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Die Braut des wahren Revolutionärs! Hebt sie nach vorn!

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Es war gegen 10 Uhr morgens, als unter einem grauen Schneedunste, den man als feuchten Schleier fühlte, eine ordnende Bewegung unter den Wirrwarr von Menschenströmen und Menschengruppen, Autos und Wagen der Straße Unter den Linden kam. Sie nahm die Richtung nach dem Denkmal des Alten Fritz, wo ein Mann in Matrosenkleidung hinaufkletterte bis zum Sockel, worauf die stolz trabenden Beine des Pferdes standen. Zwischen das rechte Vorderbein, das in die Erde gestemmt, und das linke Vorderbein, das mit seinen bewegten Muskeln die Luft mit ihren Widerständen majestätisch zu verachten schien, stellte sich der Matrose, nahm seine Mütze mit den wehenden Bändchen ab, und sie in der Luft schwenkend, rief er mit einer Riesenstimme, die nach den ersten Lauten die Menschenmasse des großen Platzes zu einer seltsamen Ruhe zwang: »Freunde der Freiheit! Genossen! Wenn wir auf allen Straßen Schieber am Werke sehen, die Fleisch, Mehl, Zucker, Fett, Öl, Tabak, Zigarren, Zigaretten, Schokolade, Kleider, Wolle an die Reichen verhandeln, obgleich dies alles den Armen zugute kommen sollte, dann gibt es dafür eine Ursache. Wenn wir auf allen Straßen schon morgens die Geilheit in verführerischen Kleidern Opfer werben sehen aus Furcht, sonst für den Abend leer auszugehen, dann gibt es eine Ursache dafür. Wenn auf allen Straßen Soldaten und Zivilisten gehen und heimlich oder offen Waffen tragen, wenn man nicht weiß, ob man in der nächsten Minute in einem blutigen Zusammenstoße von Menschen derselben Sprache, derselben Herkunft, derselben Not seinen Tod finden wird, dann gibt es dafür ebenfalls eine Ursache. Der Mensch ist gut! Er ist gut von Geburt. Aber dann wird er nicht gleichmäßig zum Guten erzogen, sondern zum Bösen; dann wird das Kind reicher Leute zum Genuß, zur Herrschgier, zur Ungerechtigkeit, zur Grausamkeit herangezüchtet; dann lernt das Kind armer Leute den Neid, die Habgier, den Trotz, das Mißtrauen, den Haß, die Rache. Die Klassengegensätze, die ungerechte Verteilung des Besitzes, die Wohnställe der Armen, die Paläste der Reichen, die ungerechte Ausbildung der Menschen, die nicht etwa nach der Größe der Begabung, sondern nach der Größe des Geldhaufens vorgenommen wird, das hat den Menschen böse gemacht. Und das ist die Ursache unseres Zusammenbruchs, unseres Aufruhrs, unserer Hoffnung …«

Er warf seine Sätze wie Feuerbrände in die Gesichter der Lauschenden, und es war, als ob er tiefste Abgründe damit grauenhaft erhelle. Er schien ganz ruhig, groß und gewaltig wie eine vor den grünlichen Bronzeleib des Denkmalpferdes aufgerichtete ebenfalls aus Bronze gegossene Gestalt, denn nur die Lippen bewegten sich aus nächster Nähe sichtbar an diesem Redner. Er forderte die Gleichheit der Klassen, die Aufteilung der Vermögen, die Sozialisierung der Wirtschaft; er kämpfte gegen die Revolutionsregierung, denn diese paktiere mit den Kapitalisten, weil sie zu schwach wäre, den ganzen Sozialismus zu wollen.

Niemals konnte ein Redner so lange unwidersprochen reden. Zwar schienen die Zuhörer nicht jene zu sein, die sich sonst auf den Straßen herumtrieben und nur danach lüsterten, wie sie sich vergnügten und wie sie das Geld dazu bekommen könnten. Die Gesichter, die der Rede lauschten, waren nicht zügellos vor Habgier, Wollust und Herrschgier; solche Gesichter gab es ja auch, aber in ihnen war alles zu einem Grinsen verzogen. Die meisten Gesichter waren voll abgehärmter, zerbissener Linien und Furchen, waren nichts wie fleischlose Muskeln, die eine sonderbare Hoffnung strafft, die ein harter Wille spannt, waren entweder Sorgengesichter, mit Augen leuchtend wie die von Kindern, die die Wirklichkeit eines Märchens erwarten, oder waren entschlossene Gesichter, die für das Leiden vieler Jahrzehnte Entschädigung heischten und mit finsterer Unerbittlichkeit darauf bestehen wollten wie auf einen Schein. Die Menschen stammten aus fernen Vierteln der Millionenstadt, aus armen, kalten Wohnungen, die mehr Schlupfwinkel des Elends als Wohnzimmer für Menschen sind. Seit der Staatsumwälzung waren sie gewohnt, ihre Meinung ohne Furcht hinauszubrüllen, wenn es sein mußte. Warum schwiegen sie jetzt und preßten die Lippen fester aufeinander? Lag es daran, daß des Redners blaue Matrosengestalt, von Ferne gesehen, sich mit dem grünen Bronzeleib des Denkmalpferdes in der Farbe verwischte, daß man sie also nicht erblickte, sondern nur vom Denkmale her eine rätselhaft gewaltige Stimme erhitzende Gedanken durch grauen Schneedunst niederwerfen hörte, eine Stimme, deren Gesicht geheimnisvoll blieb, furchtbar drohend, Seelen aufreißend – eine Stimme aus der Höhe, so klar und wuchtig – Posaunenstöße – eine Rede wie ein Gericht?

