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Zusammenbruch und was dann?

Meine dienstlichen Pflichten erfüllte ich nach dem Tod meines Bruders (im Januar 2016) noch bis Mai dieses Jahrs, doch dann brach mein Körper-Geist-Seele-System komplett zusammen. Dann brach genau genommen meine Welt, die sich in all den letzten Jahren ohnedies schon in so vielen Ausnahmezuständen befand, vollkommen in sich zusammen.

Um mich von all der Trauer und dem Schmerz bestmöglich abzulenken, wurde ich immer mehr so etwas wie eine Arbeitsmaschine in Menschengestalt. Doch schade nur, dass sich auch im Feld Schule zu dieser Zeit immer mehr Situationen ergaben, die zum Teil für mich mitunter auch kränkend waren. Ab einem bestimmten Zeitpunkt hörte mein „System“ nur noch Kritik, Kritik, Kritik … – Und gerade dieses negative Erleben „feuerte“ zusätzlich meine negativen Glaubenssätze an. Sätze wie „Du bist einfach nicht gut genug. Du kannst das nicht. Erfolg hast du nicht verdient. Um Erfolg zu haben bist du nicht geboren.“ Meine innere Kritikerin lief auf Hochtouren. Und was das Schlimmste war, diese Kritikerin ließ sich nicht mehr abstellen. Sie schrie bei Tag und bei Nacht. So gut ich konnte, arbeitete ich dagegen an. Was mir jedoch immer seltener gelang. Diese Stimme, dieser negative Klangkörper, dieser Feind in meinem Kopf, er war omnipräsent. Und er raubte mir zusätzlich viel an Elan, an Esprit, an Lebens-Energie. Er war wie ein Virus, der sich in einem viel zu schwachen Immunsystem mit brachialer Gewalt in jede Zelle bohrte und sie begierig auffraß. Und ich konnte dagegen nichts unternehmen. War im Grunde genommen wie gelähmt. Nicht mehr Frau meiner Sinne. Nicht mehr im Besitz meiner Kräfte.

Dieser Virus verselbstständigte sich und zeigte sich zusätzlich zu all den Körpersymptomen, die ohnedies ja schon ein Teil meiner Biografie waren, immer mehr an diversen körperlichen Symptomen, vom Bandscheibenvorfall, über Schwindelanfälle, extremen Schmerzen in der ganzen rechten Körperhälfte, über Tinnitus, über … Manchmal zitterte ich nur noch am ganzen Körper. Oder bekam einfach so ohne besonderen Anlass einen Weinkrampf, der mir dann noch das Letzte an Energie nahm, was noch vorhanden zu sein schien. Das Einzige, was zur Beruhigung noch funktionierte, waren Badewanne und Bett. Doch nach drei Stunden war es dann um den Schlaf auch schon wieder geschehen. Und so „vegetierte“ ich geraume Zeit dahin. Im Grunde genommen so lange, bis mich mein Körper mittels eines Nervenzusammenbruchs aus dem Verkehr zog. Spätestens da war es um mich geschehen. Ab da hatte ich meinen Körper nicht mehr im Griff. „Funktionieren“ war nicht mehr. Zwar unternahm ich bis zuletzt immer wieder verzweifelte Versuche, das, was wir Schicksal nennen, zu beeinflussen und zu korrigieren. Doch all diese Versuche waren zum Scheitern verurteilt. Es war sozusagen ein vergebliches Spiel meinerseits um Macht und Kontrolle.

Wenn ich aus heutiger Sicht auf all dies schaue, dann wird mir klar, dass das nur ein allerletztes Sich-Aufbäumen war. Ein Versuch, das, was sich bereits wie eine Lawine in meinem Leben losgetreten hatte, mit letzter Kraft noch zu stoppen oder wenigstens insoweit aufzuhalten, dass vielleicht doch noch eine Art von Schadensbegrenzung möglich war. Eine erste Hilfe kam für mich in Form einer vierwöchigen Krankschreibung. Der Arzt, der mir diese verordnete, war aber auch so ehrlich, dass er aufgrund all der Vorkommnisse, die ich ihm berichtet hatte, dringend anriet, mich in die Hände eines Therapeuten zu begeben. Was ich dann auch tat. Zugegeben: anfangs hatte ich ein riesengroßes Thema damit, dass ich therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen musste. Doch mir war andererseits auch klar, dass es keine Alternative mehr gab, um mit der Vergangenheit und all den Themen allein klar zu kommen. Eine – so glaube ich – typisch westeuropäische und vor allem auch deutsche Grundhaltung, zu denken: „In meiner Familie hat noch keiner einer Therapie bedurft. Was für eine Schwäche. Jetzt brauche ich auch noch einen Therapeuten, der mir hilft, all das Chaos in mir zu sichten.“ Es gibt andere Gesellschaften, andere Nationen, die gehen damit wesentlich freier um. Da hat nahezu jeder, der etwas auf sich hält, einen Therapeuten, um an seinen Lebensthemen zu arbeiten. Kurzum: Ich hatte eine schreckliche Angst, mich auf diesen Weg einzulassen. Doch ich wollte wenigstens verstehen lernen, warum ich mit 55 Jahren, in der Mitte meines Lebens, vor einem derartigen Scherbenhaufen stand und alles zerstört hatte, was ich mir bis dahin aufgebaut hatte. Außerdem war da eine winzig kleine, kaum hörbare Stimme in mir, die mir sagte: „Bitte befreie mich! Bitte erlöse mich! Bitte gehe den Weg, der dir vielleicht als hart erscheinen mag. Sieh dir an, wie alles mit allem zusammenhängt, denn alles im Leben ergibt einen Sinn. Du kannst das jetzt vielleicht noch nicht sehen, doch mit der Zeit wird er sich dir erschließen. Bitte gehe diesen Weg. Befreie dich! Befreie mich! Befreie uns!“

