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Krise als Chance? – Stimmt das?

„Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind die

meisten an den gebrochenen Stellen stärker.“

Ernest Hemingway

„Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm

nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“

Max Frisch

Krisen. – Sie kommen unvorbereitet. Keiner mag sie und doch gehören sie zu unserem Leben dazu. Es ist, als hätten wir mit ihnen auf der Reise unseres Lebens eine ganz besonders interessante „Attraktivität“ dazu gebucht, ohne uns dessen bewusst zu sein. Das Problem ist nur, dass sie so gänzlich unverhofft in unser Leben drängen. Sie geschehen, ohne dass wir gefragt werden, ob wir an dieser Art von Sonderveranstaltung Interesse haben. – Oder doch? – Und kommen wir aus diesen Krisen „ungeschoren“ davon? Heißt es nicht, dass wir unser Schicksal selbst in der Hand haben? – Dass wir mit unserem Charakter unser Schicksal bestimmen? – Dass wir dabei Gutes und weniger Gutes anziehen, je nachdem worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten? Derzeit scheint uns unser Schicksal an die Hand zu nehmen, um zu verändern, was der Veränderung bedarf.

Sind wir als Menschheit in eine Sackgasse geraten, aus der uns unser Schicksal nun befreien will? – Sind wir im Kleinen (jeder Einzelne von uns) wie im Großen (gesamtgesellschaftlich gesehen) weltweit einem falschen Weg gefolgt? – Haben wir uns dabei selbst verloren? Heißt es nicht, das Schicksal meint es gut mit uns? – Es gibt so vieles, was wir in Zeiten von Schicksalsschlägen und Krisen nicht erklären können. Doch so fest wie uns die Krise in der Hand hat, sind wir aufgefordert durch diese hindurchzugehen. Sollen erkennen, was wir falsch gemacht haben. Sehen lernen, wo wir vom Weg abgekommen sind. Tun wir dies, können wir tatsächlich aus der Krise für die Zukunft lernen und ihr, wie es Max Frisch sagt, den Beigeschmack der Katastrophe nehmen. Doch damit dies geschieht, ist jeder Einzelne von uns gefragt. Nutzen wir die Zeit effektiv, kann Veränderung, Transformation und Heilung geschehen.

Schriftsteller, Literaten wie Ernest Hemingway, Max Frisch und noch viele andere große Persönlichkeiten der letzten Jahrhunderte, lassen mit ihren Aphorismen, die sie uns als eine Art Vermächtnis hinterlassen haben, in uns im Hinblick auf das Phänomen einer Krise die Hoffnung aufkeimen, dass in jeder Krise bereits etwas Positives angelegt ist. Und letztlich zeigt uns zum Glück auch die Geschichte der Menschheit auf, dass es bei jeder Krise trotz anfänglichem Chaos irgendwie immer wieder weitergeht. Wenn auch anders als zuvor, denn eine wesentliche Aufgabe der Krise ist es, all das aufzulösen und zu zerstören, was uns nicht länger dient.

Das Wort „Krise“ setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen. Ein Schriftzeichen bedeutet Gefahr. Das andere heißt Gelegenheit. – Doch Gelegenheit wozu? – Das herauszufinden liegt an uns. Hier ist jeder Einzelne von uns gefragt. Wir müssen uns bewusstwerden, dass letztlich jeder von uns irgendwie seinen Beitrag dazu geleistet hat.

Lassen Sie mich dazu mit Betrachtung meiner eigenen Krise ein Beispiel geben, wie mich mein Schicksal herausgefordert hat, um mich endlich dazu zu bringen, aufzuwachen und zu erkennen, wie ich selbst sowohl bewusst, als auch unbewusst zu meiner Krise beigetragen habe. Anfangs habe ich mich noch dagegen gewehrt, dass ich selbst der vermeintliche Verursacher sein soll. Es wäre doch viel einfacher gewesen, dem einen oder anderen die Schuld für dieses und jenes zu geben. Aber ich konnte die Geschichte drehen und wenden, letztlich hat sie mich immer und immer wieder zu mir selbst zurückgeführt. – Ja, ich weiß, es hört sich nicht schön an, wenn man gesagt bekommt, dass man selbst Täter und Opfer zugleich ist. Kann ich sehr gut verstehen, dass einem dieser Gedanke nicht gefällt. Schließlich habe ich es für mich selbst erlebt.

