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Wir sind jung, sagte Waldemar Ring. Zerbrich, was hinter dir liegt

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Der Bürger las mit Schaudern in den Morgenblättern, daß die Matrosen die Nacht zum Christtag benutzt, aufs neue das Schloß zu stürmen. Der Bürger las voll Grauen, daß man den Stadtkommandanten mit den Leichen der gefallenen Aufrührer in dieser Nacht im Marstall eingesperrt habe. Las man diese Zeitungen in der Provinz, so mußte man denken, die Berliner hätten sich in dieser Nacht gefühlt, wie die Unglücklichen einer beschossenen Festung. Man mußte denken, niemand schlief im Aufruhr der Kannonade, niemand dachte mehr, seines Lebens sicher zu sein. Doch die Bürger von Berlin, soweit sie nicht in der Nähe des Schlosses wohnten, erfuhren das Gräßliche durch die Zeitung.

Waldemar ging am Schloß vorüber, sah die neuen Zerstörungen aus den Weihnachtsnächten, sah die alten vornehmen Plätze von Neugierigen bestanden und doch wie verödet. Er kam in die Gegend hinter dem Schloß, las, eine schmutzige, belebte, ihm unbekannte Straße hieß Rosenthalerstraße – und ging weiter, plötzlich von einer Neugier befallen. Er war immer nur im schönen, eleganten, stillen, vornehmen Berlin gewesen. Ein enger, häßlicher Platz kam. Von dem zweigten Straßen ab, die Grohmann-, die Gipsstraße. Drehorgeln klangen auf, mit heiseren Stimmen boten Verkäufer Eßwaren an. Kleine Buden waren da mit abscheulichen, fast grellroten Würsten, Pferdeware, um die sich die Leute rissen. Grüne Torten von einer scheußlich schillernden Farbe, mit rosa Schaum bekrönt, Gebilde, bei deren Anblick es einem übel wurde, waren von Arbeiterfäusten umkrampft, von Mädchen mit glänzenden Augen gegessen. »Der Mensch ist, was er ißt,« dieses Wort fiel Waldemar ein, er war angeekelt, und doch wie festgebannt, diese Leute anzusehen.


Soldaten mit roten Kokarden, Matrosen mit den Gesichtern von Seeräubern standen hier, verwahrlost, verschmutzt, wie eine Horde Zuchthäusler anzusehen und boten Dinge zum Verkaufe aus: alte Stiefel, alte Hosen, Frauenstrümpfe, Hemden, Nähfaden. Zuweilen fuhr eine Hand in die Tasche und zog aus den grauen Kleidern irgend ein Wertstück: Silberzeug, Schmuck, eine Uhr und dergleichen. In der Mitte der Gasse stand ein Glücksrad. Lachend warfen Männer und Frauen schmutzige Scheine hin. »Ich habe schon zweihundert Mark verloren,« sagte ein wenig kläglich ein junger Mensch zu einem Soldaten. Der antwortete wegwerfend: »Ich habe sechshundert verloren, was macht det denn? Du kannst dir ja doch nischt koofen –«

Und die schmutzigen, stumpfen Hände warfen neue Geldzettel hinüber zu dem freudigen Rad. Waldemar faßte sich ein Herz. Er sprach einen Burschen an, der ihm ein besseres Gesicht zu haben schien als seine Umgebung. »Was machen Sie denn hier?« sagte er. »Wir warten auf die russischen Brüder.«

»Aber glaubt ihr denn, die russischen Brüder meinen es besser mit euch, als die Berliner?«

Der Soldat lachte freundlich. Er war nicht auf Dialektik eingerichtet. Mit einem kindlich frohen Gesicht sah er gutmütig auf Waldemar und wiederholte: »die russischen Brüder.« In Waldemar erwuchs der Drang zu einer Verständigung. »Sind Sie in Berlin zu Hause? Finden Sie keine Arbeit?«

Der Soldat verlor nicht die freundlichen Züge. »Wollen Sie rauchen?« fragte er und bot Waldemar eine Zigarette –

Beschämt lief er die Gasse hinunter. Er sah in Gesichter, vor denen ihm ein leiser Schreck kam: feiste, freche Matrosengesichter, mit grell lichternden Augen – trübselige Landwehrmänner, jämmerliche, verbeulte Gestalten, die eine Hand an die Tasche gekrampft hielten, in der wohl Wertvolleres zum Verkauf bereit lag, als die alte Hose, welche die andre Hand schwenkte –

Das waren die Soldaten des großen Krieges – –

Waldemar rannte davon –

Er überschritt die Potsdamerbrücke. Er stürzte hinauf zu Ellen. Sie empfing ihn wie einen sehnlich Erwarteten. Wärme, Heiterkeit, Lachen ging von ihr aus. Lachend erwiderte sie seine stürmische Umarmung. Der Grund dieser rätselhaften Heiterkeit war ein Brief von Rosa Luxemburg. Sie forderte Ellen auf, ihre Erfahrungen aus Rußland in einem Vortrag auszusprechen. Waldemar erregte sich. Nein, er wolle nicht, daß sie das täte. Sie gehöre ihm. Sie sei seine Herzliebste und sollte nicht zu vielen Leuten ihre schöne Stimme reden lassen. Ellen v. Envers lachte. Er hatte sie noch nie so herzlich und froh lachen sehen. Er küßte sie stürmisch und von dem Brief der Luxemburg war nicht weiter die Rede.

Waldemar hielt in seinen schmalen und sehr schlanken Händen Ellens Gesicht. So nahe war er ihr, daß die Linien fast erloschen, nur noch die Farben wirkten. Der rotrote Mund, die bernsteinfarbigen Augen. Sie hatten heute den Blick in die Ferne verloren. Sie gehörten der Stunde und spiegelten Waldemars Augen.

»Wir sind jung,« sagte Waldemar Ring. »Zerbrich, was hinter dir liegt. Wie ich es zerbreche. Wir wollen auf einen fernen Stern miteinander ziehen und alles neu beginnen.«

Sie lächelte, entzog sich seinen Händen, ließ spielerisch die ihren durch sein braunes Haar gleiten und fragte ihn, was er denn zu zerbrechen habe. Es waren so unzählige Dinge, daß Waldemar nicht ein einziges nennen konnte.

Sie neigte ihm ihre Lippen zu –

Aber er küßte sie nicht. Aller Wille in ihm spannte seine Züge, sein Bewußtsein.

»Wirst du mir angehören – ganz – ganz angehören –«

»Ich will,« antwortete sie.

Er mochte nicht heim die Nacht.

1919

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