Und so hörte ich mit so ziemlich letzter Kraft auf dieses zarte Stimmchen und ließ mich darauf ein, in die Therapie zu gehen. Dabei folgte ich dem Gedanken, dass mir jemand auf dem Weg durch die Therapie vielleicht einen Strohhalm reichen kann, mit dessen Hilfe ich mich aus all dem Sumpf, aus all der Gefangenschaft befreien kann. Tja, und diese Stimme, sowie dieses Fünkchen „Hoffnung“, das ich damals noch in mir trug, brachten mich dann auf den Weg. Auf einen sehr unbequemen, oft sehr steinigen Weg. Über etliche Geröllfelder und Gletscherspalten hinweg. Doch mit jedem Schritt, den ich machte, selbst wenn dieser noch so angsterfüllt und unsicher war, hatte ich schon bald das Bild im Kopf, als wollte ich hiermit meinen ganz persönlichen Achttausender besteigen. Meinen eigenen Mount Everest, meinen eigenen „Höhenweg“. Dafür musste ich nicht einmal bis nach Nepal fahren. Diese „Erstbesteigung“ meiner Bergwand fand für mich in unmittelbarer Nähe statt. Und dies mir, die ich zwar sehr gerne und ausdauernd spazieren gehe, aber um mich als Bergsteigerin oder gar als Gipfelstürmerin zu bezeichnen, kann ich nur sagen: weit gefehlt!

Zunächst verlangte unser deutsches Gesundheitssystem, dass ich mich für eine ambulante Therapieform und für eine entsprechende Medikamenten-Einnahme entscheide. Nur so wäre ich nachfolgend berechtigt, überhaupt einen Klinikplatz zu erhalten. Zum Glück nannte mir der Arzt meiner ersten Krankschreibung eine Therapeutin, die so einfühlsam in meine Person war, dass ich nicht sofort vom Weg der Therapie abgeschreckt wurde, sondern mich nach und nach und von Sitzung zu Sitzung etwas mehr öffnen konnte, damit ich über all den Schmerz, die Trauer, die Demütigung, die bittere Enttäuschung, die Wut einfach nur einmal weinen konnte. Oft fand ich gar keine Worte, um meine Situation klar zu beschreiben, doch bereits das Weinen tat mir schon gut und war wie ein kleiner Türöffner für mich. – Doch die Einnahme von Medikamenten verweigerte ich. Von Monat zu Monat folgten weitere Krankschreibungen, die es mir möglich machten, mich dieser gesamten Situation hinzugeben und mich zum ersten Mal in meinem Leben ausschließlich um mich selbst zu kümmern, bzw. das, was von mir übrig war, zu beweinen. Nach drei Monaten stellte sich für mich dann eine Erleichterung hinsichtlich der Situation an meiner Schule dadurch ein, dass mir eine Neurologin, bei der ich zwischenzeitlich vorstellig geworden war, für den Rest des Jahres 2016 eine Krankschreibung ausstellte. So konnten meine schulischen Aufgaben unter meinen Konrektorinnen besser verteilt, und mein Unterrichtsausfall viel besser umorganisiert werden. Denn neben den Therapie-Sitzungen war zu dieser Zeit das Schlimmste für mich, dass ich meinen Dienstaufgaben nicht nachkommen konnte. Und es dauerte sehr lange für mich, bis ich mir selbst endlich das Recht zusprach, dass ich dienstunfähig, weil krank, ausgelaugt, erschöpft war. Und mich einfach am Ende sah. Zwar sprach die Diagnose bereits für sich. Doch diese kannten nur meine Konrektorinnen und mein unmittelbarer Dienstvorgesetzter.