Lange habe ich überlegt, ob ich für dieses Beispiel mit meinem Namen stehen will. Im Grunde genommen ist es jedoch egal, denn ein Name ist nur ein Name. Nicht weniger, nicht mehr. Wenn ich dafür aber jemandem helfen kann, dann ist es mir dieses Bekenntnis zu meinen Fehlern wert. Schließlich sind wir alle hier, nicht um ein Geheimnis aus unseren Fehlern zu machen, sondern um aus ihnen zu lernen. Und außerdem weiß ich heute: Wenn’s weh tut, dann betrifft es nicht mein wahres Selbst, sondern dann fühlt sich nur und ausschließlich mein Ego verletzt. Und damit kann ich wiederum leben, denn letztlich ist es das Ego, das durch die Krise sterben soll. Schließlich hat es mich auf die Irr-Wege gebracht, die ich mir jetzt einmal aus anderer Perspektive heraus anzuschauen habe. Und dabei gibt es so manches zu entdecken, wie mein bisheriges Leben zeigt.

Was soll denn diese Krise? – Was bitte will sie von mir? – Habe ich sie gerufen?

Die Krise, die ich mit knapp 55 Jahren erlebt habe, forderte mich auf, meinen bisherigen Lebensentwurf, mein ganzes Denken, Handeln und Sein in Frage zu stellen. Es war wie ein Höllen-Schlund, der sich vor mir auftat. Und ich fiel direkt hinein. Konnte nichts stoppen. Ob ich wollte oder nicht, ich musste genau in dieses schwarze Loch hinein. Es schien keinen anderen Weg mehr zu geben als den, den ich vor mir sah. Und dieser Weg war ein sehr schmaler Grat. – Ein falscher Tritt. Und ich falle noch tiefer in diese schwarzen Untiefen hinein. – Was ist los? – Was soll ich hier? – Warum muss ich da durch? – Wollte ich das so? – ???

Dieses schwarze Loch forderte mich auf, in meinem Leben die Pause-Taste zu drücken. Innezuhalten. Einen Schritt zurückzutreten. Die Situation auszuhalten. Die Leere auszuhalten. Mich auszuhalten. – Ja, Sie lesen richtig. Mich selbst auszuhalten und mir anzusehen, was ist. Was ich mir da erschaffen hatte. Es will, dass ich mir mein bisheriges Leben ganz genau ansehe, damit ich erkenne, wann genau ich von meinem Weg abgekommen bin. Damit ich erkenne, in welchen Sog ich da geraten bin. Damit ich erkenne, was es zu korrigieren gilt. Dass ich aus meinen Fehlern lerne und dass ich die notwendigen Schritte der Veränderung gehe. Denn mein Leben schreit förmlich danach, dass es so nicht weitergeht. – Was tun? – Verzweiflung? – Resignation? – Aus dem Leben gehen? – Weitergehen?

Was hat eine Krise mit Krankheit und Tod gemeinsam?

Krise, Krankheit, Tod – wir haben sie verdrängt. Aus unserem Alltag, aus unserem Leben. Aus unserem Bewusstsein. Keiner will sie haben. Sie führen ein Schatten-Dasein. Dabei haben sie uns so viel zu sagen. Sie wollen mit uns eintreten in einen Dialog. Wollen mit uns kommunizieren. Fordern uns auf, uns näher mit ihnen zu befassen. Sie uns anzusehen. Ihre Botschaft zu verstehen. Sie fordern uns auf, uns ihrer bewusst zu werden. Sie wieder in unser Leben, in unser Sein zu integrieren. Denn trotz ihres bitteren Beigeschmacks gehören auch sie zum Leben insgesamt dazu. Sie wollen nicht ausgeklammert werden. Schließlich haben sie uns viel zu lehren. Doch um ihre Sprache, ihre Worte zu verstehen, bedarf es sehr viel Mut, Ausdauer und Geduld. Ihre Bewältigung kann uns gelingen, wenn wir bereit sind, in den Schmerz, den sie mit sich bringen, hineinzugehen, auf unsere innere Stimme zu hören und uns ihrer Führung anzuvertrauen.