Da fiel durch den Schneedunst, der alles verschleierte, von der Sonne her ein gelbroter Lichtstreifen auf den in eiserner Ruhe stehenden Matrosen. In demselben Augenblick schrie, ohne daß sich der Redner dadurch im mindesten stören ließ, eine Mädchenstimme grell auf: »Das ist er ja! Er, er! Jan!«

Sofort wurden zischende und fluchende Stimmen laut, um das Mädchen, das so außer aller Gepflogenheit ihr Begegnis und plötzliches Wiedererkennen hinausschrie, zur Ruhe anzuweisen. Ein junger Mann, der auf das Fräulein einen Blick gerade im Augenblicke geworfen hatte, als es außer sich ihre Rufe ausstieß, und der dabei den außerordentlichen, fast blendenden Jubelglanz in seinen Augen gesehen hatte, wendete sich zu ihm und meinte, um den Zorn der Umstehenden erklärend zu mildern, daß sie alle nichts von den Worten des größten Redners der Revolution verlieren wollten, und daß das Fräulein aus diesem Grunde ruhig bleiben möge. Als er darauf sah, wie das Fräulein versuchte, sich zwar langsam und geschickt, aber dennoch vergebens mehr nach vorn zu schieben, augenscheinlich um dem, den sie mit viel Freude wiedererkannte, näher zu kommen, vielleicht gar um ihn nach der Rede sprechen zu können, flüsterte er ihm zu, daß es die Mühe nur lassen solle, denn es wäre leichter, durch eine steinerne Mauer zu brechen als durch die Mauer von Menschenleibern, die vor ihnen wäre und die so dick und fest wäre, daß man es nicht sagen könne. In dem Gesichte des Fräuleins sah er da plötzlich eine solche Angst und Sorge, daß er in einem flinken Entschlusse sagte, es solle den wiedergefundenen Liebsten trotz alledem nach der Rede sprechen können. Er nahm dabei sein rotes Asternblümchen, das er als Sinnzeichen der Revolution im Knopfloche trug, und steckte es ohne Umschweife dem darüber erstaunten und verlegenen Fräulein zwischen die blaßroten Lippen, ergriff die jugendlich sehnige Gestalt unter die Arme, hob sie im Schwung seiner kräftigen Arme vergnüglich hoch und rief seinen Vordermännern zu: »Achtung, die Liebe unseres Jan Wetter! Die Braut des wahren Revolutionärs! Hebt sie weiter nach vorn! Sie will bei ihm sein!«

Und schon fühlten die Vordermänner eine weiche Frauenlast auf ihren Schultern, lachten leise und hoben sie schäkernd trotz der Schimpfe einiger Frauen etwas mehr nach vorn. Obgleich überall einige da waren, die diese seltsame Beförderung eines jungen Mädchens über das Köpfemeer der Versammelten hinweg der dadurch entstehenden Störung wegen empörte, ging es immer weiter nach vorn, bis die durch tausend starke Männerarme wie auf Federn vorwärts Geschnellte am Sockel des Denkmals vom Alten Fritz, da wo Jan Wetter von seinem hohen Sitz heruntersteigen mußte, sich wieder fand, noch immer das rote Asternblümchen zwischen den Lippen gepreßt, den Hut verschoben, die Züge aus Freude und Scham lieblich verwirrt. Nachdem sie ihre Kleider, die durchaus in Ordnung waren, nach Frauenart bestrichen hatte, ordnete sie ihre schwarzen lockigen Haarsträhnen, die ihr ins heiße Gesicht fielen, und fand sich dann, ohne zu bedenken, daß ihr Hut schief sitzen und der ordnenden Hand am meisten bedürfen könne, langsam in eine ruhige, abwartende Haltung, indem sie ihren glänzenden Blick hinauf zum gewaltig ansteigenden Reiterstandbilde richtete und nach dem Matrosen spähte. Aber sie erblickte nur eine große, blutrote Fahne, die eine kleine, überaus kräftige Hand in der grauen Schneeluft, die kein Sonnenstrahl mehr durchleuchtete, mit Leidenschaft hin und her flattern ließ, und sie hörte eine Stimme, die sie wegen ihres orgelnden Brausens kaum als die ihres Jan wieder erkannte, mächtig rufen: »Vergesset nie, Proletarier, daß ihr zum ersten Male seit Jahrhunderten die ganze Macht über eure Zukunft in Händen habt!«

Während der Redner an der Hand des Alten Fritz die rote Fahne befestigte, schrie eine Stimme aus der Menge. »Wir handeln! Waffen! Waffen!« und ein Arm wies auf die Panzerautos, die den Platz umstanden. In demselben Augenblicke geschah es, daß tausend und aber tausend Werbezettel, die bestrickende Einladungen zum Beitritt zu der spartakistisch-kommunistischen Partei als das erste Erfordernis zum tatkräftigen Handeln enthielten, alle zehn Meter, wie aus einem Füllhorn von einer Hand geworfen, über das Köpfemeer flatterten. Während zahllose Arme sich wie Fänge danach ausstreckten und die verschiedensten Rufe die Luft in einem betäubenden Lärm durchschwirrten, war Jan Wetter vom Denkmal heruntergeklettert.

