Читать книгу Das Vermächtnis des Raben - Hildegard Burri-Bayer - Страница 13
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ОглавлениеWalter Scotts rechtes Augenlid begann leicht zu zucken, wie immer, wenn er auf eine außergewöhnliche Story stieß. Während der Fahrt zu seiner Redaktion hatte er mehrmals das Band ablaufen lassen. Der erste Ansatzpunkt war der Name des Vaters, den das Mädchen angegeben hatte. Es schien ein seltener Name zu sein und war vielleicht eine Möglichkeit, mehr über die Kleine herauszufinden.
Sofort, als er in der Redaktion eintraf, rief er Alice zu sich. Sie war das Mädchen für alles und kannte sich im Archiv so gut aus wie kein anderer. Am Computer war sie ebenfalls ein Genie, vor allem, wenn es darum ging, heiße Spuren zu verfolgen. Das Mädchen war bares Geld wert, wie er zu sagen pflegte. Alice zwinkerte ihm fröhlich zu. Die Jeans, die sie trug, betonte ihre knabenhafte Figur und ließ sie jünger aussehen, als sie tatsächlich war. Darüber hatte sie eine weiße Bluse locker über ihrer schmalen Taille zusammengeknotet. Sie bot ein erfreuliches Bild und war ein Lichtblick, der ihn für einen Moment von der hektischen Atmosphäre ablenkte, die in der Redaktion herrschte.
Alice kannte den Ausdruck in den Augen ihres Kollegen und wartete gespannt darauf, welcher Story er dieses Mal auf der Spur war. Walter Scott zog wortlos sein Diktiergerät aus der Tasche und spulte es zurück. Dann ließ er es ablaufen.
Alice hörte sich das Gespräch zwischen ihrem Kollegen und Professor Williams aufmerksam an. »Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst«, sagte sie, nachdem sie das Band aufmerksam verfolgt hatte.
Walter Scott grinste sie fröhlich an. »Ich werde es dir sofort erklären: Die Polizei hat ein junges Mädchen aufgegriffen, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Sie ist von außergewöhnlicher Schönheit und hat angeblich ihr Gedächtnis verloren. Unser guter Kommissar möchte, aus welchem Grund auch immer, unbedingt wissen, wer sie ist, und hat uns aufgefordert, ein Bild von ihr in der Zeitung zu veröffentlichen.« Sein Grinsen wurde breiter, als er fortfuhr. »Ich hatte gleich das Gefühl, dass Ron McLeod uns etwas vorenthält, und wie es meine Art ist, habe ich nachgehakt und von Professor Williams erfahren, dass die Kleine nur gälisch spricht. Jetzt frage ich mich natürlich, warum Ron McLeod uns das verschwiegen hat. Es muss einen Grund dafür geben. Wir haben den Namen des Vaters, Calach oder so ähnlich. Lass dir von Harry die Fotos von der Kleinen geben, und versuche, so viel wie möglich über sie herauszubekommen. Ich werde in der Zwischenzeit den Professor noch einmal anrufen, um zu hören, ob er mittlerweile mehr über das Mädchen in Erfahrung gebracht hat. Er gehört zu den wenigen Menschen auf unserer schönen Insel, die die alte Sprache noch beherrschen.«
Alice machte sich sofort an die Arbeit und ging zu Harry in die Fotoabteilung, um sich die ersten Abzüge aushändigen zu lassen. Nach einem Blick auf die Fotos musste sie Walter Scott Recht geben: Das Mädchen besaß tatsächlich eine faszinierende Ausstrahlung. Sie scannte das Bild in ihren Computer, damit er es mit anderen Fotos vergleichen konnte. Das würde eine Weile dauern. In der Zwischenzeit konnte sie sich um den Namen des Vaters kümmern, den das Mädchen angegeben hatte.
Sie setzte sich an den Computer eines Kollegen und gab ohne große Hoffnung den Namen Calach ein. Wenn es ein Vorname war, dann ein sehr seltener, denn sie hatte den Namen nie zuvor gehört. Ohne den dazugehörigen Nachnamen und den Wohnort würde es schwierig sein etwas über ihn zu finden. Wie sie es erwartet hatte, half der Name ihr nicht weiter. Sie versuchte es über eine andere Suchmaschine, doch das Einzige, was der Computer ihr zeigte, waren historische Abhandlungen über die frühen Epochen ihres Landes. Dort wurde der Name gleichgesetzt mit Calgacus, einem großen Feldherrn, der im ersten Jahrhundert nach Christus gelebt hatte. Sie suchte weiter, konnte aber nichts Brauchbares mehr finden.
Achselzuckend druckte sie die Seiten aus und begab sich zurück an ihren eigenen Computer. Er war fündig geworden. Das Gesicht einer jungen Frau blickte ihr aus dem Bildschirm entgegen. Sie besaß große Ähnlichkeit mit dem Mädchen auf ihren Fotos, obwohl ihr Haar hellblond und ihre Nase etwas feiner geschnitten war. Auch das tiefe Blau ihrer Augen unterschied sich von den grauen Augen des Mädchens. Doch Alice ließ sich davon nicht täuschen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass ein Zusammenhang bestand. Beide Frauen besaßen die gleiche faszinierende Ausstrahlung, die weit über solche Details hinausging.