Ihr Weg führt uns – so mein Erleben – direkt in die Höhle des Löwen hinein. Es dauerte seine Zeit, bis ich verstanden hatte, wer dieser „Löwe“ war: mein Unterbewusstsein. Ihm stand ich völlig entwaffnet, nackt und mittellos gegenüber. Mit weit aufgerissenem Maul ließ es mich in seinen „Löwen-Schlund“ („Höllen-Schlund“) schauen und fauchte mich mit Gift, Galle und feuerspeiendem Atem an. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie es mir bei diesem Anblick die Luft zum Atmen nahm. Ich fühlte mich fürs Erste mehr tot als lebendig. Voller Angst und am ganzen Körper zitternd wich ich anfangs vor diesem Ungeheuer zurück. Meine erste Reaktion: Panik und Flucht, als könnte ich vor ihm fliehen. – Es dauerte seine Zeit, bis ich in gebührendem Abstand zu ihm einen Platz fand, der mir so viel an Sicherheit bot, dass ich mich auf das, was unvermeidlich war, einlassen konnte. Natürlich entspringt dieses Bild meines Sturzes in die Höhle des Löwen meiner Phantasie, doch es beschreibt am ehesten meine Gefühle, sowie die Angst vor all dem Unbekannten, dem ich mich gegenübersah. So wie einem das Brüllen des Löwen durch Mark und Bein gehen kann, so bebte und zitterte auch ich am ganzen Körper. Musste erst lernen, mit all dem umzugehen, denn in dieser Höhle war nicht nur der Löwe. – Nein! – Da gab es noch so viele andere Fratzen und Gestalten. So viele Geister, die ich mit meiner Angst scheinbar heraufbeschwor. Sie alle sahen mich mit weit aufgerissenen Augen an. Zunächst erweckte es den Anschein, als hätten sie sich am liebsten gleich alle auf mich gestürzt. Zum Glück bewahrte mich mein Zusammenbruch davor und gewährte mir noch etwas Schonfrist.

Die unbändige Kraft dieser Geister, denen ich mich gegenübersah, erinnerte mich an meinen Lieblingshelden Odysseus aus Kindertagen. Wie er – auf seiner Rückreise nach Ithaka – sah auch ich mich einer Flut von Gefahren ausgesetzt. Lauerte auf ihn Skylla mit ihrem angsteinflößenden Heulen einer Hündin (ein Monster mit zwölf Armen und sechs Köpfen mit spitzen, scharfen Zähnen, die den Tod versprachen), so sah ich mich gegenüber dem zornentbrannten Löwen und all den Geistern ebenso in Gefahr. Doch so wie Odysseus keine andere Wahl hatte, als den Weg durch die Meerenge vorbei an Skylla zu nehmen, sah auch ich keine andere Wahl, als mich dem Unvermeidlichen hinzugeben, auch wenn ich nicht wusste, welche Ängste und Schrecken meine Geister unter ihren fratzenhaften Masken trugen, die sich mir erst nach und nach zu erkennen gaben. Das Einzige, was mir Trost versprach, war, dass die Geschichte meines Helden gut ausging. Und so hoffte ich, dass auch meine Reise gut ausgeht.

