Читать книгу 1919 - Herbert Kapfer - Страница 16

In einem fernen Rückblick war vielleicht diese Stunde einmal schön

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Es lag so etwas Sonderbares, Tragendes, Unruhiges in der Atmosphäre. Der Alexanderplatz war von erregten Menschen bestanden. Waldemar hörte immer wieder den Ruf: der Kaiser. Kam der Kaiser? Was ging vor? Wie, der Kaiser sollte gezwungen werden, abzudanken? Waldemar begriff nichts. Es hatte sich in ihm festgeankert, daß er Ellen v. Envers suchen müsse. Jemand sagte ihm, das Augustaufer begänne in der Nähe der Von der Heydt-Brücke. Ein Auto fuhr ihn die Leipziger Straße hinunter. Es stoppte am Potsdamer Platz, eingekeilt in schreiende, verwahrloste Soldaten. Eine Menschenflut war da, wie sie Waldemar noch nie gesehen hatte. Ihm schauderte vor allen diesen ärmlichen, schlechtgekleideten, mühseligen und erregten Hungergestalten. Und in einem heftigen Gefühl dachte er wieder: wenn Fräulein v. Envers unter diesen Menschen sein mußte!

Berlin lag in dem fieberhaften Aufruhr einer ungeheuerlichsten Erwartung. Man hatte dem Kaiser noch zwei Stunden Frist gegeben zu seinem Verzicht. War es noch eine Höflichkeit, daß man ihm gestattete, selbst die fünfhundertjährige Geschichte seines Hauses zu beenden? Wie beispiellos mußten diese Stunden für ihn sein! Und wenn er alles wäre, was ihm Feinde und Widersacher tausendmal vorgeworfen: ein schlechter Schauspieler, ein Schuldbeladener und ein Feigling: wie mußte ihn selbst dann diese Stunde treffen. So dachte August Wilhelm Ring. Er stand auf der Straße, las Extrablätter, eingekeilt in eine tobende Menge, unter Portier- und Waschfrauen, unter rüden Jungens, die sich amüsierten, und er vernahm die Stimmen kleiner Ladenmädchen, die ihren Esprit an »Aujustens« Spitzenwäsche verschwendeten. O ja doch, alle großen Revolutionäre mußten sich schlechter Gesellschaft bedienen, ihr Ziel zu erreichen. Wer gegen die Korruption der Ehe schreibt, findet feurige Anhänger in hysterischen Jungfrauen. Wer gegen Gewissenszwang der Kirche redet, bekommt all die Mißratenen zu Freunden, die den Gottesbegriff als einen Mumpitz erkennen. Und wer heute ging, ein Kaiserreich zu stürzen – der fand Mithelfer, die sich von einem Freistaat die Zügellosigkeit versprechen. In einem fernen Rückblick war vielleicht diese Stunde einmal schön. Im Freskenstil der Geschichte sah man vielleicht diesen 9. November als den Beginn einer großen Erneuerung.

August Wilhelm Ring bahnte sich den Weg in eine stillere Straße, stieg mehrere Treppen eines Hauses hinauf und wurde in eine alte, weitläufige Wohnung eingelassen. In einem großen, hellen Gelehrtenzimmer, dessen Wände fast nur aus Büchern bestanden, saß ein schöner, weißhaariger Herr.

»Oh, Sie kommen August.« Welche Höflichkeit, dachte Ring, dem Mann brennen Fragen auf den Lippen, aber zuerst denkt er dran, daß mir eine Zigarette brennen muß.

»Bis vier Uhr – eine Stunde noch – hat der Kaiser Zeit, seinen Entschluß zu fassen. Ich möchte diese Stunde mit Ihnen verleben, wenn Sie erlauben, Herr Geheimrat.«

Die Hände des alten Mannes begannen zu zittern. Er fuhr sich hilflos über die Augen.

»Wo ist der Kaiser?«

»Im großen Hauptquartier.«

»So. Und ist er nicht auf dem Weg nach Berlin? Friedrich Wilhelm der Vierte war in Berlin bei der Revolution. Er ist von seinem Schloßhof hinunter gestiegen und hat vor den Leichen der Aufrührer salutiert. Ein bitterer Weg für einen König. Warum ist heute der König nicht da?«

August Wilhelm Ring antwortete: »Er ist bei seinen Generalen.« Der alte Herr fragte in der Hartnäckigkeit seiner Greisenjahre: »Warum ist der Kaiser nicht in Berlin? Warum ist er nicht auf seinem Platz?« Und er hob seine Stimme: »Warum ist er nicht da, und steht auf dem Schloßbalkon, wo er am 1. August gestanden hat? Und sagt: Hier stehe ich, ich kann nicht anders? Dreißig Jahre habe ich mich von Gottes Gnaden auf meinem Platz gefühlt, und diesen Platz verlasse ich nicht als ein Lebendiger.«

Der alte Herr sah leer in die Luft. Die alte Wirtschafterin stürzte ins Zimmer. Ihre hagere Gestalt schien in dem doch so dürftigen Kleid zu schlottern: »Herr Geheimrat –«

Hinter der Wirtschafterin erschien eine junge Dame, schlank, groß, in dunkeln Kleidern – mit einem sehr weißen Gesicht, aus dem ein roter Mund und bernsteinfarbene Augen sonderbar leuchteten.

»Wo kommst du her, Kind – wo sind deine Eltern?« Wieder hörte August Wilhelm Ring in sonderbarer Betroffenheit diese Stimme, die wie aus einer tiefen Ferne klang.

