Читать книгу 1919 - Herbert Kapfer - Страница 33

Aber vielleicht verstehen Sie, daß manches schlimmer ist als sterben

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Waldemar wanderte ziellos durch die Straßen. Er sollte heute abend nicht zu Ellen. Nun, was sollte er denn dann? Ins Theater gehen? Er las die Ankündigungen an den Litfaßsäulen, entschied sich für Peer Gynt, war überzeugt, auch wenn er nicht nach einer Karte anstand, würde für ihn schon noch ein Platz sein – und sah noch zwei leere Nachmittagsstunden vor sich. Ob er ins Zeitungsviertel ging? Sie schossen dort. Es gab noch Kämpfe um Mosse und Scherl. Leichtsinnig machte er sich auf den Weg. Da kam er an einem Blumenladen vorüber, der die wundervollsten dunkelroten Rosen hatte. Die Geldscheine flatterten auf einen Tisch. Ein Fräulein begann erst zu lachen, dann wurde sie von stiller Hochachtung erfüllt. Sie reichte Waldemar die letzten roten Rosen ihres Ladens mit einer Verbeugung. Gab es Prinzen der Revolution, dachte vielleicht das Fräulein.

Waldemar hatte die Arme voll dunkelroter Rosen. Ihr Duft stieg auf. Es waren die feinen und süßen Arten, die etwas von ihrem Blühen und Duften auch in die Blätter geben. Aus diesem Geruch kam Waldemar eine seltsame Faszination. Er wollte sie Ellen bringen. Aber er fühlte, sie war nicht zu Hause, er würde sie nicht finden. Er hatte das Gefühl, sie war zu dieser Stunde an einem Ort, den er nicht kannte. So ging er mit seinen Rosen weiter, bis er auf eine der Brücken kam, die den Kanal überspannen. Dort blieb er stehen und sah auf das dunkle Wasser hinab, bis langsam ein Spreekahn gezogen kam. Sein Kiel schnitt eine weiße, schaumige Furche – machte das Wasser zu fröhlichen Wellen. Da fiel Waldemar ein, diese hellen Wellen zogen an Ellens Haus vorüber. Oh, sie war wohl glücklich. Sie liebte es doch so, wenn Aufruhr in der Luft lag. Die Revolutionäre zogen durch die Stadt, er sah mit den Augen Ellens ein Volk im Aufbruch zur Freiheit. Und überflammt, von dem Fluidum fortgerissen, das über Berlin lag, von dem Rausch ergriffen, den das Wort Freiheit vermittelt, hob er ein wenig die Arme. Ein paar der roten Rosen fielen auf das Brückengeländer, die schweren Blütenkelche neigten sich, glitten, taumelten dem Wasser zu in die hellen Wellen.

Da wurde er von einer knabenhaften Leichtigkeit erfüllt. Das Wasser trug die roten Rosen an Ellens Haus vorüber – Und da er ihr Bett noch nicht mit Rosen bekränzen durfte, gab er die Blumen den lichten, frohen Wellen – er warf sie aus vollen Händen – die Wellen nahmen sie auf und trieben sie wieder hoch – und führten sie in schneller Bahn dem Zug des Schiffes nach –

Die Klingel hatte ein seltsames Schrillen, als töne sie in einer Leere.

»Wo ist Ellen?«

Sie war fort. Sie hatte bald nach dem Mittagessen das Haus verlassen, um ins Kunstgewerbemuseum zu gehen, wo sie alte Vasen ansehen wollte, um eine Nachbildung zu formen. Jetzt, abends hätte sie längst, längst zurück sein müssen. Im Kunstgewerbemuseum? An der Albrechtstraße? Dem Zeitungsviertel der Straßenkämpfe so nahe? Wie leicht hatte sie Bekannte treffen können! Die Stadt war voll von Balten. Es mochten Freunde aus Riga, aus Libau, aus Mitau des Wegs gekommen sein und sie mit in ein Kaffee- oder Speisehaus genommen haben. Nicht wahr, hier in der Wohnung gab es doch kein Telephon. Sie hätte natürlich sonst vom Kaffeehaus angeklingelt.

Der Beamte nahm das Tuch ab und trat taktvoll zur Seite.

»Heute nachmittag, etwa nach vier Uhr, ist ein Fräulein auf der Treppe des Kunstgewerbemuseums von einem versprengten Maschinengewehrgeschoß in den Rücken, in die Lunge, getroffen worden. Als sie hierher gebracht wurde, war sie nicht mehr bei Bewußtsein. Sie ist bald darauf gestorben.«

Die Leiche, die da auf dem Holzschragen lag, hatte nur das Gesicht verhüllt.

Sie begruben Ellen v. Envers um die Mittagsstunde, und ein seltsam hellblauer Himmel stand über Berlin. In den Zeitungen waren nicht nur die Anzeigen des Großvaters, sondern auch Reporternotizen von dem schönen jungen Mädchen, das von bolschewistischen Horden aus der Heimat vertrieben, hier einer Kugel der Revolution zum Opfer gefallen. Es hatte sich ein großes Gefolge von Menschen auf dem Kirchhof versammelt.

Wohin sollte man Waldemar nach dem Begräbnis bringen? Zu seiner Mutter, die neben ihm stand, auffallend in ihrer hochgewachsenen Gestalt, in ihrer formalen Vornehmheit? Würde er mit zu dem Großvater gehen? Doch Waldemar tat nichts dergleichen. Vor der Friedhofstür stieg er wortlos in ein Auto, grüßte kaum und fuhr davon.