„Man muss durch die Nacht wandern,

wenn man die Morgenröte sehen will.“

Khalil Gibran

Wir sterben in unserem Leben nicht nur einen Tod

In Wirklichkeit ist jede Krise vergleichbar mit einem „kleinen Tod“. Krise und Tod verlangen von uns ein Hineingehen in die Welt der Schatten, in die Welt des Unbewussten. Sie bringen uns in tiefen Kontakt mit unseren Ängsten. Zeigen uns, was wir nur allzu gerne verdrängen. Konfrontieren uns mit dem, was wir nicht gerne sehen. Auch Odysseus, mein Held, stieg hinab in den Hades, in die Unterwelt. – Und je mehr wir aufgefordert sind, in dieses Unbekannte, in diese dunkle Welt hineinzugehen, umso mehr fordert sie uns auf, alles, was die äußere Welt repräsentiert, loszulassen. Und dieses Loslassen konfrontiert uns mit viel Trauer und Schmerz. So wie der Tod läutet jede Krise einen Abschied ein. Da gibt es kein Zurück. Eine Krise verlangt Abschied zu nehmen. Abschied von Menschen, Arbeitsplätzen, Lebenskonzepten, Selbstbildern und noch so vielem mehr. Und wie in einem Sterbeprozess durchlaufen wir in der Krise vier unterschiedliche Phasen, die uns letztlich aber wiederum zu ihrer Bewältigung dienen. Dabei gehen wir Schritt für Schritt, jeder für sich in seinem Tempo, den Weg vom anfänglichen Chaos über die Dysbalance wieder zurück in die Balance.

Phase 1: Verleugnung, Verdrängung, Nicht-Wahr-Haben-Wollen: mit allerletzter Kraft bäumen wir uns gegen das Unvermeidliche auf. Wir wollen es nicht wahrhaben, setzen uns zur Wehr. Aussagen wie „Es kann nicht sein, dass …“, „Ich bin nicht krank“ … begleiten diese Phase, in der geleugnet wird, was nicht mehr zu leugnen ist. Wir scheuen die Konfrontation mit dem Thema unserer Krise (Krankheit, Verlust, Trennung, Tod …).

Phase 2: Ist das Unausweichliche zu unserer Realität geworden, dann folgt der Zusammenbruch und mit ihm brechen im wahrsten Sinne des Wortes unsere Gefühle auf. Wir fühlen uns ohnmächtig, sind frustriert, fühlen uns vom Leben verraten, ungerecht behandelt. Gefühle wie Wut, Angst, Verwirrung, Unsicherheit, Selbstzweifel, Schuld, Scham etc. brechen aus uns hervor. Wir verlieren die Kontrolle. Werden mit unseren Ängsten konfrontiert und hadern mit dem Schicksal: „Warum geschieht das ausgerechnet mir?“, „Was habe ich getan, dass …?“

Dann, nach all der Zeit der Trauer, des Beweinens, der Verzweiflung, der Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit beginnen wir uns nach und nach im Leben wieder ganz vorsichtig zurechtzufinden.

In Phase 3 kommen wir langsam wieder zur Ruhe. Unser aufgebrachter Geist beruhigt sich. Wir lernen, immer weniger mit unserem Schicksal zu hadern, stattdessen nehmen wir es an. Wir stellen uns Fragen wie: Was kann ich aus dieser Krise lernen? – Worin besteht ihr Sinn? – Was will sie mich lehren?

In Phase 4 schauen wir uns die Antworten an und überlegen, in welche Richtung wir weitergehen. Wir gehen positiv mit der Krise um, sind an einer Neufindung, an einem Neustart, an Lösungsmöglichkeiten interessiert. Suchen nach Alternativen und orientieren uns neu. Nach und nach schöpfen wir wieder Kraft, finden wieder neuen Mut. Balance stellt sich wieder her. Nach und nach merken wir, dass all das, von dem wir einst glaubten, dass es unser Leben zerstört, immer mehr zum „Geburtshelfer“ für eine zweite und weitaus schönere und reellere Chance Leben wird. Und so wie wir dies immer mehr erkennen, können wir rückblickend auf die vergangenen Ereignisse eines schönen Tages sogar sagen: „Das Leben ist immer für uns.“

Das Leben ist immer für uns – Stimmt das?

Wenn dieser Satz zutrifft, kann ich dann in einer Krise auch eine Chance sehen? – Kann es sein, dass das Leben tatsächlich immer für uns ist? – Ausnahmslos? – Auch in der Krise? – In einer Krise wie dieser, die uns alle weltweit betrifft? – Wie passt das zusammen? – Ist es nicht ziemlich naiv, im Hinblick auf eine solche Krise eine derartige Behauptung aufzustellen und diese dann auch noch öffentlich vertreten zu wollen? – Ist das nicht Irrsinn? – Blanker Hohn?

