Читать книгу Das Vermächtnis des Raben - Hildegard Burri-Bayer - Страница 14
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ОглавлениеMrs. MacLish lief, so schnell sie konnte, nach Hause und wählte Professor Williams Telefonnummer, noch bevor sie ihren Mantel abgelegt hatte. Doch zu ihrer Enttäuschung meldete sich niemand. Sie nahm ihr Telefonbuch aus der Schublade und suchte die Adresse von Professor Williams heraus. Dann bestellte sie sich ein Taxi und wartete ungeduldig auf sein Eintreffen.
Endlich fuhr der Wagen vor. Nachdem sie dem Fahrer die Adresse des Professors genannt hatte, lehnte sie sich zufrieden in ihrem Sitz zurück. Sie war gespannt auf das, was sie erwartete. Fünfzehn Minuten später hielt das Taxi vor einem gepflegten, weiß gestrichenen Haus. Mrs. MacLish bezahlte den Taxifahrer und stieg mit klopfendem Herzen aus dem Wagen.
Erst nachdem sie das dritte Mal geklingelt hatte, wurde die Tür geöffnet. Überrascht sah Professor Williams auf die kleine Mrs. MacLish hinunter, die er um anderthalb Köpfe überragte.
»Was verschafft mir denn die Ehre Ihres Besuches«?, fragte er neugierig.
»Bitte entschuldigen Sie mein überfallartiges Erscheinen. Ich habe mehrmals versucht, Sie anzurufen, bevor ich mir erlaubt habe, ohne Anmeldung bei Ihnen aufzutauchen. Ich hoffe, ich komme nicht gänzlich ungelegen?«
Professor Williams zögerte einen Moment. »Es passt mir heute tatsächlich nicht sehr gut. Ich habe Besuch und bin nicht ans Telefon gegangen, weil es ständig klingelt und ich mich ganz meinem Besuch widmen möchte«, wich er aus.
»Genau deswegen bin ich hier. Ich würde Ihren Besuch sehr gern kennen lernen, weil ich die Vermutung habe, dass sie die Tochter einer ehemaligen Schülerin von mir sein könnte.«
Professor Williams trat höflich zur Seite.
»Wenn das so ist, dann treten Sie doch bitte ein.« Er half ihr aus dem Mantel und nahm ihr den Regenschirm ab. »Kommen Sie mit in die Küche, wir sind gerade fertig mit unserem Frühstück.«
Mrs. MacLish kam seiner Aufforderung nur zu gern nach. Erwartungsvoll betrat sie die gemütliche Küche des Professors und blickte forschend in das Gesicht des Mädchens, das irgendwie hilflos wirkte. Abgesehen von der Nase und der Augenfarbe war sie das genaue Abbild von Miriam, wie Mrs. MacLish fasziniert feststellte.
»Bitte setzen Sie sich. Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«
»Gern, ich bin heute Morgen noch gar nicht dazu gekommen.«
Professor Williams rückte ihr höflich den Stuhl zurecht. Dann stellte er eine weitere Tasse auf den Tisch und schenkte der alten Dame von dem Tee ein. »Möchtest du auch noch einen«?, wandte er sich in Gälisch an das Mädchen. Sie schüttelte verneinend den Kopf. Mrs. MacLish nahm einen Schluck von dem heißen Tee und sah Aila freundlich an. »Ich bin Mrs. MacLish und zu dir gekommen, um dich etwas zu fragen«, begann sie in Gälisch.
Professor Williams sah sie erstaunt an. Er hatte ganz vergessen, dass sie ebenfalls der aussterbenden Sprache mächtig war. Immerhin hatte sie jahrelang versucht, diese ihren Schülern beizubringen.
Aila sah sie traurig an, sagte aber nichts.
»Ist der Name deiner Mutter Miriam?« Mrs. MacLishs Stimme klang aufgeregt. Gleich würde sie wissen, ob sie mit ihrer Vermutung Recht hatte.
Aila wirkte nicht mehr ganz so traurig, als sie zustimmend nickte. »Kennst du meine Mutter?«, fragte sie zurück. Hoffnungsvoll sah sie die alte Dame an.
»Ja, mein Kind. Ich kenne deine Mutter, seit sie ein kleines Mädchen war.« Mrs. MacLish wandte sich an den Professor, der das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte.