Waldemar hatte irgendwo das Auto halten lassen. Er befand sich in einem Teil des Tiergartens, der ihm nicht geläufig war. Kleine, kümmerliche Steinbilder standen da, und an der Seite der Straße floß der Kanal. Er wollte den Chauffeur entlohnen und es zeigte sich, daß er kein Geld bei sich hatte. Er zog seine Uhr heraus und gab sie. Der Mann bat um die Adresse, er wollte die teure Uhr nicht behalten.

»Warum, das ist doch ein ganz gutes Geschäft?«

»Ich bin ein königlich preußischer Leutnant außer Dienst,« sagte der Chauffeur. Waldemar griff unwillkürlich an seinen Zylinder. Vielleicht sah der Fremde das Verzweifelte durch Waldemars Augen irren. Er sagte: »Verzeihung. Die Leute sagten es. Verlobte von Spartakisten erschossen. Ein Wort: ich habe meine Verlobte in Mainz wiedergesehen. Ich kam aus Etappenlazarett. Sie saß dekolletiert und mit einem französischen Offizier in einer Theaterloge. Man kann jemand um ein Grab gewiß nicht beneiden – aber vielleicht verstehen Sie, daß Manches schlimmer ist als Sterben.«

»Wie heißen Sie?« fragte Waldemar. Der Leutnant verzog den Mundwinkel. »Bitte nehmen Sie Ihre Uhr. Seinen Namen muß man zu einer solchen Geschichte nicht sagen –«

Er kurbelte los. Waldemar war plötzlich ganz wach, er las die Nummer des Wagens ab. Langsam ging er weiter. Er dachte an Ellen. Er dachte, wo ist sie? Aber dabei sah er immer einen jungen Offizier, der in eine Theaterloge hinaufstarrte und dort seine Verlobte mit nackten Schultern neben einem französischen Freund sah. Die Besiegten zu lieben, ist nicht jedermanns Sache, dachte er hohnvoll.

Er kam nach einer Weile durch die Bellevuestraße nach dem Kemperplatz. Er achtete nicht auf den Weg, nicht auf Menschenansammlungen, denn sie waren das Alltägliche in der Stadt. Erst als ihn ein Soldat mit einer roten Binde um den Arm, höflich fragte, ob er sich dem Trauerzug anschließen wollte, wurde er aufmerksam. Nein – er wolle sich nicht anschließen. Dann müsse er hier auf der Trottoirinsel stehen bleiben, sagte sehr freundlich der Soldat. Und Waldemar sah die Siegesallee hinunter: Die steinerne Galerie Wilhelms des Zweiten schien zum Spuk, zum Wahnbild geworden.

Unter den weißen Marmorbildern standen Kopf an Kopf unzählbare Menschen. Über ihnen aber schwebten in der Farbe des Blutes, in der Farbe von Kirschen, in der Farbe leuchtenden Zinnobers die Banner der Revolution. Es war ein Strom, ein Meer von Rot – eine Aufhäufung aller Abtönungen der Farbe. Dunkelrote Flecke, glänzende Zinnoberstücke, von Goldborten umflackert, mit goldenen Inschriften versehen, leuchtend, schreiend, aufdringlich, triumphierend die Apotheose eines Willens zur Macht. Die weißen Marmorbilder leuchteten. Die roten Banner waren wie ein Mohnfeld unter sie gebreitet. Und über dem Aufzug des Proletariats, das heute den weißen toten Hohenzollern seine blutroten Banner zeigte, stand ein Frühlingshimmel, hellblau, licht, von weißen Wölkchen überschwommen. »Liebknecht spricht,« hörte Waldemar jemand neben sich sagen. »Auch Rosa Luxemburg spricht. Dann geht der Zug die Linden hinauf.«

Waldemar stand wie ein Hypnotisierter vor diesem Jubelbild der Farben. Der weiße Marmor, die mohnroten Banner, der blaue Himmel – es war ein so unerhörter Eindruck für seine Augen, daß er hinsah wie ein Andächtiger. Bewegung kam in das Bild. Die roten Banner begannen zu schaukeln, sich scheinbar noch zu vermehren, zu wachsen. Nun sah man auch noch rote Kränze, riesenhaft, Räder an Größe, geschleift von Pöbelgestalten – von Menschen, mit dem Stigma der körperlichen Niedrigkeit. Sie waren zu einem Begräbnis da. Und es schien doch, daß sie einen Freuden- und Triumphtag hatten.

»Kränze, wenn du lebtest, dir beschieden

Nie erreichte – –«

Oh, all diese Menschen hier, sie mochten tausendmal Leidende, tausendmal Geknechtete, des Rechts beraubte sein: Ekel stieg in Waldemar hoch. Ihre schöne, schöne Revolution hatte Ellen den Tod gebracht. Ihre schöne, schöne Revolution hatte ein Mädchen – nein, seine Geliebte, seine Verlobte, den Sinn seines Lebens als ein totes Nichts in die nasse, kalte Erde geworfen. Haß flackerte in seinen Augen auf. Haß krampfte seine Hände zusammen. Ein so brennender, so wühlender Haß, wie ihn der Mensch nur für das findet, was ihn einmal bezaubert hat.

1919

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