Ob eine Behauptung wie „Das Leben ist immer für uns“, liebe Leserin, lieber Leser, zutreffen mag, das können letztlich nur Sie entscheiden. Ich wähle mit Absicht diesen ungewöhnlichen Beginn und gebe zu, dass es im ersten Moment so aussehen mag, als könnte eine derartige Aussage niemals zutreffend sein. Denn stehen wir am Anfang einer Krise, dann erschüttert uns diese durch Mark und Bein. Schließlich bringt sie unser gesamtes Lebenskonzept durcheinander und führt im Falle von Corona weltweit zu sehr viel Kummer und Leid. Um es mit einem Bild zu sagen: Das Schiff unseres Lebens gerät derart ins Wanken, sodass Schieflage und Untergang drohen. Man sieht sich nur noch einem gewaltigen Sturm gegenüber, der scheinbar unaufhaltsam ins Chaos führt. Das Einzige, was bleibt, ist die Frage: Was war der Auslöser dafür? – Ungewollt werden wir mit einer gewaltigen Wucht aus dem bisherigen Leben herausgerissen und auf eine „Reise“ geschickt, die so (!) keiner von uns jemals gebucht hat. – Aber warum? – Was ist Sinn und Zweck dieser Krise? – Was ist da irgendwann passiert, dass alles, was wir uns bis zu einem bestimmten Punkt erarbeitet haben, auf einmal nicht mehr funktioniert, sondern wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt? – Oder mit einem anderen Bild gesagt: Wer hat den ersten Dominostein bewegt, der jetzt für uns alle zu diesen Ausmaßen einer weltweiten Katastrophe führt?

Die Welt sucht nach einem Schuldigen im Außen. Irgendjemand muss doch für diese gigantische Misere verantwortlich zu machen sein. Doch was, wenn der ursprüngliche Verursacher nicht im Außen, sondern in jedem von uns selbst zu suchen ist? – Wenn jeder von uns bewusst wie unbewusst im Kleinen wie im Großen irgendwie an dem Ganzen seinen Beitrag geleistet hat? – Eine Provokation meinerseits?

2016 war ich in einer Lebenssituation, die für mich persönlich ähnliche dramatische Ausmaße hatte wie die Krise, die wir derzeit erleben. Daraus ergibt sich für mich heute der Vorteil: die jetzige Krise tut mir nicht mehr weh. Ich kann zuversichtlich auf sie schauen, weil ich so gut wie nichts mehr zu verlieren hab. Tränen sind diesbezüglich mehr als genug geweint. Panik, Angst, nicht zur Ruhe kommen, keinen Schlaf finden usw., das habe ich vor vier Jahren zur Genüge erlebt. Ich stand vor dem Aus und weiß, wie sich dies anfühlt.

Die Angst und Not vieler Menschen, die derzeit vom Schicksal auf Herz und Nieren geprüft werden, kann ich sehr gut nachvollziehen und verstehen. Ich fühle mit ihnen, weil ich nur zu gut weiß, was sie derzeit erleben. Ich weiß und kann es förmlich fühlen, durch welchen Schmerz diese Menschen gerade gehen. Welche Wüste sie gerade durchwandern. Durch welches tiefe Tal der Ohnmacht und Verzweiflung sie gehen. Und ich bin nicht die Einzige, die ein derartiges Schicksal namens Krise mit ihnen teilt. Ich habe viele kennengelernt, denen es ähnlich geht. Manche noch sehr jung an Jahren. Krise kennt weder Alter, noch sozialen Status, noch Geschlecht. Krise hat gänzlich anderes im Sinn. Krise will aufbrechen. Krise will demaskieren. Krise will wandeln. Krise will Erneuerung. Krise will, dass wir endlich die Komfortzone verlassen, in der wir es uns schon viel zu lange eingerichtet haben. Sie schickt uns zunächst auf einen mitunter sehr dramatischen, auf alle Fälle einen sehr unbequemen und harten Weg. Einen sehr steinigen Weg. Einen Weg, den so freiwillig keiner wählen würde. Und doch haben wir ihn zu gehen. Heute, vier Jahre nach meinem persönlichen Kollaps, kann ich sagen: Das Leben bricht uns auf, um unser falsches Denken und Handeln zu korrigieren. Wenn wir im Leben da angekommen sind, dass wir in uns über genügend Ressourcen verfügen, um mit krisenhaften Situationen bewusster umgehen zu können und aus ihnen bzw. unseren Fehlern zu lernen, dann will das Leben von uns, dass wir mehr an Verantwortung übernehmen, dass wir uns unseres Denkens und Handelns, ja selbst unseres Sprechens bewusster werden. Dann will das Leben von uns Entwicklung und Wachstum.

