Читать книгу 1919 - Herbert Kapfer - Страница 37
Ich war 16 Jahre alt und Obersekundaner der Königlich Preußischen Hauptkadettenanstalt
ОглавлениеAufrufe hingen an den Straßenecken. Freiwillige wurden gesucht. Formationen sollten zusammengestellt werden für den Grenzschutz im Osten.
Ich wurde genommen, ich wurde eingekleidet, ich war Soldat.
Wir standen einsatzbereit in langer, grauer Kolonne. Ein Auto kam, ein Herr erhob sich aus den Polstern und musterte uns. Der Herr war groß, vierschrötig, mit eckigen, etwas hochgezogenen Schultern und einer ulkigen kleinen Brille unter dem Schlapphut. Unsere Offiziere grüßten mit betonter Nonchalance und wandten sich mit verzogenen Mundwinkeln um. Einer sagte, das sei der neue Oberbefehlshaber, Noske.
Das Haus, das wir absuchen sollten, war eine Mietskaserne im Norden der Stadt, mit vier Höfen und Hunderten von Bewohnern, hoch, grau, mit Wänden, von denen der Putz abgefallen war, und mit unzähligen, nicht eben blanken Fensterscheiben. Die Straße war noch in der Dunkelheit von beiden Seiten abgeriegelt worden durch je zwei Gruppen, dann war noch ein Bereitschaftszug da, von dem wir jeden Augenblick Verstärkung anfordern konnten.
Der Unteroffizier sagte im Torweg: »Immer zusammenbleiben, niemals einer allein in einen Raum. Alle Schränke und Betten nachsehen. Wände abklopfen. Zwei Mann bleiben immer im Treppenflur. Verschlossene Türen aufbrechen, wenn die Leute nicht freiwillig aufschließen. Die Leute ausfragen, wer im Hause noch im Besitz von Waffen ist. Keine Provokationen! Im Falle der Gefahr: einen Schuß zum Fenster hinaus.«
Wir verteilten uns. Die Gruppe Kleinschroth sollte in den hintersten Hof. Wir stolperten über das buckelige Pflaster und merkten es kaum, wenn wir aus dem Torbogen in einen Hof kamen, denn die finsteren, steilen Schächte ließen das Licht des Morgenhimmels nicht bis zur Erde gelangen. Das Haus war noch ganz still, und wir verhielten an einer kleinen, schmalen Tür. Kleinschroth klopfte an ein Fenster, das Fenster klirrte, eine Frau schaute heraus und fuhr zurück, als sie unsere Stahlhelme sah. »Aufmachen!« sagte Kleinschroth. Und im selben Augenblick war das Haus lebendig.
Es war in den ersten Sekunden lebendig, wie etwa ein Bienenstock, in den eine Hand hineinfuhr. Da war ein bedrohliches Summen, das klein begann, dann plötzlich sich zu schrillem, gefährlichem, bis zur Hysterie gesteigertem Vibrieren schraubte, zu einer bösartigen Bereitschaft in höchstem Diskant. Da trat der Unteroffizier mit dem Stiefel die Tür ein. Das war, als stöhnte das Haus. Fenster klirrten, Türen schlugen hallend zu, auf einmal begann ein Grammophon zu jaulen und hoch oben schrie eine Frau. Sie schrie gellend, daß es in den Höfen hallte, daß es die finstersten Ecken und Winkel wie mit spitzen Nadeln füllte, und die Luft begann zu zittern, diese feuchte, dumpfe Luft voll muffiger, gemischter Gerüche. Das drang uns in die Brustkästen, spritzte unerträgliche Spannung in die Adern, so daß sich das Blut mit kurzen und harten Stößen gegen die Haut drängte. Wir stießen die Helme in die Stirn und rannten in den dunklen Schlund, der sich vor uns geöffnet. »Die Noskes kommen! Die Noskes kommen!« so schrie nun die Frau und ein Fenster schepperte und ein Geschirr krachte herab, barst und schleuderte dunkle Tropfen und Wellen üblen Gestanks.
