Читать книгу Das Vermächtnis des Raben - Hildegard Burri-Bayer - Страница 15

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Nachdem Professor Williams die Küche verlassen hatte, saß Aila schweigend auf ihrem Stuhl. Mrs. MacLish beugte sich zu ihr herüber und legte ihr mitleidig einen Arm um die schmale Schulter.

»Wir werden schon einen Weg finden, auf dem du wieder nach Hause gelangst. Fürs Erste bist du hier in Sicherheit. Mach dir keine Sorgen, der Professor und ich werden uns um dich kümmern. Ich habe deine Mutter sehr gemocht, auch wenn ich die seltsamen Geschehnisse genauso wenig verstehen kann wie du.«

Aila sah die alte Dame dankbar an. »Du bist sehr freundlich, und dafür möchte ich dir danken.«

Mrs. MacLish stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Dann ließ sie Wasser in die Spüle ein, um das Geschirr zu spülen. Aila sah fasziniert zu, wie sich das Becken füllte. »Woher kommt das Wasser?«, fragte sie neugierig. Mrs. MacLish versuchte es ihr zu erklären.

»Warum reinigst du das Geschirr?«, fragte Aila weiter. »Hat der Professor keine Leibeigenen? Ich habe hier im Haus noch niemanden gesehen.«

»Leibeigene, wie du sie kennst, gibt es in unserer Zeit nicht mehr. Ich nehme aber an, dass Professor Williams eine Hilfe hat, die mehrmals in der Woche ins Haus kommt und die groben Arbeiten übernimmt. Seine Frau ist vor einigen Jahren verstorben«, gab Mrs. MacLish zur Antwort.

Als sie mit dem Geschirr fertig war, führte sie Aila in das Badezimmer des Professors. »Ich denke du hast dringend ein Bad nötig.« Sie ließ Wasser in die Wanne ein und gab etwas Badeschaum hinzu. Während sich die Wanne langsam füllte, hatte Aila den großen Spiegel entdeckt und betrachtete fasziniert ihr Gesicht darin. Es war etwas ganz anderes, als sich in der Wasseroberfläche eines Flusses zu sehen, die ständig in Bewegung war. Mrs. MacLish beobachtete sie lächelnd. Dann reichte sie Aila zwei Frotteetücher und das Haarshampoo und ließ sie allein.

Im Flur traf sie auf Professor Williams, der von seinem Spaziergang zurückgekehrt war. »Wir sollten Aila etwas Neues zum Anziehen kaufen, dann fällt sie weniger auf«, bemerkte Mrs. MacLish. »Vielleicht ist es das Beste, wenn ich sie mit zu mir nehme«, überlegte sie laut weiter. »Die Leute werden reden, wenn sie erfahren, dass sich ein so junges Mädchen in Ihrem Haus befindet. Sie könnten mich jederzeit besuchen, wenn Sie Aila sehen, oder mit ihr sprechen möchten.«

Professor Williams nickte erleichtert. Mrs. MacLish hatte Recht. Er hatte unüberlegt gehandelt, als er das Mädchen zu sich nach Hause eingeladen hatte, und dabei nur an seine Sprachforschungen gedacht, ohne sich weitere Gedanken über sie zu machen. Dass sie aus der Vergangenheit kam, hatte er nicht ahnen können, und es überforderte ihn vollkommen. Während seines Spaziergangs war ihm schmerzhaft bewusst geworden, dass er an die Grenzen seines Vorstellungsvermögens gestoßen war. Er bewunderte die alte Schulleiterin, die offensichtlich keine Probleme in dieser Hinsicht hatte, und war ihr dankbar für ihren wohlgemeinten Vorschlag.

Aila genoss das Bad in dem warmen, duftenden Wasser. Als sie eine halbe Stunde später mit nassen Haaren aus dem Badezimmer kam, nahm Mrs. MacLish sie an der Hand und brachte sie zurück. Sie holte den Fön aus der Ablage und zeigte ihr, wie sie damit ihr Haar trocknen konnte. Aila zuckte erschrocken zusammen, als heißer Wind begleitet von einem aufheulenden Geräusch aus dem Rohr strömte. Doch schon nach wenigen Minuten gewöhnte sie sich an das Gerät.