Doch Wachstum wohin? – Noch mehr Leistungs- und Profitdenken? – Noch mehr Wirtschaftskriminalität? – Noch mehr Kriege, persönliche Konflikte, Vorurteile? – Noch mehr Konsumdenken, Konkurrenzdenken, Vergleich, sozialer Neid? – Noch mehr Gier, Heuchelei und Selbstsucht? – Noch mehr Missbrauch und Gewalt? – Noch mehr Tierleid und Artensterben? – Noch mehr Umweltverschmutzung und Raubbau auf unserem Planeten? – Noch mehr debattieren, kritisieren, diskutieren, jammern und streiten? – Noch mehr Oberflächlichkeit? usw. – Ergibt das hier alles denn überhaupt noch einen Sinn? – Heißt das hier wirklich Entwicklung und Fortschritt? Welche Art von Mensch muss hier geboren werden, die ein solches Leben noch lebens- und liebenswert findet? – Will man deshalb den Menschen klonen, um noch mehr Macht über ihn zu haben? – Brauchen wir dafür die Impfpflicht? usw. – Können wir Menschen als soziale Wesen und hoch entwickelte Spezies noch länger so nach diesen Maximen unbewussten Handelns leben?

Wofür bricht uns die Krise auf? – Welche Rolle übernimmt der Virus dabei? – Er setzt unser Leben zurück, um uns absichtlich zu stoppen, damit wir alle miteinander gefordert sind, innezuhalten und uns anzusehen, was wir da tagein, tagaus erschaffen. – Er will, dass wir uns bewusst machen, wie bewusst bzw. wie unbewusst wir unser Leben leben. – Lässt sich ein derartiges Leben denn überhaupt noch Leben nennen, oder haben wir uns alle nur noch im Betriebsmodus des bloßen Funktionierens verloren? Was will Leben wirklich? – Was gehört zu einem wirklich guten Leben dazu? – Ist der Virus eine Einladung im Sinne von: Back to the roots? – An welcher Stelle in unserem Leben haben wir aufs falsche Pferd gesetzt? – Wo sind wir falsch abgebogen? – Wo haben wir angefangen, die ungesunden Entscheidungen zu treffen? – Mit diesen und noch so manch anderen Fragen wurde ich bereits 2016 konfrontiert. Seitdem lerne ich für mich jeden Tag dazu, um besser zu verstehen, was Leben wirklich von mir will. Auf meine Art und auf der Grundlage meiner Herausforderungen habe ich nach Antworten gesucht. Das, was ich für mich dabei erfahren konnte, teile ich mit Ihnen in diesem Buch. Vielleicht kann es Ihnen auf Ihrem Weg dienen. Vielleicht unterstützt es Sie. Vielleicht können Sie – an meinem Beispiel lernend – für sich eine Abkürzung nehmen und müssen nicht so lange wie ich in einem Zustand von Desorientierung, Angst, tiefer Verzweiflung und Verunsicherung bleiben. – Ich wünsche es Ihnen!

Herz und Hirn – Wir brauchen beides

Was hatte ich bei alledem als Allererstes zu lernen? Ich musste raus aus der Vorherrschaft meines Kopfes. Mein Leben lang wollte ich Leben mit dem Verstand erfassen und begreifen, weil ich mich nur so sicher fühlte. Wollte ausprobieren, wie weit ich gehen kann. Grenzen ausloten. Das ist für einen neugierigen Menschen wie mich ganz schön. Doch Leben überwiegend nur noch so zu leben macht nicht glücklich. Mein Leben entsprach immer mehr nur noch dem Schein, weniger einem Sein. Doch es geht weder um den Schein, noch um den Mammon Geld. – Heute bin ich davon überzeugt, dass es im wahren Leben ums Sein geht. Ich sollte lernen, mich von Herzen her wieder auf das bloße Sein einzulassen, um mich wieder wie ein Kind am Leben zu freuen. – Nicht weniger. Nicht mehr.

