Читать книгу Das Vermächtnis des Raben - Hildegard Burri-Bayer - Страница 12

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Gemeinsam verließen sie die Polizeiwache. Es regnete in Strömen, als sie aus dem Gebäude traten. Erleichtert sog Aila die feuchte, kühle Luft in ihre Lungen. Professor Williams führte sie zu seinem Auto, das er nur wenige Meter von der Wache entfernt geparkt hatte, und öffnete höflich die Beifahrertür.

»Können wir nicht zu Fuß gehen? Ich mag es nicht, in diesen engen Wagen zu sitzen«, bat Aila.

Professor Williams warf ihr einen überraschten Blick zu. Du wirst ganz nass, wenn wir laufen, und es ist auch zu weit«, gab er zu bedenken. »Mit dem Auto wären wir in wenigen Minuten bei mir. Ich könnte das Fenster öffnen, dann kommt genügend frische Luft herein«, fügte er hinzu. Er hatte bemerkt, wie verzweifelt sie die frische Luft eingeatmet hatte. Als sie nicht sofort antwortete, lief er um den Wagen herum und drückte auf den automatischen Fensterheber. Sofort senkte sich die Scheibe in das Innere der Beifahrertür. Aila sah ihn erstaunt an, sagte aber immer noch nichts.

»Bitte steig ein. Je eher wir von hier fortkommen, umso besser für dich.« Aila zögerte nur kurz. Dann kam sie seiner Aufforderung nach und setzte sich auf den Beifahrersitz. Bei geöffnetem Fenster war die Enge in dem Wagen besser zu ertragen.

Professor Williams startete den Motor und fuhr langsam los. Sie fuhren eine Weile durch die kleine Stadt, bevor sie die Landstraße erreichten. Obwohl der Professor nicht sehr schnell fuhr, hatte Aila das Gefühl an den Menschen und Häusern vorbeizuschweben. »Wie ist es möglich, dass dieser Wagen fährt, ohne von einem Pferd gezogen zu werden?«, fragte sie neugierig. »Ist er ein Geschenk von deinen Göttern?«

Professor Williams wandte seinen Blick von der Straße vor ihm und starrte das Mädchen fassungslos an. Im letzten Moment bremste er ab und konnte gerade noch verhindern, dass er auf den Wagen vor ihm auffuhr. Seine Gedanken überschlugen sich. Das Mädchen neben ihm sah ihn vertrauensvoll aus seinen großen Augen an. Sie sah aus wie ein Kind, dass mehr über die Welt wissen wollte.

Wie konnte das möglich sein? In was für eine Geschichte war er da nur hineingeraten? Der Gedanke, der sich in seinem Kopf ausbreitete, war so ungeheuerlich, dass er hart schlucken musste. Sein scharfer Verstand arbeitete auf Hochtouren. In Gedanken zählte er die ihm bekannten Fakten auf. Sie sprach nur gälisch. Dann stammte sie angeblich aus einem Dorf ohne Namen, und es sah ganz danach aus, als hätte sie noch nie in einem Auto gesessen. Dazu kam ihre Kleidung, die wie selbst gefertigt aussah. Er rief sich das Gespräch in Ron McLeods Büro noch einmal ins Gedächtnis. Da war noch etwas, was ihn irritiert hatte. Endlich fiel es ihm wieder ein. Sie hatte von Römern gesprochen und dass nur die Händler deren Sprache sprechen konnten. In Schottland gab es seit mehr als fünfzehnhundert Jahren keine römische Besatzungsmacht mehr. Dann hatte sie behauptet, der Name ihres Vaters sei Calach. Diesen Namen kannte er nur aus historischen Abhandlungen über die frühe Geschichte Schottlands.

Wollte sie ihnen vormachen, dass sie aus der Vergangenheit gekommen war? Das konnte unmöglich wahr sein. Zeitreisen waren wissenschaftlich gesehen nicht möglich und doch eine logische Schlussfolgerung, zu der man in dem hier vorliegenden Fall gelangen konnte. Doch diese Erklärung gefiel ihm nicht, und er überlegte weiter. Vielleicht hatte sie ihr bisheriges Leben auf irgendeinem abgelegenen Hof im Hochland verbracht, den weder sie noch ihre Familie aus welchen Gründen auch immer jemals verlassen hatte. Vor einigen Monaten hatte er in einem Magazin von einem Indianer gelesen, der als Letzter seines Stammes jahrzehntelang alleine und unbemerkt in den Wäldern Amerikas gelebt hatte und kein Wort englisch sprach. Er hatte sein Leben so gelebt, wie es seine Vorfahren seit Hunderten von Jahren getan hatten, obwohl sein Stamm offiziell bereits seit Anfang des letzten Jahrhunderts als ausgestorben galt.

Es kamen noch weitere Möglichkeiten in Betracht, stellte er fest und war irgendwie erleichtert darüber. Sie konnte in einer Sekte oder in irgendeiner religiösen Gemeinschaft gelebt haben oder vielleicht waren ihre Eltern Aussteiger, die genug von der modernen Zivilisation gehabt hatten. Es gab auch noch die Möglichkeit, dass sie einfach nur verwirrt war oder eine gespaltene Persönlichkeit besaß. Vielleicht hatte sie ein schreckliches Erlebnis gehabt und sich in ihre eigene Traumwelt zurückgezogen, weil sie die Realität nicht ertragen konnte.

