Читать книгу Das Vermächtnis des Raben - Hildegard Burri-Bayer - Страница 10

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Die Polizisten sahen sich erstaunt an. Die Sprache, die das Mädchen sprach, war ihnen fremd. Sie sah merkwürdig aus in ihrem selbst gewebten Rock und wirkte mehr verstört als kriminell. Trotzdem stimmte etwas nicht mit dem Mädchen, und Ron McLeod beschloss, der Sache nachzugehen. Er besaß ein feines Gespür dafür, wenn es etwas aufzuklären gab, und sein Gefühl hatte ihn bisher noch nie getäuscht.

»Wir werden sie mit zur Wache nehmen und dort vernehmen«, sagte er zu seinem Kollegen gewandt. Widerstandslos ließ Aila sich von den beiden Polizisten fortführen. Sie spürte, dass sie keine Wahl hatte. Die vielen neuen Eindrücke und die Ungewissheit darüber, was mit ihr geschehen würde, waren einfach zu viel. In diesem Moment war sie beinahe erleichtert darüber, dass jemand anderer eine Entscheidung für sie traf.

Die beiden Männer brachten sie zu einem Wagen und öffneten die Tür. Mit einer Handbewegung forderte Ron McLeod sie auf, in den Wagen zu steigen. Als sie zögerte, drückte der andere Polizist mit sanfter Gewalt ihren Kopf nach unten, damit sie sich nicht stoßen konnte, und schob sie energisch ins Innere des Wagens. Dann ließ er sich neben ihr auf dem Sitz nieder, während Ron McLeod vorne Platz nahm.

Der Motor heulte auf, und Aila wurde ganz flau im Bauch, als der Wagen sich summend in Bewegung setzte. Ängstlich sah sie aus dem Fenster. Sie hatte das Gefühl, zu schweben. Menschen und Häuser zogen so schnell an ihr vorbei, dass sie kaum etwas von ihnen erkennen konnte. Es war unerträglich eng in dem Auto, und sie fürchtete, keine Luft mehr zu bekommen. Es schien für die Menschen hier normal zu sein, sich in diesen engen Wagen zu setzen, doch sie war noch nie so eingesperrt gewesen, und das Gefühl erdrückte sie beinahe. Als sie glaubte, die Enge nicht länger ertragen zu können, hielt der Wagen an und der jüngere Polizist öffnete die Tür. Erleichtert stieg Aila aus.

Die beiden Polizisten nahmen sie in die Mitte und führten sie auf ein Haus zu. Ron McLeod berührte ein kleines Ding neben der Tür, worauf eine Frauenstimme erklang. Aila sah sich suchend um. Woher war die Stimme gekommen? Es war niemand zu sehen. Doch sie kam nicht weiter zum Nachdenken. Mit einem Summen sprang die Tür auf, und sie wurde ins Innere des Hauses geführt. Ron McLeod brachte sie in einen Raum, in dem ein großer Tisch und einige Stühle standen, und forderte sie auf, sich zu setzen. Er selbst nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz, auf dem ein flaches Brett lag. Seine Finger spielten eine Weile auf dem Brett herum, bevor er sie unvermittelt ansah.

»Sprichst du englisch?«, fragte er. Aila sah ihn fragend an.

Der Mann vor ihr wies mit dem Finger auf seine Brust. »Ron McLeod« sagte er. Aila verstand was er meinte. »Ich bin Aila, die Tochter von Calach«, erwiderte sie stolz. Der Mann vor ihr griff nach einem merkwürdigen schwarzen Ding und hielt es sich ans Ohr. Dann begann er mit dem Ding zu sprechen. Es sah so komisch aus, dass Aila trotz ihrer Verzweiflung zu lachen begann. Sie lachte, bis ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.

Ron McLeod starrte sie verblüfft an. Er legte das Telefon zurück auf den Tisch und musterte sie abschätzend. Ob das Mädchen Drogen genommen hatte? Ihre Pupillen sahen normal aus, und ihre schönen Augen waren klar, wie er nach einem raschen Blick feststellte. Vielleicht war sie verrückt, oder war es möglich, dass sie sich lustig über ihn machte? Er kam zu dem Schluss, dass sein Gefühl ihn nicht getäuscht hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Mädchen, obwohl sie harmlos wirkte.

