Читать книгу 1919 - Herbert Kapfer - Страница 29

In Berlin, der Stadt wovon man bisher wohl sagen hörte, daß sie das Hirn wäre

Оглавление

woher das deutsche Volk geleitet würde, hatten sich die Hauptstraßen und Plätze verwandelt. Wo früher der Strom eines bunten Verkehrs in der Großartigkeit eines ebbenden und steigenden Lärms wie von einer unsichtbaren Hand geregelt dahin floß, stauten sich jetzt die strömenden Menschenmassen, bildeten kleine, wimmelnde Gruppen, stoben auseinander zu der Wirrheit eines Haufens schwarzer Punkte, wohinein eine Handgranate geplatzt ist. Verhandelt zu werden schien nur, was nach den noch bestehenden Gesetzen verboten war: Lebens- und Genußmittel aller Art zu Wucherpreisen und zum Nutzen jener, die sich alles kaufen konnten, gegen die aber die Staatsumwälzung gerichtet war. Dieser Handel wurde an allen Ecken und Plätzchen, in allen Kaffeehäusern und Wirtschaften schamlos betrieben, sodaß Geschäftshäuser ihre Bedeutung verloren zu haben schienen. Laster, die ehedem nur in den dunkelsten Winkeln und Vierteln oder an anderen Orten ganz geheim unter den spitzfindigsten Vorsichtsmaßregeln sich selbst förderten, entfalteten sich in ihrem blendenden Glanz und giftigen Dunst im Zentrum der Riesenstadt. An Tischen, die aus den nahen Kaffeehäusern, Bars und Wirtschaften geholt waren, wurden Haufen Papiergeldes verspielt, verloren und gewonnen, und Soldaten der Regierung, spartakistische Hetzer, Greise, Frauen, Jünglinge, ja Knaben standen trotz der beginnenden Winterkälte gierig herum, schrien, wenn einer verlor oder gewann, bis daß sie selbst einen freigewordenen Platz wie im Rausch einnahmen, setzten eine Summe, deren Papierbetrag sie krampfhaft in der Hand hielten, verloren oder gewannen. Mädchen, behangen von blinkendem Geflitter, strömten unnennbare Parfüme aus und boten sich mit bedeutungsvollen Blicken oder mit vieldeutigen Worten der Männerwelt an. In gewissen Raumabständen stand ein Mann oder eine Frau in einem Kreise, worum es sich wie um den Sitz eines Bienenschwarmes bewegte, und sprach heftig mit vernichtenden Gebärden gegen das, was um hundert Meter weiter eine andere Person in einem ähnlichen Kreise als das Heil für Deutschlands Errettung anpries mit derselben Leidenschaftlichkeit oder Schlauheit, wie in nächster Nähe die Schieber ihre erschacherten und die Gauner ihre gestohlenen Waren feilboten. Auf den Fahrdämmen zwischen dem sausenden Gewirre spiegelblanker Schieberautos und verbrauchter Mietskutschen rasselten gewaltige Lastautos, bewaffnet mit Maschinengewehren und besetzt mit finsteren oder grinsenden Gesichtern unter Stahlhelmen, ohne daß sich jemand, der ihnen nicht ausweichen mußte, sonderlich darum gekümmert hätte. So schamlos, so würdelos war dieses Treiben, daß der verächtliche Blick, womit Offiziere in französischer, englischer und italienischer Uniform hie und da die Menge streiften, berechtigt schien.

Auf beiden Bürgersteigen schossen sich vorwärtsstoßend, sich windend, jetzt stillstehend, wie um zu handeln, dann aufspringend und sich bückend durch die gehenden, auseinanderlaufenden, sich ballenden, sich drängenden Menschen ein paar Jungen. Da, wo sie liefen, stieg eine lang schrillende Stimme auf. »Freiheit! Freiheit!« rief sie. Merkwürdig zauberhafte Worte, denn jeder hörte sie trotz des Lärms, und jeder bekam einen Augenblick lang einen anderen Zug ins Gesicht – wie ein Spottlächeln war es oder wie eine Hoffnung oder wie eine Zuversicht, stets aber geheimnisvoll. Freiheit! Freiheit! schwebte es schrill, aber herrschend über allem Betriebe. Die Schattenrisse der Jungen verschwanden. In der Hand flatterte ihnen ein Fetzen Papier – eine Zeitung.

1919

Подняться наверх