Als das junge Mädchen den strammen Burschen, der eine große Persönlichkeit geworden war, nicht weit von sich auf Beinen, die leise bebten, stehen, die offene, nackte Brust heftig atmen, das eckige Gesicht mit dem Bocksbarte ganz grau und mit Schweiß bedeckt der wogenden Menge zugerichtet sah, entfloh ihr eine Gebärde des Schreckens. Da kam er auf sie zu, schaute sie, als ob ihre Anwesenheit ihn weder erstaunte noch erfreute, an mit starren, glanzlosen Augen, die von ganz etwas anderem wie von Liebe erfüllt schienen, rückte ihr mit einer rauhen Handbewegung den Hut, der ihr lächerlich schief saß, gerade und sagte mit heiserer Stimme, die das verlangende Mädchen so schmerzte, daß sich die glatte, anmutig gewölbte Stirn vielfach und häßlich runzelte: »Warum bist du aus dem Kohlenrevier nach Berlin gekommen? Du Kleine! Ich werde in ein paar Tagen bei euch sein und den Willen der Bergarbeiter organisieren.« Hastig rief sie, denn die Menge sang rauschend die Internationale, daß sie alle in Sorge um ihn gewesen wären, da er als Hochverräter in Kiel im Gefängnis gesessen und hingerichtet werden sollte, sie ihn doch noch einmal sehen, sprechen … da unterbrach er sie mit einer zerschneidenden Handbewegung und befahl ihr: »Du fährst gleich wieder heim. Du grüßest alle und sorgst dafür, daß ihr euch beruhigt.« Begierig auf ein wärmeres Zeichen der Liebe, flehte sie ihn mit den Augen an, aber er schoß mit den Blicken schon nach verschiedenen Gruppen von Männern, die sich aus den auseinandertreibenden, singenden Menschenwogen gebildet hatten und die auf ihn zu warten schienen, und mit den Lippen murmelte er, wie unbewußt ergriffen, die Worte des Liedes, das Tausende von Stimmen sangen: »Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt!« Da drückte sie ihm schnell die Hand, die leise bebte, und rief des allgemeinen Lärmens wegen laut und dann noch lauter: »Jan, Jan, mach alles gut, wir lieben dich noch immer!« Dann verschwand sie in der Menge, ehe er, der mit den Gedanken wo anders weilte, es bemerkte.

Seine Lieblosigkeit beklomm sie so, daß sie wie in einem Schauer, der kälter war als der Schneedunst in der Luft, fröstelnd ausschritt. Sie mußte sich den richtigen Weg nach ihrem Hotel des öfteren neu erfragen, irrte doch und gelangte mühsam an. Dort ordnete sie ihr geringes Reisegepäck, zwang sich, etwas aus ihren Vorräten zu essen und fuhr dann mit dem nächsten Zuge, der, ein Bummelzug, so überfüllt war, daß sie zwischen Tür und Angel stundenlang stehen mußte, nach Hause. Schneeblaken fegte ein eisiger Wind durch die offene Tür eines alten Wagens vierter Klasse gerade ihr in den Nacken oder ins Gesicht, wenn ihr der Nacken zu kalt geworden war und sie sich deswegen umgedreht hatte; Qualm von Rauchern, vermischt vom Atem und Dunst vieler Menschen schwadete stinkend und würgend an ihr vorüber in den Zug des Winterwindes. Um sie herum saßen, hockten, standen, preßten sich Soldaten, Zivilisten, Männer, Frauen, türmten und klemmten sich große und kleine, runde und eckige Säcke, Beutel, Kisten, Kasten, Tornister. Hitzige Gespräche über Politik, heftiges Gerede über die Fragen des Streiks, der Putsche, Drohungen mit Totschlag, Bombenwurf, Brand, Vernichtung der Eisenbahnen, Giftworte über einen neuen Krieg, den die Revolutionsregierung heimlich vorbereite, Entrüstungsstürme über die zurückkehrenden Frontsoldaten, die noch nicht genügend revolutioniert wären, Verwünschungen über die schlechte Ernährung, Flüche gegen die Kapitalisten, gegen die Gebildeten, gegen jeden, der einen besseren Anzug trug, Prophezeiungen von Plünderungen der Villenviertel in den Städten, der Höfe in den Bauerndörfern; das platzte, schwirrte, bohrte durcheinander, und ihm, dem Fräulein, das seinen vom Tod bedrohten Geliebten gesucht hatte, war es, als ob es unter einem Geschwirre von Säbeln, Messern, Granaten stände.

1919

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