Als sie fertig war, fuhr Professor Williams die beiden Frauen in die Stadt und setzte sie vor einem der vielen Modegeschäfte ab. Aila ließ alles, was man von ihr verlangte, fast gleichgültig über sich ergehen. Die Gerüche und die unterschiedlich lauten Geräusche, die an ihr Ohr drangen, überforderten ihre Sinne genauso wie die bunten Farben und die Hektik der Menschen, die es so eilig hatten, als wären sie auf der Flucht. Sie hatte Mühe, die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten, die von allen Seiten auf sie einstürmten. Es kam ihr vor, als wäre sie in einem endlosen Traum gefangen, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als daraus zu erwachen. Sie stand vor dem großen, blank geputzten Schaufenster und starrte auf die Gewänder, die dort ausgestellt waren, als würde sie das alles nichts angehen. Wie gern würde sie jetzt mit Caru durch den Wald laufen oder neben ihren Eltern am Feuer sitzen, wo sie von liebevoller Geborgenheit umgeben war. Dieses Dorf gefiel ihr nicht. Es war kalt und laut, und die Menschen, abgesehen von Mrs. MacLish und Professor Williams, waren unfreundlich, und sie wollte nichts mit ihnen zu tun haben.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie an ihren treuen Freund Caru dachte. Würde sie ihn jemals wiedersehen? Sie fühlte sich so allein ohne ihn.

Mrs. MacLish drückte ihr tröstend die Hand, als sie die Tränen in den Augen des Mädchens bemerkte. »Es wird nicht lange dauern, doch es ist nötig, dass wir dort hineingehen, um dir etwas zum Anziehen zu kaufen. Inverurie ist eine kleine Stadt, und du fällst in deinen Kleidern zu sehr auf. Du kannst dir keine Vorstellung davon machen, was alles geschehen würde, wenn jemand außer dem Professor und mir etwas von deinem Geheimnis erfahren würde. Vertraue mir einfach. Wenn wir hier fertig sind, fahren wir zu mir nach Hause, und du kannst dich ausruhen. Ich werde dafür sorgen, dass dich niemand stört.«

Eine elegant gekleidete Verkäuferin mit rot lackierten Fingernägeln begrüßte sie, als sie das Geschäft betraten. Höflich erkundigte sie sich nach ihren Wünschen, während sie abfällig Ailas Gewand musterte. »Wir hätten gerne etwas Bequemes und auch etwas Schickes für meine Enkeltochter«, gab Mrs. MacLish zur Antwort. Die Verkäuferin nickte zustimmend und kam wenig später mit einigen Kleidern über dem Arm zurück. Sie forderte die beiden Frauen höflich auf, ihr zur Umkleidekabine zu folgen.

Als Erstes reichte sie Aila ein cremefarbenes, elegantes Sommerkleid. Mrs. MacLish half ihr, es überzustreifen. Fassungslos stand sie vor dem großen Spiegel. Eine fremde Frau starrte ihr entgegen. Langes rotgolden glänzendes Haar floss ihr über die schmalen Schultern, und das eng anliegende Kleid betonte ihre Figur. Es sah wunderschön aus. Aila hatte das Gefühl zu träumen, die ganze Situation war für sie unwirklich. Immer wieder strichen ihre Finger über den glatten, weichen Stoff. Die Verkäuferin reichte ihr noch ein paar passende Schuhe und eine hauchdünne Bluse. Mrs. MacLish sah Aila bewundernd an. Was Kleider alles ausmachen, dachte sie und bekam richtig Spaß daran, Aila in eine elegante junge Frau zu verwandeln. Sie forderte die Verkäuferin auf, noch eine Jeans und eine Bluse zu bringen.

Doch als sie Aila die Hose reichte weigerte diese sich, sie anzuziehen.