Er hatte schon viele Touristen gesehen, aber diese hier benahm sich mehr als seltsam. Es lag nicht nur an ihrer Sprache oder der grob gewebten Kleidung. Ihm war nicht entgangen, wie sie mit weit aufgerissenen Augen die Dinge um sich herum ansah. Sie betrachtete sie nicht einfach nur, sondern staunte sie an wie ein Kind.

Gewohnheitsmäßig nahm er jedes Detail in sich auf, um es anschließend wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Das Mädchen war zweifelsohne eine Schönheit, und sie besaß eine faszinierende Ausstrahlung. Ihr schmales Gesicht mit den feinen Gesichtszügen wurde von den großen Augen beherrscht, in denen sich ihre Gefühle widerspiegelten. Während er sie noch beobachtete und überlegte, was ihre Faszination ausmachte, betrat eine seiner Kolleginnen den Raum.

Mit einer Handbewegung gab er ihr zu verstehen, dass sie mit der Untersuchung noch warten solle. Sie setzte sich auf den Stuhl neben Aila und unterhielt sich mit Ron McLeod. Aila kümmerte sich nicht um die beiden, obwohl sie spürte, dass sich das Gespräch um ihre Person drehte. Sie sah sich weiter in dem Raum um, in dem sich so viele seltsame Dinge befanden.

Die Wände waren weiß und glatt. In der Mitte der ihr gegenüberliegenden Wand, hingen Bilder von Menschen, die Aila an die Fotos erinnerten, die Miriam von ihr und ihrem Vater gemacht hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Fasziniert betrachtete sie die Bilder. Sie hätte sie gern berührt, wagte aber nicht aufzustehen.

Es war dämmrig geworden in dem Zimmer, und Ron McLeod stand auf, um das Licht einzuschalten. Erschrocken starrte das Mädchen auf die Lampe über ihr, die plötzlich wie die Sonne erstrahlte. Sie war ganz blass geworden vor Schreck und schloss geblendet die Augen. Der Polizist warf seiner Kollegin einen Blick zu, den sie mit einem Achselzucken erwiderte.

»Es ist kaum zu glauben. Hast du ihre Reaktion gesehen, als ich das Licht eingeschaltet habe?«, fragte er. »Als ob sie noch nie elektrisches Licht gesehen hat. Ich bin wirklich gespannt darauf, was dahinter steckt.«

Aila hatte ihre Augen wieder geöffnet und starrte immer noch schockiert in die Lampe, die ihre Augen blendete. Ron McLeod beobachtete jede ihrer Bewegungen. Das Mädchen wurde ihm zunehmend rätselhafter. Er warf einen ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr. Wie lange dauerte es denn noch, bis der angeforderte Dolmetscher eintraf? Er war seit dem frühen Morgen auf den Beinen und die Geschichte hier sah ganz nach Überstunden aus. Seine Frau würde ärgerlich sein, wenn er schon wieder zu spät zum Essen käme und er konnte es ihr nicht einmal verübeln.

Endlich wurde die Tür geöffnet, und sein alter Freund Professor Williams betrat das Zimmer. Er reichte Ron McLeod und seiner Kollegin die Hand und begrüßte sie höflich, bevor er auf einem der freien Stühle Platz nahm. Er war Sprachwissenschaftler, sprach sieben Sprachen fließend und konnte darüber hinaus noch weitere Sprachen zumindest verstehen.

Freundlich wandte er sich an Aila und reichte ihr die Hand, die sie nach einigem Zögern nahm. Die Menschen hier hatten wirklich seltsame Sitten. »Mein Name ist Steven Williams, und ich möchte Ihnen gern bei der Verständigung mit den Polizeibeamten behilflich sein.«

Aila sah ihn an. Der alte Mann vor ihr strahlte Weisheit und die Anteilnahme aus, die sie bei den Menschen, die ihr bisher begegnet waren, so sehr vermisst hatte.

»Latha math. Tha an t-ainm Aila orm, tha mi toilichte dh' fhaicinn. Guten Tag, ich bin Aila, es freut mich, dich zu sehen«, erwiderte sie und lächelte den alten Mann dankbar für seine Freundlichkeit an.