Sie las den zu dem Foto gehörenden Artikel durch. »Schülerin während eines Ausflugs in die Grampian Mountains spurlos verschwunden.« Es folgten weitere Artikel mit den üblichen Spekulationen. Alice wollte schon aufhören zu lesen, als sie auf einen kleinen Artikel stieß. Sie sah sich das Erscheinungsdatum an. Er war fünf Jahre jünger als die anderen Artikel. Gespannt las sie weiter. »Helen McCarthy ist, nachdem sie fünf Jahre verschwunden war, mit ihrer vierjährigen Tochter an der Hand nach Inverurie zurückgekehrt. Sie weigert sich, Interviews zu geben, und auch ihre Familie ist nicht bereit, etwas über ihr Verschwinden zu sagen. Hat es gar keine Entführung, gar kein Verbrechen gegeben, wie wir alle befürchtet haben? Die ganze Stadt war damals betroffen und hat mit Helens Familie gehofft und gebetet. Mittlerweile sieht es ganz danach aus, als hätte die junge Helen den Schülerausflug lediglich dazu benutzt, von zu Hause fortzulaufen.«
Alice verglich noch einmal die Fotos der beiden Frauen. Gründlich, wie es ihre Art war, rief sie beim Einwohnermeldeamt an, um genauere Daten zu erhalten. Sie erfuhr, dass Helen McCarthy bereits drei Jahre nach ihrer Rückkehr verstorben war und von daher unmöglich die Mutter des Mädchens sein konnte.
Sie druckte die Seiten aus und legte sie Walter Scott auf den Schreibtisch. Sein untrüglicher Instinkt würde ihm sagen, ob es sich lohnte, die Spur der Frauen weiter zu verflogen oder nicht.
Walter Scott ließ sich Zeit beim Lesen, doch er fand nichts, was ihn weiterbrachte. Seine einzige Hoffnung war Professor Williams. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer, doch der Professor schien nicht zu Hause zu sein.
Er versuchte es mehrmals und beschloss dann, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal anzurufen.
Mrs. MacLish hatte sich gerade einen Tee eingeschenkt und nach der Zeitung gegriffen, um sie in aller Ruhe zu lesen. Sie liebte die Morgenstunden und genoss die Zeit, die sie seit ihrer Pensionierung hatte, obwohl sie mit Leib und Seele Lehrerin und später sogar Schulleiterin gewesen war. Als ihr Blick auf die Titelseite fiel, stockte ihr der Atem. Miriam, war ihr erster Gedanke. Irgendwann hatte sie die Hoffnung aufgegeben, mehr über die mysteriösen Ereignisse zu erfahren, die sie seit ihrem letzten Gespräch mit ihrer ehemaligen Schülerin so sehr beschäftigt hatten.
Sie betrachtete das Gesicht des jungen Mädchens genauer. Auf den ersten Blick sah es aus wie Miriam, doch das war unmöglich. Die junge Frau auf dem Foto konnte höchstens achtzehn Jahre alt sein. In Gedanken rechnete sie zurück. Miriam müsste mittlerweile die vierzig hinter sich gelassen haben. Aufgeregt las sie den zu dem Foto gehörigen Bericht. »Wer kennt dieses Mädchen?«, lautete die Schlagzeile. »Die Polizei hat gestern auf dem Marktplatz eine junge Frau aufgegriffen, die unter Erinnerungslücken leidet. Wer sie kennt oder etwas über sie weiß, wird gebeten, sich bei der Polizeidienststelle in Inverurie zu melden.«
Mrs. MacLish las den Artikel mehrmals hintereinander. Dann betrachtete sie das Foto erneut. Ob Miriam eine Tochter hatte? Das wäre eine Möglichkeit. Sie lehnte sich zurück und trank einen Schluck von ihrem Tee, obwohl er mittlerweile fast kalt geworden war.
Beinahe zwanzig Jahre waren vergangen, seitdem sie die verzweifelte Miriam getröstet und Unglaubliches von ihr erfahren hatte. Miriam hatte ihr erzählt, dass sie eine Reise durch die Zeit gemacht und sich in einen caledonischen Feldherrn verliebt hatte, der bei einer Schlacht im ersten Jahrhundert nach Christus gefallen war.
Seit diesem Gespräch hatte sie nichts mehr von Miriam gehört, bis eines Tages Malcolm vor ihrer Türe gestanden und ihr einen Brief von Miriam gezeigt hatte, den sie geschrieben hatte, bevor sie erneut in die Vergangenheit aufgebrochen war. Lange hatte sie mit Miriams Schulfreund gesprochen, der laut seiner Aussage mit Miriam und Willie, einem gemeinsamen Klassenkameraden, in der Vergangenheit gewesen sein wollte.