Selbst wenn ich noch ein Fünkchen Kraft gehabt hätte, in die Schule gehen konnte ich einfach nicht. Zwar habe ich die Schüler, die Lehrer, die zahlreichen nicht vorhersagbaren „Unbekannten“, den ganzen Trubel eines Schulalltages schmerzlich vermisst – immerhin war dies ja die allerbeste Ablenkung für mich –, doch mir war auch klar, dass ich jetzt aufgefordert war, mich nicht länger um all die Situationen und Belange im Außen zu kümmern, sondern endlich meine eigenen „Hausaufgaben“ zu machen. Dennoch hielt ich in dieser ersten Zeit über das Telefon soweit mir möglich war noch engen Kontakt mit meinen Konrektorinnen und Sekretärinnen. Letztlich dauerte es dann bis Ende September 2016, bis ich einen stationären Therapieplatz angeboten bekam. Zum Glück hatte ich bis zu dieser Zeit neben meiner ambulanten Therapeutin noch eine wunderbare Heilpraktikerin an meiner Seite, die mir hilfreich und liebevoll zur Seite stand. Und in den ersten sechs Wochen der Klinik-Therapie wusste ich oftmals nicht mehr, ob dies alles überhaupt noch real war, was da mit mir geschah. So gut ich konnte ließ ich mich auf die therapeutischen Sitzungen und das klinische Begleitprogramm ein. Mein damalig erklärtes Ziel war, dass mich die Klinik-Ärzte wieder so weit dienstfähig machen sollten, dass ich ab Januar 2017 wieder meinen Schuldienst aufnehmen kann. – Den Therapieverlauf will ich Ihnen als Lektüre ersparen. Nur so viel sei gesagt: Ich hatte zum Glück eine gute ärztliche und therapeutische Versorgung. Vor allem kam ich zu einer Therapeutin, die für mich das Beste war, was mir passieren konnte. Sie hatte sozusagen das „Herz am rechten Fleck“ und arbeitete mit mir sehr mitfühlend und einfühlsam. War fast wie eine Mutter für mich. Sie spürte intuitiv, was mir am meisten fehlte.

Nach diesen sechs Wochen, die für mich rasend schnell vergangen waren, war ich insoweit wieder „hergestellt“, dass ich meinen Alltag mit mir alleine wieder relativ passabel bewältigen konnte. Doch ich hatte ja noch die restliche Zeit des Jahres (Mitte November bis Ende Dezember plus die Weihnachtsferien), um nun wieder selbst Sorge für mein Wohlergehen zu tragen. Anfangs gelang mir das auch ganz gut. Doch je näher das Jahresende und damit Weihnachten kam, umso mehr zerbrach ein Teil meiner noch sehr zarten Welt, die ich mir bis dahin wieder mühsam aufgebaut hatte, erneut. Um es mit einem Begriff aus der Therapie zu benennen, hatte ich wohl so etwas wie einen „Flash-Back“. Grund dafür war noch so viel Trauer und Schmerz, die in mir lebten. Sowie die unausweichliche Konfrontation mit der ernüchternden Tatsache, dass ich so ganz allein mit mir war. – Nach den Tagen des Angenommen-Seins und Betreut-Werdens in der Klinik, war ich in meinem Alltag wieder ganz auf mich alleine gestellt. Da war zu dieser Zeit in meinem näheren Umfeld niemand, auf den ich hätte zugehen oder bei dem ich mich gar hätte anlehnen oder ausweinen können. Und so fühlte ich mich unter den Menschen mal wieder ziemlich „mutterseelenallein“.

Mein treuester Lebensbegleiter war die Einsamkeit. – Wie ein verletztes Tier zog ich mich zurück, um all die Wunden zu lecken und um ja nicht erneut verletzt zu werden. Was ich brauchte war Zeit. Ganz viel Zeit und ganz viel Stille.