»Frauen tragen doch keine Hosenbeine«, sagte sie empört und ließ die Jeans einfach auf den Boden fallen. Die Verkäuferin starrte sie ungläubig an, sagte aber nichts. Mrs. MacLish, die den verblüfften Blick der Angestellten sehr wohl bemerkt hatte, gab nach. Sie wollte auf keinen Fall weiteres Aufsehen erregen. Sie kaufte noch ein blaues Kostüm, zwei Blusen, Unterwäsche und Nachthemden und ließ alles einpacken.

Bepackt mit Einkaufstüten in den verschiedensten Größen, verließen die beiden Frauen eine Stunde später das Modegeschäft. Professor Williams, der vor dem Ladenlokal gewartet hatte, half ihnen, ihre Einkäufe im Kofferraum zu verstauen. Anschließend fuhr er sie nach Hause und versprach, sich in den nächsten Tagen zu melden.

Aila ließ sich erschöpft auf Mrs. MacLishs gemütliche Couch sinken und war kurze Zeit später eingeschlafen. Mrs. MacLish brachte die neu erworbenen Kleider ins Gästezimmer und räumte sie ordentlich in den Kleiderschrank. Dann setzte sie Wasser für einen Tee auf und betrachtete nachdenklich das schlafende Mädchen. Sie sah so friedlich und so jung aus.

Bilder aus ihrer eigenen Jugend stiegen vor ihren Augen hoch. Sie hatte ihr Leben beinahe zu Ende gelebt. Es war ein schönes, erfülltes Leben gewesen, auch wenn es nicht immer sorgenfrei verlaufen war. Die Liebe ihrer Schüler hatte sie darüber hinweggetröstet, dass sie selbst keine Kinder bekommen konnte. Ihr Mann Richard war sehr jung gestorben, und sie hatte danach nicht wieder geheiratet, weil sie ihn bis zum heutigen Tage nicht vergessen konnte.

Sie konnte Miriam gut verstehen, die alles für ihre große Liebe aufgegeben hatte. Aber war es wirklich ein Opfer für sie gewesen? Nach dem, was sie von Aila erfahren hatte, führte Miriam ein erfülltes Leben voller Glück und Gemeinsamkeit mit dem Mann, den sie über alles liebte. Was konnte man sich noch wünschen?

Sie beschloss, später noch einmal mit Aila zu reden, um mehr über das Leben ihrer ehemaligen Schülerin zu erfahren. Aila musste so schnell wie möglich zurück in die Zeit, aus der sie gekommen war. Ob es ihnen gelingen würde, die Quelle zu finden, von der Miriam gesprochen hatte? Vielleicht sollte sie versuchen, Malcolm zu erreichen oder Willie. Die beiden kannten den Weg und konnten das Mädchen dorthin begleiten.

Über die vielen Gedanken in ihrem Kopf wurde sie müde und beschloss, ein kleines Nickerchen zu machen. Als sie eine Stunde später erwachte, schlief Aila immer noch. Ihr Gesicht war hochrot, und ihr Atem rasselte. Erschrocken beugte Mrs. MacLish sich über das Mädchen und legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie war glühend heiß. Voller Sorge holte sie ein Fieberthermometer aus dem Badezimmer und steckte es Aila in den Mund. Das Mädchen stöhnte leise im Schlaf und bewegte sich unruhig hin und her. Sicher würde es gleich aufwachen, dachte Mrs. MacLish, doch ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Als sie einige Minuten später das Thermometer aus Ailas Mund nahm, erschrak sie. Es zeigte einundvierzig Grad an.

Sie lief zum Telefon, um ihren Freund und Arzt Doktor Bennett anzurufen, und ihn zu bitten, nach Aila zu sehen. Von Doktor Bennets Sprechstundenhilfe erfuhr sie, dass dieser sich noch in seinem Ferienhaus in Südengland befand und sein Sohn die Vertretung der Praxis übernommen hatte. Sobald die Sprechstunde vorbei war, würde er mit den Hausbesuchen beginnen. Mrs. MacLish blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Sie kühlte Ailas Stirn und sah immer wieder ungeduldig aus dem Fenster in der Hoffnung, den Arzt dort zu entdecken. Es dauerte zwei lange Stunden, bis der blau glänzende Rover endlich vorfuhr. Erleichtert begrüßte Mrs. MacLish den jungen Arzt, den sie seit seiner Geburt kannte.