»Ich hatte Recht«, bemerkte sie zufrieden. »Bereiten Sie sich schon einmal auf eine unglaubliche, fantastisch klingende Geschichte vor. Doch bevor wir weiterreden, hätte ich noch eine Frage an Sie: Glauben Sie, dass Zeitreisen möglich sind?«
Professor Williams wurde es mulmig in der Magengegend, als Mrs. MacLish trocken aussprach, was er nicht einmal gewagt hatte weiterzudenken.
»Wenn Sie meine Meinung hören möchten, kann ich Ihnen versichern, dass Zeitreisen wissenschaftlich gesehen nicht möglich sind und es auch niemals sein werden.« Er holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Seit der Unterredung, die ich gestern Abend mit Aila hatte, habe ich allerdings über dieses Thema nachdenken müssen. Ich habe in meinen Büchern nachgesehen und den Namen ihres angeblichen Vaters gefunden. Calach war tatsächlich ein Feldherr und auch Vergobretos, wie Aila behauptet hat. So weit stimmt ihre Aussage mit meinen Büchern überein. Es gibt da nur ein winziges Problem. Calach hat im ersten Jahrhundert nach Christus gelebt, und das ist bekanntlich zweitausend Jahre her. Mein Verstand weigert sich, überhaupt weiter darüber nachzudenken. Und Sie wollen mir doch sicher nicht weismachen, dass das Mädchen aus dem ersten Jahrhundert nach Christus stammt?«
Sie sprachen jetzt englisch. Aila sah von einem zum anderen. Eine vage Hoffnung erfüllte sie. Wenn die alte Frau neben ihr ihre Mutter kannte, würde sie ihr ganz sicher helfen können, wieder nach Hause zu kommen.
»Ich hoffe, Sie haben genügend Zeit, denn ich werde Ihnen jetzt erzählen, was ich über die Mutter und auch über die Großmutter des Mädchens weiß, die ebenfalls eine Schülerin von mir gewesen ist.«
Und Mrs. MacLish erzählte dem erstaunten Professor, wie Helen McCarthy bei dem Schülerausflug verschwunden und erst Jahre später wieder aufgetaucht war. Sie erzählte ihm von dem Besuch Miriams in ihrer alten Schule und dem letzten Gespräch, das sie mit ihr geführt hatte. Dann berichtete sie über den Brief, den sie von Malcolm erhalten hatte, und dass er gemeinsam mit Miriam und Willie in der Vergangenheit gewesen sein wollte.
Professor Williams kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Als Mrs. MacLish fertig war, betrachtete er sie kopfschüttelnd. Was er gerade gehört hatte war so fantastisch, dass es ihm rundweg die Sprache verschlug.
Eine Weile saßen sie schweigend am Tisch. Mrs. MacLish ergriff als Erste das Wort.
»Wir müssen Aila helfen, in ihre Zeit zurückzukehren, ohne dass sie noch mehr Aufsehen erregt, als sie es schon getan hat. Wenn ich daran denke, wie die Presse uns damals belagert hat, als Helen verschwunden war, dann würde ich ihr das gern ersparen.«
»Sie hegen also nicht den geringsten Zweifel daran, dass Aila tatsächlich aus der Vergangenheit stammt?« Professor Williams war nicht bereit, dies ohne weitere Nachforschungen zu akzeptieren. Er wandte sich an Aila. »Erzähl uns von dem Leben in deinem Dorf.« Aila kam seiner Aufforderung nach und erzählte von den Menschen, mit denen sie lebte. Professor Williams unterbrach sie immer wieder mit neuen Fragen. Er wollte alles ganz genau wissen, um sich ein Bild von ihrem Leben machen zu können.
