Das Phantom war ganz Dame. Kleidung, Haltung, Gebärde, nichts störte seine Verwöhntheit. Fräulein v. Envers fragte: »Wie heißen Sie denn? Neulich dachte ich, Sie wären ein Erwachsener, ein Student. Nun sehe ich – –«

Aber sie mußte lächeln. »Es ist doch hübsch, ein Junge zu sein. Waldemar Ring?« Mit ihrer Stimme, die so aus Fernen klang, wiederholte sie ein paarmal den Namen. Es war ein sonderbares Lächeln um ihren Mund dabei.

»Bleiben Sie zum Tee,« sagte sie. »Ich kann Ihnen freilich keine Soldatenbutterbrote geben.« Sie klingelte. Der Tee kam ins Zimmer. Sie bot Waldemar Zigaretten an, sie behandelte ihn als Knaben. Er nahm das hin. Er fragte nach dem Ergehen der Mutter und blieb noch, als schon die müde Dämmerung des Novembertages an die Scheiben geschlichen kam.

Waldemar fühlte, er wäre ganz allein mit der Fremden – irgendwo im Grundlosen jenseits der Konvention, des Zwangs. »Sie kamen von einer Revolution in eine andre – aber hier werden Sie bleiben, nicht wahr? Sie werden nicht wieder fliehen. Nicht in Ihr schreckliches Land zurückgehen?«

Sie senkte das Gesicht. »Mein Vater begriff die Zeit nicht. Er war so streng mit den Leuten. Er hatte die Ideale eines andern Jahrhunderts. Er ist an ihnen gestorben.« Ihre Stimme klang suchend. »Ist es nicht so, daß die Masse immer liebt, weil sie verkennt? Welche Liebe ertrüge ganze Erkenntnis und ganze Nähe?«

Er antwortete pathetisch und aus der Vergangenheit herüber, in der ihm sein siebzehntes Lebensjahr lag. »Ich habe den Abgrund noch nicht gefunden, in den ich mein ganzes Gefühl stürzen könnte –« aber er wurde rot dabei.

»Noch nicht?« antwortete Fräulein v. Envers. Und er sah die Bernsteinfarbe ihrer Augen leuchten.

Sie lächelte schwer und ihm unerträglich. Unerträglich überlegen, unerträglich fern. Er wurde dringlicher. Er warf Worte aus Knabenjahren in die Stunde. Jene Worte, die lächerlich für solche sind, die sie nie gefühlt haben. »Was tun Sie hier?« fragte er dann. »Sehen Sie den Menschen zu, die die Straßen erfüllen? Oder wollen Sie Redner hören?«

Sie hatte sich zurückgelehnt. Er sah das weiße Gesicht sonderbar erhoben. Stark verschönt durch die Schatten der Dämmerung. Er sah die Bernsteinfarbe der Augen leuchten.

»J’attends,« antwortete sie lässig. Es war nicht das deutsche: ich warte. Es war das siegessichere Beharren fanatischer Menschen. Wie in einem Zorn ging er nahe zu ihr. Was quälte sie ihn? Was peinigte sie ihn? Warum hatte ihn das Erinnern an sie seit jener Nacht zwischen Danzig und Berlin nicht verlassen, ihn unstet gemacht, ihm alles andre so nichtig gemacht? Böse Knabenfinger umfaßten die schmalen Gelenke des jungen Mädchens. Es war Zorn in diesem Griff.

»Ich kann Sie auf der Stelle fortschicken lassen,« sagte das junge Mädchen mit herrischer Stimme. »Was fällt Ihnen ein?« Der Zorn löste sich in eine weiche, süße Welle. Waldemar kühlte seine Lippen an kühlen Händen. Er war taumelnd vor Glück, daß ihm diese Hände gelassen wurden.

»Sie müssen gehen, Waldemar Ring.«

Wieder stürzten hundert Worte hervor. Er wollte Bücher bringen. Er wolle Blumen bringen. Er müsse von einem Plan erzählen, den er soeben gefaßt. Der Plan beträfe ein neues Drama. Er wolle den Schatten Wilhelms des Zweiten auf die Bühne bringen. Ob sie wisse, was er damit meine? Einen Menschen, der das unentrinnbare Geschick habe, immer anders zu wirken, als er sei. Oder er wolle die Revolution malen.

Vor dem kleinen Schauspieler, der sein Hirn ausrasen ließ, um zu gefallen, um eine Zärtlichkeit zu erbetteln, stand kühl und schlank, schmalhüftig und unberührt, aus tiefer Ferne ein melancholisches Lächeln holend, das russische Mädchen.

»Auf Wiedersehen,« sagte sie.