Ich hatte zu lernen, meine Aufmerksamkeit wieder mehr zurück ins Herz zu bringen. Sollte lernen, dass sich ein Leben, das überwiegend nur noch aus dem Verstand heraus geschieht, auf Dauer nicht wirklich gut anfühlt und einen wahrhaft leben lässt, denn das Gehirn ist vergleichbar mit einer Maschine. – Der Nachteil: Es funktioniert nur, es kann nicht fühlen. Doch was das Leben von uns will, ist auch das Fühlen. Fühlen können nur Körper und Herz. – Herz und Hirn. – Wir brauchen beides. – Es kommt auf die Balance, die Ausgewogenheit, die Kohärenz zwischen beidem an. Durch die verschiedensten Ereignisse der letzten Jahre war ich eindeutig immer mehr aus dem Herz-Bewusstsein herausgefallen und versuchte mir daraufhin meine Welt nur noch mit dem Geiste irgendwie passend oder gar schön zu reden. Das funktionierte eine Zeitlang ganz gut. Doch heute weiß ich: Der Mensch brennt nach und nach dabei aus, denn da ist keine Nahrung, die ihn nährt. Da gibt es keine Berührung von Herz zu Herz. Nur noch ein bloßes Funktionieren, solange das Herz bereit ist zu schlagen und in den Diensten des Menschen seine Arbeit zu tun. Aber so wie bei einer batteriebetriebenen Maschine die Batterie irgendwann zur Neige geht, so verliert nach und nach auch die Flamme des Lebens immer mehr und mehr an Energie.

Im Mittelpunkt unseres Körpers ruht unser wichtigstes Organ. Das Herz. Heute bin ich davon überzeugt, dass das nicht nur anatomisch gesehen von Bedeutung ist. Unser ganzes Leben sollte sich mehr um diese Mitte drehen. Sie will umsorgt, genährt und gepflegt sein. Denn in dieser Mitte ruht unser wahres Sein. Mit dem ersten Herzschlag beginnt unser Leben und mit dem letzten hört es auf. Leider haben wir als Mensch des Industriezeitalters das ursprüngliche Wissen um die Bedeutung unserer Mitte immer mehr verloren. Und leider wird dieses Wissen – aus welchen Gründen auch immer – weder an Schulen, noch an den Universitäten gelehrt. Ist es, weil man den Menschen dann leichter manipulieren kann, wenn er um die Geheimnisse von Herz- und Gehirn-Kohärenz nicht weiß? – Wird uns dieses Wissen bewusst vorenthalten, weil es bestimmten Industriezweigen und einigen nach Macht strebenden Menschen nicht zuträglich ist, wenn der Mensch um sein Schöpferpotential und seine Selbstheilungskräfte weiß? – Wissen, das so kostbar ist und dabei so wenig kostet, wurde es uns doch vom Schöpfer gratis mitgegeben.