»Du hast mir erzählt, dass du von einem dichten Nebel geträumt hast. Was war das für ein Nebel? Glaubst du, dass er für deine Reise durch die Zeit verantwortlich ist?«
Aila sah ihn verständnislos an. »Ich bin eingeschlafen und habe geträumt. Ich habe keine Reise gemacht.«
Mrs. MacLish strich ihr beruhigend über den Arm. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um dir zu helfen. Professor Williams und mir fällt es genauso schwer wie dir, zu verstehen, was da geschehen ist. Es muss einen Grund dafür geben. Deine Mutter hat einmal etwas gesagt, über das ich damals sehr lange nachgedacht habe: ›Wir können dem Schicksal nicht entkommen, es nicht lenken wie einen Wagen. Wir können es genauso wenig beeinflussen wie den Lauf der Sonne, oder den Willen der Götter. Die ewige Folge der Zeiten ist unabänderlich.‹ Sie hatte diese Worte von einem Druiden, und sie haben ihr Trost in ihrer Verzweiflung gebracht. Ich bin sicher, dass es einen Grund dafür gibt, warum du hier bist, auch wenn wir ihn jetzt noch nicht kennen. Du befindest dich in einer Zeit, die dir fremd ist. Ich werde dir helfen, sie zu begreifen, bis du einen Weg gefunden hast, nach Hause zurückzukehren.«
Wieder begann das Telefon zu klingeln. Professor Williams entschuldigte sich für einen Moment und stand auf. Was er gehört hatte, war einfach zu viel für ihn, und er war beinahe erleichtert über die kleine Unterbrechung. Er atmete dreimal tief durch, bevor er den Hörer abnahm.
»Guten Morgen, Herr Professor, ich hoffe es geht Ihnen gut? Ich wollte nur mal hören, ob es etwas Neues über die Kleine gibt«, ertönte Walter Scotts Stimme an seinem Ohr. Er hätte wissen müssen, dass der Journalist keine Ruhe geben würde.
»Wie bitte? Die Kleine? Ach so, Sie meinen Aila, nein, da muss ich sie enttäuschen. Wir haben nichts Neues erfahren«, versuchte er den Reporter abzuwimmeln. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, die Geschichte hat mich eine Menge Zeit gekostet, und ich muss mich dringend wieder meinen Studien zuwenden. Schönen Tag noch.« Er legte den Hörer zurück auf die Gabel und öffnete das Fenster. Er war ein Fehler gewesen, dem Journalisten Informationen über Aila zu geben, aber wie hätte er auch ahnen können, was er jetzt wusste oder zu wissen glaubte?
Er brauchte dringend frische Luft und Ruhe, um nachdenken zu können. Ein kleiner Spaziergang würde ihm sicher gut tun. Er nahm seinen Hut und seinen Mantel und verließ das Haus. Mrs. MacLish würde sich in der Zwischenzeit um Aila kümmern.
Walter Scott runzelte die Stirn und dachte über das kurze Telefonat mit dem Professor nach. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Warum war Professor Williams auf einmal so kurz angebunden? Er kam zu dem Schluss, dass man ihm etwas verheimlichen wollte und das konnte er auf keinen Fall hinnehmen. Es gab also ein Geheimnis um das Mädchen, und dem würde er schon noch auf die Spur kommen.
Er nahm die Fotos und die Unterlagen, die er über die Kleine gesammelt hatte und studierte sie erneut. Helen McCarthy war zu früh verstorben, um eine direkte Verbindung zu Aila zu haben, aber sie hatte eine Tochter gehabt. Es war also möglich, dass sie die Großmutter des Mädchens war. Er rief Alice zu sich und gab ihr den Auftrag, alle verfügbaren Informationen über Helens Tochter herauszufinden. Dann rief er Ron McLeod an, doch der war ebenso kurz angebunden wie der Professor. Er erfuhr nur, dass das Mädchen die Dienststelle verlassen hatte, aber wohin es gegangen war, wollte der Polizeibeamte ihm nicht sagen. Wir dürfen keine Auskünfte über Privatpersonen geben, so lauten nun einmal unsere Vorschriften.«
Doch Walter Scott dachte nicht daran aufzugeben. Bisher war es ihm jedenfalls immer gelungen, an die gewünschten Informationen zu gelangen, auch wenn er so manches Mal ungewöhnliche Wege dafür einschlagen musste. Wenn Helens Tochter die Mutter des Mädchens war, dann wäre es ein Kinderspiel, ihre Adresse herauszufinden, und er konnte der Kleinen einen Überraschungsbesuch abstatten. Zufrieden lehnte er sich in seinem Bürostuhl zurück und machte sich an die Arbeit.