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Die neue Zeit
ОглавлениеSo heißt der Titel einer Broschüre, die soeben aus München eintrifft. Sie enthält die Reden Kurt Eisners, Ministerpräsidenten des bayrischen Volksstaates, vom Ausbruch der Revolution, 8. November, bis zur Versammlung der bayrischen Soldatenräte am 30. November, und ist das erste authentische Programm einer größeren Gruppe Sozialisten und Demokraten, die die provisorische Regierung einer deutschen Provinz übernommen haben. Wo nichts zu sozialisieren da ist, da hört der Marxismus von selbst auf. Diese so einfache Wahrheit ist keineswegs Allgemeingut, und man braucht nur nach Berlin zu sehen, um keinen Augenblick darüber im Zweifel zu sein, daß man, wie Eisner sagt, in Berlin zwar radikaler redet, in München aber radikaler handelt. Eisner kennt keine Angst vor dem Bolschewismus. In Süddeutschland liegen ja wohl die Verhältnisse auch anders als in Berlin, dem eigentlichen Herde der Intelligenz. »Meine Herren«, sagt Eisner, »Bolschewismus! Ich will Ihnen sagen, worin der Gegensatz der äußersten Linken mit mir besteht. Wenn einmal die Not groß ist, und wenn Hunger ist, und Arbeitslosigkeit, dann nimmt sich eben jeder seinen Unterhalt, wo er glaubt, ihn zu finden. Der Verhungernde plündert die Bäckerläden. Das ist aber kein Bolschewismus, weder theoretisch, noch praktisch, das ist die Verzweiflung vor dem Untergang. Der theoretische Unterschied zwischen mir und den Bolschewisten besteht darin, daß ich mir gar kein Hehl daraus mache, daß es mir utopisch erscheint, wenn wir im gegenwärtigen Augenblick des Zusammenbruchs die Produktion, die Industrie und die Produktionsmittel zu vergesellschaften anfangen.«
Er fühlt einen neuen Enthusiasmus des Schaffens rings im Lande, als ob die Millionen nur darauf gewartet hätten, um befreit vom Druck nun mitzuhelfen. »Wir rufen über unser Land hinaus zu den Völkern, die gestern noch unsere Feinde waren: Wir bekennen unsere Schuld! Und bahnen damit den Weg zu innerer Verständigung und Versöhnung.«
Man darf nicht vergessen, daß so zu den Leuten noch niemand in Deutschland gesprochen hat. Eisner rechnet ganz richtig: Würden die Massen in Berlin erwachen – sie sind entkräftet und unterernährt, außerstande zu handeln –, so ließe sich rasch eine Verständigung über ganz Deutschland im Eisner’schen Sinne erzielen. Aber die in Berlin machen Weltrevolution und haben nicht einmal die Kraft, das Auswärtige Amt auszuräuchern, bekämpfen den Weltkapitalismus und brauchen doch auswärtige Kredite, wenn sie nicht verhungern wollen.