In den letzten Jahren war es meine Aufgabe, mich vertraut zu machen mit dem Wissen um diese Gehirn- und Herz-Kohärenz, damit ich lernen konnte, Körper, Herz und Geist wieder besser miteinander in Einklang zu bringen, um das Schiff meines Lebens wieder steuern zu können. – Nach und nach wurde mir bewusst, dass ich über Jahrzehnte hinweg mit jedem schmerzhaften Ereignis, mit jeder Verletzung, mit jeder negativen Situation bewusst wie unbewusst Mauern um mein Herz aufgebaut hatte, um mich vor weiteren Verletzungen zu schützen. Diese Mauern galt es jetzt anzusehen, wieder einzureißen und stattdessen mit den Menschen und mit mir selbst nach und nach wieder ins Vertrauen zu gehen. Meine Aufgabe war es dabei, alte Traumata, Schmerz und Erinnerungen an die Vergangenheit immer mehr hinter mir zu lassen. Gefühle und Emotionen nicht länger zu verdrängen, sondern bewusst durch sie hindurch zu gehen. Meinen Körper, meinen Geist, mein Nervensystem wieder in die Ruhe zu bringen. Gelassener zu werden, besser für mich zu sorgen, sowohl für meine körperliche als auch seelische Gesundheit. Und mich von all den äußeren Reizen und Überstimulationen fern zu halten, die meiner Gesundheit nicht zuträglich waren. Ich lernte, besser auf meine Gesundheit zu achten, mitfühlender, wertschätzender und liebevoller mit mir selbst umzugehen. Mir trotz meiner hohen Empathie-Fähigkeit und Hochsensibilität, um die ich bis dato gar nicht wusste, meiner inneren Stärke bewusst zu werden. Insgesamt gelassener zu reagieren und mich selbst weniger wichtig zu nehmen. Lernte, mich dem Leben wieder zu öffnen und das Schöne darin zu sehen. Lernte mich selbst besser kennen, überhaupt mal meine Bedürfnisse wahrzunehmen, um künftig besser für mich einzustehen. Fand wieder zu Gott zurück und erkannte dabei, dass es für mich extrem wichtig war, dass sich das Gottesbild meiner Kindertage endlich wandeln konnte von einem Gott, den ich mir als Kind immer als einen strafenden Gott vorgestellt hatte, weil ich es so gelernt hatte, hin zu einem bedingungslos liebenden Gott.

Ich will und kann nicht leugnen, dass Krisen äußerst unangenehm sind, doch auf lange Sicht haben sie etwas Gutes, vorausgesetzt wir sind bereit, aus ihnen zu lernen. Tun wir dies, bringen sie uns in unserer persönlichen Entwicklung voran und helfen uns zu erkennen, welche Kräfte in uns ruhen, um die wir sonst gar nicht wüssten. Wir lernen wieder an uns zu glauben und neue Fähigkeiten, neues Potential in uns zu sehen und können somit wieder kraftvoll aus besagter Krise gehen. Doch damit etwas Neues beginnen kann, muss das Alte ausnahmslos gehen, sonst bleiben wir ewig in alten Mustern und Gewohnheiten verhaftet, denn der Mensch ist ein Gewohnheitstier, das seine Komfortzone über alles liebt. Wir kommen definitiv nicht weiter, wenn uns alte Gewohnheiten und Beziehungen immer und immer wieder zurückziehen. Ich habe es versucht, alte Beziehungen aufrecht zu erhalten, doch es geht nicht: Was vorbei ist, ist vorbei, selbst wenn es noch so schmerzhaft ist. Um für sich selbst voranzukommen und sich nicht stets nur im Kreis zu drehen, müssen wir uns selbst so sehr lieben, dass wir uns aus der Abhängigkeit von anderen befreien. Damit etwas Neues geschieht, bricht uns die Krise auf. Dies geschieht mehr oder weniger unbewusst, nämlich dann, wenn der Mensch „reif“ dafür ist. Unsere Seele übernimmt dabei die Regie, denn sie weiß um die beste Zeit und kennt den Weg. Wäre für uns keine Entwicklung vorgesehen, müsste es weder Veränderungsprozesse, noch Krise geben. Die Krise geschieht, weil wir dem materiellen Bewusstsein mehr Raum und Zeit gegeben haben als dem Seelen- und Herz-Bewusstsein.

Heute will meine Seele von mir, dass ich ihr regelmäßig Raum und Zeit zugestehe. Und je mehr ich dies tue, umso besser gelingt mir mein Leben wieder. Von daher wage ich immer mehr den Versuch, mein ganzes Leben mehr aus der Seelen-Perspektive heraus zu sehen. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich an den verschiedensten Stellen im Buch immer wieder auf die Seele zu sprechen komme und dabei vielleicht für Sie ganz ungewohnte Schritte gehe. Dass das so sein wird, hat mich beim Schreiben zunächst selbst auch etwas überrascht, doch insgesamt war es sehr erhellend und wichtig für mich, diesen anderen Blickwinkel immer mehr einzunehmen. Schließlich sprechen wir beim Konzept für Heilung ja auch von der Einheit von Körper, Geist und Seele.

„Die Kunst der Menschwerdung besteht darin,

die Wunden in Perlen zu verwandeln.“

Hildegard von Bingen

Meine Seele will endlich fliegen

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