Steven Williams beugte sich aufgeregt nach vorn. Damit hatte er nicht gerechnet. Das Mädchen vor ihm antwortete ihm auf Gälisch, als wäre es ihre Muttersprache, allerdings mit einer seltsamen Betonung der Vokale. Es gab nur noch wenige Menschen in Schottland, die diese alte Sprache fließend sprachen, und er war einer von ihnen. »Die Herren hier möchten gern deinen vollständigen Namen und deine Adresse von dir wissen.«

»Ich bin Aila, und mein Vater ist Calach, der Feldherr und Vergobretos«, wiederholte das Mädchen ungerührt. »Ich war mit meinem Hund im Wald und muss mich wohl verlaufen haben, obwohl ich jeden Weg in unserem Wald kenne. Ich bin tagelang gewandert, bis ich euer Dorf erreicht habe. Kannst du mir helfen, zurückzufinden? Mir gefällt es hier nicht, die Menschen sind unhöflich und unfreundlich.« Hoffnungsvoll sah sie ihn aus ihren schönen grauen Augen an.

Steven Williams brauchte einen Moment, um das gerade Gehörte zu verdauen. Das Mädchen neben ihm wirkte nicht wie eine Verrückte, sondern eher ein wenig verwirrt.

»Das ist wirklich seltsam«, sagte er zu Ron McLeod, ohne den Blick von dem Mädchen zu nehmen. »Sie behauptet, dass sie die Tochter von einem Feldherrn ist und sich verlaufen hat. Sein Name soll Calach sein; ich habe noch nie von ihm gehört.«

»Bitte fragen sie, ob sie Papiere bei sich hat«, forderte der Polizist ihn auf.

Steven Williams wandte sich wieder an Aila. »Haben Sie einen Ausweis bei sich?«, kam er der Aufforderung nach. Das Mädchen schüttelte verständnislos den Kopf. »Was ist ein Ausweis?«, fragte sie zurück. Professor Williams griff nach seiner Brieftasche und nahm seinen Ausweis heraus. Er klappte ihn auf und hielt ihn dem Mädchen hin.

Aila zuckte die Achseln und gähnte ungeniert.

»Ich fürchte, wenn Sie sich nicht ausweisen können, wird man Sie hier behalten«, gab er zu bedenken. Das junge Mädchen tat ihm Leid, aber sie hatte auch sein Interesse geweckt. »Welche Sprachen sprechen Sie noch außer Gälisch?«, fragte er neugierig. Seine hellen Augen blinzelten vor Vergnügen.

»Ich kenne nur diese Sprache. In unserem Dorf sprechen alle Leute so wie ich. Nur die Händler kennen die Sprache der Römer und die der anderen Völker in unserem Land. Ich habe unser Dorf noch nie verlassen.«

»Wie heißt denn das Dorf, in dem du lebst?«, versuchte es der Professor weiter.

»Es hat keinen Namen.« Das Mädchen lächelte ihn so freundlich an, dass ihm ganz warm ums Herz wurde.

»Was hat sie denn verbrochen, dass ihr sie auf die Wache gebracht hat?«, wollte er von seinem alten Freund Ron McLeod wissen.

»Sie hat auf dem Marktplatz etwas zu essen bestellt und ist aufgestanden, ohne ihre Rechnung zu bezahlen. Was sagt sie denn, wo sie herkommt?«, fragte er zurück. Steven Williams lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ein feines Lächeln glitt über sein Gesicht. »Du wirst es nicht glauben, aber sie kommt aus einem Dorf ohne Namen und spricht nur Gälisch. Entweder ist sie eine besonders raffinierte Betrügerin, oder wir sind da auf etwas gestoßen, was spannend zu werden verspricht. Was wirst du jetzt mit ihr anfangen?«

Ron McLeod zuckte die Achseln. »Es ist schon spät. Ich habe keine andere Wahl, als sie erst einmal hier zu behalten. Morgen werden wir weitersehen.« Er nickte seiner Kollegin zu. »Du kannst sie jetzt untersuchen und in die Zelle bringen. Wir sehen uns morgen.« Er nickte ihr noch einmal zu und erhob sich. »Vielen Dank für deine Hilfe«, sagte er zu Professor Williams gewandt. »Es kann sein, dass ich dich morgen noch einmal bitten muss, zu kommen.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein; ich bin wirklich außerordentlich gespannt darauf, was eure Untersuchungen ergeben werden.«

Die Polizistin forderte Aila auf, mitzukommen, und führte sie einen langen schmalen Gang hinunter. Sie öffnete eine Türe und bedeutete dem Mädchen einzutreten. Der Raum war klein und eng und besaß nur eine kleine Öffnung in der Tür.

»Zieh dich aus«, verlangte die Polizistin energisch und unterstrich ihren Befehl mit einer unmissverständlichen Bewegung ihrer Hand.

Aila sah sie schockiert an und schüttelte den Kopf. »Ich werde mein Gewand nicht ausziehen«, sagte sie leise aber bestimmt.

