Читать книгу Deutscher Novellenschatz 16 - Hermann Schmid - Страница 9
ОглавлениеEmmy an Charlotte.
Seit ich dir zuletzt schrieb, ist Alles hier im Hause verändert. R. hat uns verlassen, nach seiner eigenen Äußerung für ein paar Jahre, welche er auf Reisen hinbringen will. Die erste Erklärung seines Vorsatzes verbreitete so viel Kummer, Missvergnügen und Erstaunen, dass ich die Tage, welche darauf folgten, für Vieles nicht noch einmal erleben möchte. Er selbst war kalt und ziemlich misslaunig; gewiss, und diese Gerechtigkeit lasse ich ihm widerfahren, mehr um Fassung zu behaupten, als aus Gefühllosigkeit. — Sternheim und ich boten im stillschweigenden Einverständnisse Alles auf, um das Beisammensein weniger peinlich zu machen. Während der Zeit bekam ich, damit Alles zusammen träfe, einen Brief von Victor, voll eifersüchtiger Grillen über R.'s Anwesenheit hier im Hause. Ich hätte ihm gerne antworten mögen: Fürchte Gott und scheue Niemand; meine geistreichsten Einfälle haben aber nicht immer das Glück gehabt ihm zu gefallen, und so schrieb ich einen endlosen Brief voll der besten Beteuerungen, der ihn auch zufrieden gestellt zu haben scheint. —
Mehr als je habe ich in dieser Zeit Sophie bewundert: wie tief ergriffen und doch wie sanft hat sie getragen, was ganz nutzloser Übermut über sie verhängte. R. war in den letzten Wochen wenig sichtbar, da er noch manche ältere Werke studieren wollte; dieser Mensch versteht nie Maß zu halten, er ist entweder ganz müßig, oder mit Übertreibung beschäftigt. Endlich kam der Tag seiner Abreise, für welche wir noch Vieles geordnet hatten; oh gewiss, die Sorgfalt und Langmut der Frauen ist unerschöpflich! Am Morgen dieses Tages hatte ich mir eine Menge Bücher aus Sophies Zimmer geholt und mit kindischer Laune eine solche Anzahl genommen, dass sie mir bis ans Kinn reichten. R., welcher mir begegnete, kam über den Anblick ins Lachen, auch ich lachte, meine künstliche Anordnung verlor jegliches Gleichgewicht, und die Bücher fielen nach allen Seiten umher. R. kniete nieder, um sie aufzusammeln, und reichte mir eines nach dem andern dar; das letzte emporhaltend, erfasste er meine ausgestreckte Hand und sagte bewegt zu mir aufblickend: In wenig Stunden bin ich Ihren Augen für lange Zeit entrückt, wer kann wissen, ob nicht für immer? Soll ich ohne die Überzeugung scheiden, dass noch eine Spur des Wohlwollens Ihr Herz belebt, welches mich früher beglückte? — Durch seine Stellung, durch die meinige beängstigt, erwiderte ich, halb gedankenvoll: Aber warum müssen Sie reisen? — Warum? Oh Emmy, fragen Sie die vom Sturm gejagten Wolken, warum sie vorüber eilen? Noch ist keine Ruhe in mir, noch bin ich ungeeignet für das Dasein, welches meiner warten würde. Verdammen Sie mich nicht, einst, einst, werde ich wiederkehren, und dann — Er drückte seine Augen auf meine Hand, sprang rasch empor und eilte von dannen. Ich ging in mein Zimmer und weinte bitterlich.
Jetzt ist er fort. Wie öde war Alles in den ersten Tagen! Herr Steffano ist liebevoller denn je gegen Sophie, ich sehe ihr Alles an den Augen ab, und auch Sternheim ist um sie bemüht, die ihren Schmerz mit stiller Ergebung trägt. Er naht ihr ohne Geflissenheit mit zarter Achtung, mit der Teilnahme, welche fein empfindende Menschen nicht aussprechen, und die doch demjenigen, welchem sie zu Teil wird so wohl verständlich ist. Ihr Verhältnis zu R. erscheint in der Tat wie ein offenes Geheimnis, was sie indessen nicht zu ahnen scheint, in der Voraussetzung, man werde der Verwandtschaft diesen Anteil zuschreiben. Mit aller Achtung für Familienbande ist dieses indessen doch kaum möglich.
Meine Heiterkeit ist allmählich zurückgekehrt, denn ich leugne es nicht, dass der halb bewusstlos von ihm ausgeübte Zauber sie augenblicklich getrübt hatte. Die Saite, welche einmal erklang, vermag auch der leiseste Anhauch wieder zu bewegen, Musik ist es nicht mehr, aber ein Laut, welcher daran erinnert. Für heute sage ich dir ein herzliches Lebewohl, aber bald schreibe ich wieder.