Ihre Neugier war erwacht. Trotz ihrer siebenundsiebzig Jahre war sie noch ziemlich rüstig, worauf sie ganz besonders stolz war. Sie stand auf und nahm ihren Mantel aus dem Garderobenschrank.
Nach einem Blick in den wolkenverhangenen grauen Himmel beschloss sie, für alle Fälle ihren Regenschirm mitzunehmen. Die Polizeidienststelle war nicht sehr weit entfernt von ihrem kleinen Haus, und sie konnte die wenigen Meter zu Fuß gehen.
Zehn Minuten später stand sie vor der Wache und drückte auf den Summer, der sich links neben der Türe befand. »Ja bitte?«, fragte eine Stimme über die Sprechanlage. »Ich bin Mrs. MacLish und habe den Bericht über das Mädchen in der Zeitung gelesen«, antwortete sie.
Mit einem Brummen sprang die Türe auf, und Mrs. MacLish betrat die Wache. Eine junge Frau befand sich hinter der Rezeption, die durch eine schwere Glastür gesichert war. »Bitte gehen sie ins Zimmer 28, das ist den Gang hinunter und dann die vierte Türe rechts.« Aufgeregt folgte die alte Schulleiterin der Anweisung; sie konnte es kaum erwarten Miriams Tochter zu sehen.
Die Tür von Zimmer 28 war halb geöffnet. Mrs. MacLish klopfte dennoch höflich an, bevor sie das Zimmer betrat. Sie kannte Ron McLeod, der sie freundlich begrüßte, schon seit Jahren.
»Das ist aber eine Überraschung, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Wie ich sehe, befinden Sie sich bei bester Gesundheit. Was führt sie denn zu mir?« Neugierig beugte er sich etwas nach vorn.
»Ich habe eben den Bericht in der Zeitung gelesen und dabei festgestellt, dass das Mädchen auf dem Foto eine auffallende Ähnlichkeit mit einer ehemaligen Schülerin von mir hat. Es ist eine lange Geschichte, doch bevor ich sie Ihnen erzähle, würde ich das Mädchen gern sehen, um ganz sicher zu sein, dass es sich bei ihr tatsächlich um die Tochter meiner Schülerin handelt.«
Ron McLeod sah sie prüfend an. Mrs. MacLish war eine energische alte Dame, die genau wusste, was sie tat. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde nichts und niemand sie davon abbringen können. »Das Mädchen ist nicht mehr hier. Professor Williams hat sie mit zu sich nach Hause genommen. Er war ganz fasziniert von ihr, weil sie nur gälisch spricht.«
Mrs. MacLish sah ihn nachdenklich an. »Ich kenne Professor Williams von früher. Könnten Sie mir bitte seine Telefonnummer geben? Ich würde ihn gern anrufen.«
»Kein Problem, aber denken Sie bitte daran, mich auf dem Laufenden zu halten, wenn Sie mehr über das Mädchen erfahren.«
Mrs. MacLish versprach es ihm. Nachdem Ron McLeod ihr die gewünschte Telefonnummer auf einen Zettel geschrieben hatte, verabschiedete sich die alte Dame von ihm und verließ mit einem für ihr Alter recht schnellen Schritt sein Zimmer.
Ron McLeod lehnte sich in seinen Stuhl zurück und beschloss, Professor Williams noch heute anzurufen, falls er sich nicht von selbst melden würde.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedankengängen. Seufzend nahm er den Hörer ab. Der Mann am anderen Ende der Leitung, stellte sich als John Lansbury vor. »Ich habe gerade die Tageszeitung gelesen und das Foto von dem Mädchen mit den Erinnerungslücken entdeckt.« Ron McLeod setzte sich triumphierend auf und griff nach einem Stift. Ich hatte Recht damit, ein Foto von Aila zu veröffentlichen, dachte er. Es war erst zehn Uhr Morgens und jetzt meldete sich bereits der zweite Anrufer, der etwas über sie wusste. Gespannt wartete er, was John Lansbury ihm zu sagen hatte.
»Ich war gestern im Hochland wandern und habe das Mädchen an einem See getroffen, wo sie gerastet hat. Sie hatte kein Gepäck bei sich und sprach nur gälisch. Wir haben uns durch Zeichensprache verständigt, und so viel ich verstanden habe, hatte sie sich verirrt. Ich habe ihr den Weg nach Inverurie gezeigt, konnte sie aber leider nicht dorthin begleiten, weil meine Frau mich in Rhynie erwartete. Sie erschien mir ein wenig merkwürdig, aber ihr Gesicht vergisst man nicht so schnell.«
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, womit Sie uns weiterhelfen können?«, fragte Ron McLeod.
»Tut mir Leid, das war schon alles.«
Der Kriminalbeamte ließ sich John Lansburys Telefonnummer geben und bedankte sich für den Anruf. Dann beendete er das Gespräch.
Ohne dass es ihm bewusst wurde, war John Lansbury ein wenig enttäuscht. Er hatte gehofft, von dem Beamten mehr über das Mädchen zu erfahren, das sich immer wieder in seine Gedanken schlich.