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Das Volk mit Bajonetten wieder zur Arbeit treiben

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Waldemar stand in der Nähe des Brandenburger Tors. Es war ein graukalter Dezembertag. Schon lange, lange wartete Waldemar mit tausend, tausenden andrer Menschen. Die Truppen hatten den Einzug durch das Brandenburger Tor gefordert. Inschriften schwankten im Wind – sie sprachen von Brot und Frieden, vom Gruß der Heimat. Die Menschen standen wie Mauern. Der Platz mit den schrecklichen Steinbildern Friedrichs und Viktorias war von Menschen erfüllt – in der alten Triumphstraße, den Linden, drängten sie sich und warfen ihre Fülle bis gegen die Häuser: auf Treppen, Gesimse, ja bis auf die flachen Dächer des Pariser Platzes. Die Bäume trugen sonderbare Früchte: kleine Jungen. Die schönen Kugelbuchse des Platzes wurden bestiegen, als seien sie aus Malachit. Ganz aus weiter Ferne hörte man das Aufklappen von Hufen, das Rollen der Geschütze – den Tritt der Mannschaften. Die Kinder auf den Bäumen wurden wie flinke Eichkatzen, die Menschen an den Fenstern sehen aus, als wollten sie sich herunterstürzen, die Leute auf der Straße wuchsen höher. Musik zog heran. Hinter ihr die Soldaten. Waldemar sah nur Helme, Gesichter und Fahnen. Die fröhlichen, leuchtenden Sommerhimmelsfarben der Bayern, Württembergs schwarz-rot, Sachsen-Ernestinerfarben und die Banner Preußens. Das Bundesbataillon eröffnete den Einmarsch. Sie standen fest vorm Brandenburger Tor, wie es zu grüßen. Es gelang Waldemar, ein wenig näher zu kommen. Da sah er, Männer, die ihre Kinder mit auf den Pferden gehabt, ließen sie absteigen. Hier, vorm Brandenburger Tor. Und die Menge jubelte – vielleicht sah sie in dieser Geste die neue Freiheit – sah es wie einen alten Germanenzug – der Weib und Kind umfaßte. Und Waldemar sah, diese begrüßenden Menschen weinten – fassungslos manche, die andern so still. Sie sahen dieses Heer heimkommen zu unglücklichster Stunde – sie sahen schöne und kühne Gesichter unter den Stahlhelmen – sie sahen aufrechte Gestalten im Sattel.

Waldemar schlängelte, drehte sich durch die Massen – kam an den Mauern des Tores vorbei – kam wie ein Quirl durch die Aufgeregten des Pariser Platzes bis in die Nähe der großen Tribüne. Friede und Freiheit grüßten Worte in die Luft. Die Soldaten faßten wieder Tritt, und zogen auf dem alten Königsweg herein nach dem Pariser Platz. Sie machten Halt an der großen Tribüne. Dort waren die Vertreter der neuen Regierung, die Volksbeauftragten, die Männer, denen heute die Mehrzahl der Nation ihr Vertrauen gegeben. Waldemar sah einen Untersetzten, Lebhaften, Temperamentvollen den Zylinder schwenken – er verstand auch ein paar Worte der Begrüßungsrede: »Eure Opfer und eure Taten sind ohne Beispiel.«

Es klang warm, stark empfunden, bewegt – gewiß dachte er nicht der Geschichte, die Preußen groß gemacht hat. Und plötzlich begriff Waldemar: aus Tradition und Treue wird nie eine neue Gesellschaftsordnung, nie eine Umwälzung des Staates geboren. Die Erneuerer müssen immer erst Zerstörer sein.

Es drängte ihn zu Ellen. Sie saß mit dem Großvater beim Tee. Es war ein hübsches Bild, der weißhaarige Alte und die seltsame Enkelin in dem stillen, wie weltabgeschiedenen Zimmer. Wie hält es Ellen hier aus, fühlte Waldemar und ihr »j’attends« kam ihm in den Sinn.