Unbewusst brachte ich mich selbst damit zwar in eine Art von Isolation, die mir manchmal auch brutal erschien, die mir letztlich aber auch – nachdem ich mich mit ihr ausgesöhnt hatte – ermöglichte, den Weg zu gehen, für den ich mich in Folge aus mir selbst heraus entschied. Da, wo ich früher viel zu viel auf andere gehört hatte und mein Denken und Tun oft auch nach ihnen ausgerichtet hatte, war ich jetzt gefordert, mich selbst endlich kennenzulernen. Mich selbst und meine grundlegendsten Bedürfnisse. Es war alles andere als leicht, die überhaupt erst einmal wieder zu spüren. – Zwar sehnte ich mich nach Freunden, doch ich konnte mich niemandem erschließen. Ich konnte mich nicht mitteilen, nicht öffnen. Mir war, als hätte ich meine Stimme verloren. Als könnte ich nicht mehr reden, und von daher von den anderen auch nicht mehr verstanden werden. Dabei wollte ich mich dem Leben und den Menschen durchaus wieder öffnen. Wollte auf sie zugehen. Mit ihnen verbunden sein. Mit ihnen so gerne mal wieder lachen, fröhlich sein, ausgelassen sein. Und noch so vieles mehr. – Kurzum: Einfach das Leben auch mal wieder genießen. Doch ich konnte nicht. Ich war wie festgezurrt. Eine Gefangene meiner selbst. Und so wurde ich immer mehr zu jemandem, der das Leben mit anderen nicht mehr teilen kann. Der weder am beruflichen, noch am privaten geselligen Leben Anteil nehmen kann. Und je mehr ich darum kämpfte, in ein soziales Leben zurück zu finden, umso schlimmer wurde es für mich. Ich wurde mit all meinen Versuchen immer wieder zurückgeworfen. Und da ich letztlich nur noch verzweifelt war, fühlte ich mich von dieser Welt „nicht verstanden“ und vor allem „nicht geliebt“. Das Annehmen der Situation, so wie sie nun einmal war, wurde somit zu meiner Pflicht. Ich konnte nicht länger vor mir selbst davonlaufen und mit mir selbst irgendwo in der geschäftigen Welt „Verstecken spielen“. Stattdessen wurde ich knallhart mit meiner Realität konfrontiert. Und das Landen in dieser Realität war alles andere als schön.

Zwischendurch versuchte ich zwar immer wieder einmal selbst Regie in diesem Lebens-Theater zu führen. Doch jeder dieser Ausreißer war vergebliche Liebesmüh. Egal was ich tat. Egal welcher Methode ich mich dabei bediente. Ich wurde immer wieder zurück auf den Anfang, zurück auf „Null“ gesetzt. Und so setzte sich meine ganz persönliche „Odyssee“ fort in dieser Welt. Eine Odyssee, die mich ganz tief hineinbrachte in meine Unterwelt. In meine ganz persönliche Schatten-Welt. Kurzum, mir kam es vor, als wurde mein Leben (beruflich wie privat) mit einem Pinselstrich übermalt, mit einem Radiergummi ausradiert. Und bei all dem konnte ich nur zusehen, nicht handeln. Ich war für ein Handeln zu ohnmächtig, viel zu erschöpft. Oft war mir dabei so, als spielte ich mit einem mir unsichtbaren Wesen „Mensch-ärgere-Dich-nicht“. – Doch schon als Kind war ich bei diesem Spiel keine gute Mitspielerin, denn ich ärgerte mich jedes Mal grün und blau, wenn mein Bruder und meine Schwester dieses Spiel mit mir spielten. Ich bin zu wenig „Spieler-Natur“. Doch genau dies ist eine der Eigenschaften, die ich bei all der Krise zu „er-lernen“ hatte. – Und die „Geister“, die ich zu diesem Spiel unbewusst rief, waren unnachgiebige Lehrer. Heute habe ich mich mit diesen „Geistern/Dämonen“ arrangiert. Wir sind inzwischen Vertraute geworden. Vor ein paar Jahren hätte ich mir das nicht so ohne weiteres vorstellen können. Da sah vieles noch so anders aus. Doch als ich merkte, dass ich diesen einmal eingeschlagenen Weg nicht mehr so ohne weiteres verlassen konnte, ohne dass ein noch gewaltigerer Absturz drohte, oder gar ein weiteres Hindernis zu erwarten war, so lernte ich mir stattdessen Fragen zu stellen. Fragen wie: Wer bin ich? – Woher komme ich? – Wohin gehe ich? – Was macht mich aus? – Warum fühle ich mich so fremd in dieser Welt? – Warum fühle ich mich so missverstanden in dieser Welt? – Wer ist diese Verlassene in dieser Welt? – Wer ist diese Betrogene in dieser Welt? – Wer ist diese Ungeliebte in dieser Welt? – Warum fühle ich mich so ungeliebt? … Fragen dieser Art. Fragen noch ganz anderer Art. Fragen über Fragen. Fragen an mich selbst. Fragen an Gott und die Welt. – Irgendwann war es dann zum Glück so weit, dass ich zu mir selbst sagte: „Es muss zwischen Himmel und Erde etwas geben, das mir hilft, mich mit all meinen Fragen besser zu verstehen. Es muss etwas geben, das mir Antworten darauf gibt, warum ich in diese Situation mit all diesen Herausforderungen geraten bin. Es muss etwas geben, das mir mein Tun, mein Handeln erklärt, damit ich verstehen lerne, warum die Dinge sind, wie sie sind.“ – Und vielleicht ist genau dies das entscheidende Tool, das mir die Heilung bringt.

Meine Seele will endlich fliegen

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