»Mama und ich mußten fliehen. Um dich nicht zu erschrecken, wollte Mama in ein Hotel.«

August Wilhelm Ring versuchte, die Türe zu erreichen und unbemerkt sich zu entfernen. Da rief ihn der alte Mann: »Ich kann nicht zu meiner Tochter – lieber August Wilhelm, würden Sie nicht in das Hotel gehen und meine Tochter holen?«

August Wilhelm war mit der fremden Dame auf der Straße. Die Dämmerung lag über Berlin. Schreiende Menschenhaufen zogen die Potsdamer Straße hinunter. Weit und breit sah man kein Gefährt. Diese Menschenknäuel ließen sich nicht durchrasen. Man stand Brust an Brust mit feindselig oder frech Blickenden – man kam ihnen nahe, als wollte man sie küssen, man wurde wie ein Quirl gedreht und sah andern in die müden, heischenden oder flackrigen Gesichter. Auf dem Potsdamer Platz johlten Soldaten. Sie trugen denselben grauen Rock, in dem die Todgeweihten des August einst auszogen. Jetzt barg der Rock Gesindel oder verzweifelt Enttäuschte, Straßenläufer, Aufwiegler, Zerbrochene. Die Entscheidung des Kaisers mußte noch nicht da sein, fühlte Ring. Er drängte hinunter nach der Bellevuestraße. Sie war ein wenig leerer – und der Weg der Siegesallee gestattete wieder ein leidliches Gehen. Vom Brandenburger Tor her hörte man das Knacken der Maschinengewehre.

»Es ist Revolution,« sagte sie. »Das große Wecken, das große Erwachen, Weltreveille. Sie bangen um einen einzelnen Menschen – um Wilhelm. Und es ist doch Menschheitsfrühling.«

Pathos. Altes Pathos. Neu von jungen Lippen, dachte August Wilhelm Ring. Und begriff plötzlich, das war nicht Phrase bei seiner Begleiterin. Mit ihren Augen, die in der Farbe des Bernsteins, der im Meeresgrund liegt, über alle Dinge so blicklos forschten, konnte sie wohl einen Menschenfrühling erträumen. In Hunderte von Gesichtern hatte er heute schon geblickt. Gab es einmal den Glauben, die germanische Rasse sei schön?

Sie waren in der Nähe des Brandenburger Tores. Gebrüll, Lärm, Schüsse hallten von den Linden herüber. »Ich würde Sie nicht bemühen,« sagte Fräulein v. Envers, »wenn es möglich wäre, mit meiner Mutter die kommende Nacht hier Unter den Linden zu verbringen. Wir sind Flüchtlinge. Unser Landhaus, unser Park bei Riga brennt vielleicht noch. Mein Vater ist ermordet worden, trotzdem er so fest an die Menschenrechte glaubte. Er begriff nur nicht, daß die Tiere, die das heilige Wort brüllten, Geld damit meinten – «

Verwirrt blickte August Wilhelm Ring in das blasse Gesicht mit dem roten Mund. Was für ein Singsang, fühlte er. Unser Haus brennt, mein Vater ist ermordet, die heiligen Menschenrechte – oh, nun begriff er plötzlich, warum alles, was dieses Mädchen sagte, so aus weiter Ferne klang. Sie hatte es gesehen, zuschauend mitgelebt, aber es war noch nicht zu ihrem Herzen gedrungen.

Durch die Linden rasten Lastautos, mit Maschinengewehren besetzt. Zum Schloß – zum Schloß. Durch das Brandenburger Tor rasten Autos mit treulosen Soldaten, die auf die Volksgenossen schossen. Wo waren Seiner Majestät Offiziere? Noch an den Grenzen? Wo war der Bürger von Berlin? Ein Flackerrot stieg in August Wilhelms kühnes Gesicht. Und wo bin ich? Ich tue das nächste – ich beschütze ein junges Mädchen. Vorher stand ich müßig in den Gassen. Vorher war ich bei Hindenburgs Fahnen und dann mit dem lahmen Arm ein Kriegsberichterstatter! Wir konnten nicht schreiben, was wir wollten. Sonst hätten wir geschrieben: Gebt euren letzten Pfennig, damit ihr noch euer Haus behaltet. Gebt dem Volk den Traum der Freiheit, sonst gibt es euch den Terror. Man mußte schreiben: Wir siegen auch im Rückzug.

Ein Matrose versperrte Fräulein v. Envers den Weg. Das wüste Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Man mußte stehen bleiben, die Menschenmauer gab keine Möglichkeit, sie zu durchdringen. Der Matrose hatte ein feistes Gesicht und bläuliche Backen. »Du willst wohl Wilhelm beistehen,« sagte er durchaus nicht spöttisch, nur wie feststellend zu Ring. »Da biste zu weit weg, der türmt. Der tigert.«

»Er türmt nicht,« antwortete Ring.

Der Matrose lächelte. »Wirste sehen, daß er türmt. Du – du Freilein – ist der dein Schatz? Haste dich schon versprochen für den hübschen Abend –«

Ein Rätselhaftes geschah. Fräulein v. Envers sah den Matrosen an. Sie hob den Kopf, streckte das sonderbar geformte Kinn ein wenig vor und blickte dem Matrosen in die Augen. Er verfärbte sich. Wich zurück – Und wie in einer Spukgeschichte schien sich die Menschenmauer zu öffnen und doch nicht zu öffnen – sie nahm den Matrosen auf. Er war nicht mehr da.

1919

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