Waldemar kam von der Wannseebahn her gegen den Potsdamer Platz. Er fand Menschenaufläufe, ein Getriebe, das die Straßen verstopfte. »Was ist denn?« fragte er jemand und hörte, – es war ja heute die Beerdigung der Revolutionsopfer. Der große Demonstrationszug ging durch die Stadt. Er würde wohl gleich auf dem Potsdamer Platz eintreffen. Waldemar drängte sich durch die Menge. Vielleicht war es noch möglich, den Platz zu überschreiten. Doch es gelang ihm nicht. Er ließ sich zwar wie einen Quirl vorwärts treiben und hatte seine Schultern an hundert andern gerieben, doch zuletzt gab es eine Mauer von kleinen Tischen, Buden, die man nicht wie Menschen beugen konnte. Soldaten der großen Armee standen da als Straßenbummler, als Leierkastenmänner, als Ausrufer. Da kam ein andrer Ton. Ein Trauermarsch klang auf – rote Fahnen zogen heran – Reiter des Sicherheitsdienstes sprengten vor: Der Leichenzug der Revolutionsopfer kam von der Königgrätzer Straße her auf den Potsdamer Platz. Schwarz oder bunt gekleidete Männer gingen in müder, lässiger Haltung, sie trugen Kränze mit roten Schleifen. Sie trugen oft zu dreien und mittels frischer, greller Latten Kränze wie kolossale Räder, mit Schleifen von Menschenlänge. Dann kamen Wagen. Alle alten Droschken von Berlin, mit armseligen und mageren Rossen schienen aufgeboten, Deputationen zu ziehen. Frauen und Mädchen folgten diesen Wagen, Ladenmädchen, Arbeiterinnen, in den kurzen Röcken der Mode, die schonungslos die schiefgetretenen Stiefel enthüllten. Kleine Mädchen mit ein bißchen Ernst, andre mit der unzerstörbaren Frechheit derer auf den Gesichtern, die seit frühesten Kindertagen im Menschen den Feind und Konkurrenten sehen sollten. Männer gingen, die wickelten ihre Stulle aus Zeitungen und bissen in das freudlose Brot. Andre rauchten ihre Zigarettenstummel neu an. Die kleinen Mädchen aus den Fabriken trugen die Köpfe hoch und schauten unter grünen, blauen, roten Hüten ermunternd auf die Menge. Sie waren vollhüftig, breit, kurz, oder sie waren aufgeschossene, haltungsarme Gestalten in Mänteln und Jacken mit ausgebeulten Taschen. Zuweilen kam eine neue Musikkapelle. Kläglich klangen die jammervollen Töne einer süßlichen Melodie, die Mendelssohn erfunden, Gefühl zu peinigen: »Es ist bestimmt in Gottes Rat –« Durfte man Logik verlangen? War die Revolution in Gottes Rat bestimmt? »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt,« blies die nächste Musik. Es gab noch keine Revolutionstrauermärsche.

Plötzlich schossen Waldemar Tränen in die Augen. Er fühlte vor all diesen schrecklich gekleideten, körperlich häßlichen, mit stumpfen oder gemeinen Gebärden Behafteten, die den Särgen ihrer Genossen voranschritten, die Armut, das Elend, die jammervolle Gebundenheit des Proletariats. Er hatte noch niemals solche Menschenmassen gesehen. Und niemals eine ähnliche Demonstration. Da gingen sie, jeder einzelne in seinem Wesen vielleicht doch betroffen oder verändert vom Gefühl der Stunde: und waren so erbarmungslos vom Fluch der körperlichen Niedrigkeit gezeichnet. Dies ist ein Teil des Volkes, das wir berufen glauben, um die höchsten Güter der Menschheit zu ringen? Knechtsgestalten, ohne Anmut, ohne Würde – und doch in ihrem Empfinden Vereinte zu einem gewollten Gefühl? Oh, es war eine Demonstration. Es war eine Heerschau von greller Deutlichkeit für den, der vielleicht noch nie begriffen, was es heißt, der Tiefe anzugehören – –

Ein flacher Spediteurwagen zog heran. Er war mit rotem Stoff eilig umwunden, er hatte Gerüste aus frischen weißen Brettern: auf denen standen drei Särge. Armselig und wie nackt, trotzdem die Kränze mit den roten Blumen, den roten Schleifen um sie schwankten.

Zwei schwarze Särge, ein weißer Sarg.

»Das war ein Mädchen,« sagte ein Soldat neben Waldemar.

Ein Reiter der Sicherheitswache sprengte heran: »Hüte ab,« rief er –

Und dann kamen wieder die endlosen Wagen mit den müden, alten Pferden. Und es kamen wieder die kleinen Mädchen in den dünnen, kurzen Röckchen, durch deren elendes Gewebe man die Kälte eindringen fühlte –

1919

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