Wir waren im Hause. Der Treppenflur war so dunkel, daß ich über einen Eimer stolperte. Hoffmann riß eine Tür auf, sprang in das Zimmer, und ich hörte ihn sagen: »Mach keine Dummheiten, Mensch, gib die Knarre her!« Da drinnen saß ein Mann, eben aus dem Bette gefahren, und hatte ein Gewehr in der Hand. Das drehte er einen Augenblick unschlüssig und sah uns an. Er saß auf dem Rande eines wackeligen Bettgestells, das Stroh unter buntgewürfeltem Überzug ragte zerzaust, Strohhalme hingen ihm noch im Haar. Die Stube war klein, ein winziges Fenster, mit halbblinden Scheiben, ließ kaum einiges Licht herein, ein Herd war noch in der Stube, an dem feuchte Wäsche hing, und in der Ecke stand eine noch junge Frau, in einem langen, zerknitterten, an den Säumen schmutzigen Hemd; sie stand wie gepreßt an der Wand und sagte nichts. Über dem Bett aber hing ein gerahmtes Bild, wie es die Reservisten nach Hause nahmen, in Buntdruck ein Soldat, der Kopf eine aufgeklebte Photographie. Der Mann gab zögernd das Gewehr herüber, dann sprang er plötzlich auf, ergriff das Bild und schmiß es uns vor die Füße, daß der Rahmen sprang und das Glas splitterte. Dann hob er beinahe bedächtig den nackten Fuß, als wolle er noch einmal das Bild mit der Ferse zermalmen, hielt aber inne und sagte nur: »Nun aber hinaus!« Wir gingen.
Wir suchten Wohnung für Wohnung ab. Wir drangen in jede Kammer, wir klopften an jeden Verschlag. Da waren dunkle Flure, in denen Eimer standen und zerbrochene Besen, Lampen hingen rußgeschwärzt so niedrig, daß mehr wie eine gegen unsere Helme pendelte, die Dielen stöhnten bei unseren Tritten und knackten, der Fuß trat zuweilen in Mörtel und Sparren, von den Decken – und wie niedrig waren die Decken – hing nacktes Mauerwerk, bröckelte der Kalk. Tür stand neben Tür. Wenn uns eine geöffnet wurde, dann fuhren auch die anderen auf, und plötzlich stand der Gang dicht voll Menschen. Männer, Frauen und viele Kinder, Kinder in allen Größen, halbnackt die meisten und unsäglich schmutzig und mit Gliedern, so dünn, daß man meinen könnte, sie müßten zerbrechen, packte man sie an, Kinder mit unheimlich großen Köpfen und wirren, stacheligen blonden Haaren, – sie standen an den Schwellen ihrer kargen, düsteren Stuben, und viele Augenpaare starrten uns an. Wenn die anderen hineingingen, dann stand ich allein vor der Tür, stand allein ihnen gegenüber, und der Haß prallte mir entgegen wie eine Wolke, entgegen prasselte mir das Gezischel höhnischer Rufe, Weiber strichen an mir vorbei und lachten und spuckten dann auf den Boden, und die Männer, mit offenen Hemden daß man die krausen Haare ihrer Brust sah, riefen einander zu: »Totschlagen müßte man die Bande!« und »Nehmt dem Affen doch die Knarre ab!«
Unten begannen sie die Internationale zu singen. Das griff von Tür zu Tür, das drang durch alle Wände und teilte sich den Höfen mit. Dazu trampelten sie im Rhythmus mit den Füßen auf den Boden, so daß das Haus zitterte und wir umbraust im finsteren Gange standen. Und wir suchten weiter. In ein Zimmer kamen wir hinein, da saß ein alter Mann am Tisch und eine alte Frau stand am Fenster. Und der alte Mann erhob sich langsam und trat mit zitternden Knien auf uns zu. Dicht vor uns stand er und hob dann langsam die Hand und röchelte: »Hinaus!« und noch einmal »Hinaus!« und kroch mit Augen, in denen rote Äderchen schwollen, immer näher und hob den Arm mit einer schwärzlichen, zerfurchten Greisenhand und öffnete wie mit letzter Anstrengung den faltigen Mund und keuchte heiser: »Hinaus!« Der Unteroffizier wollte den Mann beruhigen, da taumelte der plötzlich und schwankte und drehte sich und fiel mit dem Oberkörper auf den Tisch. Die Frau aber nahm den Unteroffizier am Arm, wie man ein unfolgsames Kind am Arme nimmt, und führte ihn schweigend hinaus.