Dave Bennett war ein gut aussehender, sympathischer Mann mit hellbraunen Haaren und bei den weiblichen Patienten besonders beliebt. Er hatte sich noch nicht entschieden, ob er in die Praxis seines Vaters einsteigen oder weiter in dem Krankenhaus arbeiten wollte, in dem er sein Assistenzjahr verbracht hatte.

»Was kann ich denn für Sie tun«?, fragte Dave Bennett freundlich, während er ihr ins Wohnzimmer folgte. »Ich habe Besuch von der Tochter einer ehemaligen Schülerin. Wir waren heute früh einkaufen, und danach war sie so erschöpft, dass sie eingeschlafen ist.« Sie hielt Dave Bennett das Fieberthermometer hin.

»Bevor sie sich hingelegt hat, war sie noch ganz gesund«, setzte sie aufgeregt hinzu.

Dem jungen Arzt war die Angst in ihrer Stimme nicht entgangen. »Jetzt beruhigen sie sich erst einmal. Wir werden das Mädchen schon wieder auf die Beine bringen. Viele Leute sind momentan krank, es liegt an dem feuchtkalten Wetter.« Er setzte sich neben Aila auf die Sofakante und prüfte ihre Temperatur. Dann nahm er sein Stethoskop und hörte ihren Herzschlag ab. Der Herzschlag war zu schnell, doch das lag eindeutig an der hohen Temperatur des Mädchens.

Er wandte sich an Mrs. MacLish. »Ich muss ihre Lunge abhören. Würden Sie mir bitte helfen und sie stützen, wenn ich sie aufsetze?« Gemeinsam richteten sie Aila auf, die angefangen hatte, im Schlaf zu sprechen. Daves Gesicht wurde ernst, als er ihre Lunge abhörte. Das Mädchen hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen, und damit war nicht zu spaßen.

Er zog eine schmale Taschenlampe aus seinem Kittel und sah sich die Pupillen des schlafenden Mädchens genauer an.

»Sie hat eine Lungenentzündung«, sagte er zu Mrs. MacLish. »Wir sollten sie ins Krankenhaus bringen, dort kann man sich besser um sie kümmern.« In diesem Moment begannen Ailas Augenlider zu flattern, und sie schlug die Augen auf. Ihr Blick traf sich mit dem des jungen Arztes. Sie wollte ihren Kopf zur Seite drehen, doch es gelang ihr nicht, ihren Blick abzuwenden.

Die schimmernden, grauen Augen, die eine faszinierende Mischung aus Traurigkeit und Hoffnung ausstrahlten, zogen Dave Bennett mit einer Wucht in ihren Bann, gegen die er wehrlos war. Ihre Augen versanken ineinander, und alles um sie herum hörte auf zu existieren. Er fühlte die Nähe des Mädchens mit einer Intensität, die schon fast schmerzhaft war. Ein unbändiges Glücksgefühl schoss durch seinen Körper, und er musste sich beherrschen, um sie nicht an sich zu ziehen und ihr Gesicht mit Küssen zu bedecken.

Mrs. MacLish sah erstaunt von dem jungen Arzt zu Aila. Sie spürte, dass gerade etwas geschehen war, das Ailas Leben eine entscheidende Wende geben würde. »Wir können dem Schicksal nicht entkommen, es nicht lenken wie einen Wagen.« Die Worte waren plötzlich in ihrem Kopf, und sie wusste, dass es so war. Leise Hoffnung stieg in ihr hoch, als sie an ihren geliebten Richard dachte. Würde sie ihn nach ihrem Tod wiedersehen? Sie war glücklich darüber, dass ausgerechnet sie erfahren durfte, dass es noch etwas anderes gab als das, was von der Wissenschaft anerkannt wurde. Etwas Größeres, Wundervolles, das keinerlei Grenzen kannte, unfassbar für das Vorstellungsvermögen der Menschen, die vergessen hatten, auf ihre Sinne zu hören.

Das Vermächtnis des Raben

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