Waldemar schilderte den Einzug des Heeres. Dies interessierte den alten Herrn sehr. Er wurde belebt, angeregt und begann nun seinerseits von politischen Erinnerungen zu sprechen. »Ich bin schon dreiundachtzig Jahre alt. Als vierzehnjähriger Gymnasiast habe ich die Märzrevolution von achtundvierzig in Berlin miterlebt. Sie scheint vielleicht wie ein Kinderspiel gegen die furchtbaren Umwälzungen von heute. Aber damals waren es Ideen, die die Menschen trieben, Ideen für ein neues Deutschland, Bildungsideen verknüpft mit freiheitlichen Wünschen. Es war doch Klang und Schwung im Jahre Achtundvierzig. Heute ist es nur der Schrei nach Geld und Macht – –«

Die Enkelin lächelte unmerklich. »Der Bolschewismus ist wohl eine große Idee –« sagte sie, aber der alte Herr verstand sie wohl nicht, er fuhr fort. »Preußen haben seine Bajonette groß gemacht, das läßt sich nicht leugnen. Und gegen die Crapule, die heute obenauf ist, werden die Machthaber, die heute von Freiheit und Gleichheit reden, auch wieder die Bajonette gebrauchen. Sie werden sonst endlich eine unübersehbare Horde von frechen Müßiggängern sehen – denn keiner von den Arbeitern wird mehr arbeiten wollen, wenn er erst merkt, der Staat bezahlt auch das Nichtstun –«

Waldemar wurde interessiert. Konnte es in Deutschland wirklich so weit kommen, daß man das befreite Volk mit Bajonetten wieder zur Arbeit treiben mußte?

Der alte Herr kam wieder auf seine Erinnerungen von Achtundvierzig. »Wie hat das die Menschen erschüttert! Der König wurde gezwungen, die toten Revolutionäre zu grüßen. Sie schleppten die Leichen der Märzgefallenen in den inneren Schloßhof und Friedrich Wilhelm mußte vor ihnen salutieren. Es war so unerhört.«

Sie waren allein. Der alte Herr hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen, um ein wenig zu schlafen. Nun stand sie mitten im Raum – sie bog die Schultern ein wenig zurück – die Linie ihres Halses stand steil und reckte das Kinn. Ein Ton von Hochmut und Überdruß war in ihrer Stimme: »Oh, wie ihr euch alle einspinnt in Erinnerungen – das ewige Gestern ist euer Glück –« Er stand neben ihr, verliebt, heftigen Wollens, in hingelöster Empfindung.

»Ich habe keine Erinnerungen. Mein Leben geht an in der Nacht von Danzig nach Berlin –«

Und von ihrem Lächeln kühn gemacht, breitete er seine Arme aus wie beim erstenmal des Wiedersehens – lachte kindisch und glücklich auf und riß ihr Gesicht an seinen Mund. Feuer sprang von einem zum andern.

»Du bist so jung,« sagte sie.

Dann wieder losgelöst, von Lebhaftigkeit erfüllt, begann Waldemar plötzlich wie ein Händler seine Waren auszulegen. Gebärdenvoll, wie ein Akteur durch das Zimmer laufend, schilderte er seinen heranfließenden Reichtum, sprach er von dem Strom der Möglichkeiten, die kamen, die alles eröffneten, was man vom Leben wollen konnte. »Magst du das?« fragte er zärtlich. Und er fabelte: »Der Friede wird sein – die Grenzen der Länder schwinden. Wir können durch das ganze alte Europa fahren zu all den kostbaren Städten, die es gibt – «

Doch Ellen saß plötzlich zusammengeknickt da, hatte das Gesicht in den schmalen Händen und schwieg zu all den stürzenden Erzählungen des Erben. Sie fragte nicht einmal, wieso und warum er plötzlich ein so reicher Jüngling sein würde.

»Was hast du, Liebste?« Sie erhob ein wenig das Gesicht. Ihre Augen waren ganz dunkel geworden. »Denkst du nicht an die tausend Brüder, die in Ketten liegen? Denkst du nicht daran, wie sich durch die Welt die Wüste dehnt? Die Wüste der Gleichgültigkeit? Was ist denn am Ende von all dem Sein?«

»Was gibst du dich dem Fremden so hin?« fragte er weich. »Alles, außer uns ist doch das Fremde. Wenn sich die Wüste durch die Welt dehnt, glaubst du nicht, daß sie eine Bestimmung hat? Daß alles Unglück und Quälen Namenloser, Vergangener, Künftiger nur wie der Nebel ist, der manchmal zur Nacht unser eigenes Licht ersticken will? Alles Leben ist ein Kampf mit diesem Nebel. Verstehst du, ganz im Unbewußten.«

»Woher weißt du solche Dinge?« fragte sie erstaunt.

Er stand in der großen Ahnung seiner achtzehn Jahre vor ihr, lächelte und sagte: »Von dir.«

Und dann bog er sein Gesicht zu dem ihren.

Als er ging, waren die Straßen schon stiller.

»Auf morgen,« hatte Ellen zu ihm gesagt – auf morgen –

1919

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