»Wie du willst, dann hole ich eben Verstärkung.« Die Polizistin verließ mit großen Schritten den Raum und schloss die schwere Türe hinter sich. Aila war allein. In dem engen Raum befand sich nur eine schmale Schlafstätte, auf der eine dünne Decke lag. Links neben der Türe war ein merkwürdiger Hocker mit einem Loch in der Mitte.

Aila lief zur Tür und versuchte vergeblich, sie zu öffnen. Sie hatte nicht vor, länger hier zu bleiben. Ihre Gedanken überschlugen sich, und die Enge in dem weißen Raum war unerträglich. Sie hörte ihr Herz laut und dumpf pochen. In diesem Moment kam die Polizeibeamtin mit einer Kollegin zurück.

»Wirst du dich jetzt ausziehen oder müssen wir dich zwingen?«, fragte sie mit harter Stimme.

Aila sah ihr direkt in die Augen. Sie spürte, dass die Frau ihre Unsicherheit hinter der Härte verbarg und verschränkte die Hände vor ihrer Brust.

Die beiden Beamtinnen tauschten einen raschen Blick aus. Es war nicht das erste Mal, dass eine Frau sich weigerte, ihre Kleider abzulegen und sich untersuchen zu lassen. Doch die Untersuchung war nun einmal Vorschrift. Während eine der Frauen blitzschnell Ailas Arme packte und nach hinten drehte, begann die andere, ihr den Rock abzustreifen.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis Aila nackt vor ihnen stand. Dann wurde sie nach eventuellen Waffen oder Drogen untersucht und bekam ihre Kleider zurück.

Die beiden Frauen verließen den Raum und schlossen die Türe hinter sich.

Verzweifelt ließ Aila sich auf die Bettstelle fallen und schloss die Augen. Sie versuchte ihre Gedanken auf Mog Ruith zu konzentrieren, doch sie war so müde, dass sie wenige Minuten später in einen tiefen, traumlosen Schlaf sank. Sie bemerkte nicht einmal, dass die Klappe in der Tür mehrmals in der Nacht geöffnet wurde und der diensthabende Beamte, ein noch junger Polizist, sich davon überzeugte, dass mit ihr alles in Ordnung war.

Der Morgen dämmerte langsam herauf, als er seinen letzten Rundgang antrat. Er öffnete die Klappe und wollte seinen Augen nicht trauen: Das Mädchen stand mit weit geöffneten Augen und erhobenen Armen in der Mitte des engen Raumes und sah aus, als befände sie sich in Trance. Ein kleiner Rabe saß neben ihr auf dem Boden. Sein linker Flügel hing kraftlos herunter, als wäre er gebrochen. Fassungslos starrte der Beamte auf den Raben. Das konnte doch nicht wahr sein! Seine Augen mussten ihm einen Streich spielen. Das konnte er niemandem erzählen; er hätte es ja selbst nicht geglaubt.

Er schlug die Klappe wieder zu und rieb sich mehrmals über die Augen, bevor er sie erneut öffnete. Der Rabe war aber nicht verschwunden, wie er es insgeheim gehofft hatte. Wie war der Vogel in die Zelle gekommen? Er saß immer noch auf dem Boden und schien ihn genauso wenig zu bemerken wie das Mädchen. Die Szene war wirklich mehr als unheimlich.

Unsicher strich der junge Beamte sich über die Stirn. In einer halben Stunde war seine Nachtschicht beendet, doch der Gedanke an den Raben ließ ihm keine Ruhe. Vorsichtig öffnete er noch einmal die Klappe. Der Rabe war nicht mehr da, und das Mädchen lag mit geschlossenen Augen auf dem schmalen Bett und schlief. Er schloss die Klappe und öffnete so leise wie möglich die schwere Stahltüre. Suchend sah er sich in dem kahlen Raum um, doch der Vogel blieb verschwunden. Ob er geträumt hatte? Ja, so musste es gewesen sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. Nicht einmal einer Maus würde es gelingen, sich in eine der Zellen einzuschleichen.

Er beschloss niemandem etwas von dem Vorfall zu erzählen, um sich nicht den Spott seiner Kollegen zuzuziehen. Zerstreut trank er den Rest Tee, der sich noch in seiner Thermoskanne befand, und begab sich anschließend in sein Dienstzimmer, um die Übergabe an seinen Kollegen vorzubereiten.

Das Vermächtnis des Raben

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