Er war so in seine Gedanken versunken, dass er das Mädchen, das immer noch auf seine Antwort wartete, beinahe vergessen hatte. Als er sie endlich mit einem zerstreuten Blick bedachte, stellte er fest, dass ihre Augen sich wieder mit Tränen gefüllt hatten.

»Es tut mir Leid, wenn ich gegen eure Sitten verstoßen habe«, sagte sie leise. »Ich wollte nichts falsch machen.«

»Du machst nichts falsch, und ich werde dir, wenn wir in meinem Haus sind, alle deine Fragen beantworten, so gut ich es vermag. Wir sind in wenigen Minuten da, und bis dahin muss ich mich auf den Verkehr konzentrieren.« Er sprach langsam und freundlich. Aila blieb nichts anderes übrig, als sich mit seiner Antwort zufrieden zu geben. Traurig sah sie aus dem Fenster. Der Professor fuhr jetzt schneller, und Ailas Magen begann zu kribbeln. Das Kribbeln war nicht unangenehm, nur ungewohnt.

Es dauerte nicht lange, bis der Professor den Wagen in eine schmale Einfahrt lenkte und anhielt. Aila beobachtete, wie er den Schlüssel in dem Schloss herumdrehte und das leise Summen erstarb. Professor Williams stieg aus und lief um den Wagen herum, um ihr die Tür zu öffnen.

Ailas Knie zitterten noch von der aufregenden Fahrt, als sie aus dem Wagen kletterte. Neugierig staunte sie das Haus an, vor dem sie standen. Die Wände waren glatt und weiß. In dem Garten vor dem Haus standen wunderschöne Blumen um eine Wiese herum, deren Halme außergewöhnlich kurz und gleichmäßig gewachsen waren.

Der Professor nahm einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Haustür auf. Aila folgte ihm in ein Zimmer, in dem breite, mit Decken bezogene Stühle um einen niedrigen Tisch herumstanden. Sie sahen so warm und gemütlich aus, dass sie seiner Aufforderung, sich zu setzen, gern nachkam. Mit einem Seufzer ließ sie sich in einen der weichen Sessel fallen und sah sich staunend in dem gemütlich eingerichteten Raum um.

Professor Williams beobachtete eine Weile fasziniert, wie sie aufmerksam ihre Umgebung betrachtete. »Die Stühle sind sehr angenehm, aber ich sehe keine Feuerstelle, und mir ist kalt«, bemerkte das Mädchen ungerührt. Professor Williams brauchte einen Moment, um sich von diesem weiteren Schreck zu erholen. »Ich werde uns einen Tee aufgießen und einige Sandwiches zubereiten«, sagte er. »Dann werden wir uns unterhalten. Ich denke, ich werde einige Fragen an dich haben.«

Wenige Minuten später kam er mit einer Kanne Tee und einem Tablett belegter Sandwiches zurück und stellte sie vor Aila auf den Tisch. Er hatte beschlossen, sehr behutsam vorzugehen, um das Mädchen nicht zu überfordern, obwohl er es kaum abwarten konnte, hinter das Geheimnis zu kommen, das sie umgab.

Höflich schenkte er ihr eine Tasse von dem duftenden Tee ein und forderte sie auf, sich zu bedienen. Aila nahm eines der weißen Brote und verzehrte es hungrig. Es schmeckte köstlich, und sie nahm sich ein weiteres. Sie beobachtete, wie der Professor einen Löffel nahm und etwas, das wie braune Krümel aussah, in seine Tasse gab, und tat es ihm nach.

Der Tee war heiß und süß und wärmte sie von innen. Zufrieden kuschelte sie sich in die weichen Polster und genoss einen Moment das Gefühl von Wärme, das sie umgab. Alles in dem Raum war so glatt und sauber. Die rot glänzenden Truhen genauso wie der polierte Tisch, der aus demselben Holz bestand. Die Klappen der Truhen ließen sich von vorne öffnen und nicht von oben, wie die Truhen, die sie kannte. Goldene Schlüssel steckten in jeder der Türen. Der alte Mann musste sehr reich sein.

Sie bewunderte den Kristallleuchter, der über dem großen Tisch am anderen Ende des Zimmers hing, genau wie die wunderschönen Bilder in den goldenen Rahmen. Solche Kostbarkeiten hatte sie nie zuvor gesehen.

Professor Williams ließ ihr Zeit, um sich an die fremde Umgebung zu gewöhnen. Er füllte noch einmal ihre Tasse mit Tee, bevor er das Gespräch begann.

»Möchtest du mir jetzt erzählen, was geschehen ist und wie ich dir helfen kann?«, fragte er höflich.

Aila sah ihn an. Ihre schönen, grauen Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe den Tag mit meinem Hund im Wald verbracht. Wir sind zu der runden Lichtung gelaufen und haben uns dort auf die Wiese gesetzt. Dann bin ich eingeschlafen, und in meinen Träumen ist ein schrecklicher Nebel erschienen. Als ich aufgewacht bin, war Caru nicht mehr da, und auch der Wald war verschwunden. Ich habe mich aufgemacht, um nach meinem Hund zu suchen. Er ist mein bester Freund und weicht mir nicht von der Seite. Ich vermisse ihn so sehr.«

Professor Williams hatte ihr aufmerksam zugehört. »Wo sind deine Eltern? Vielleicht kann ich sie anrufen«, schlug er vor.

Aila sah ihn erstaunt an. »Meine Eltern sind keine Götter, die man anruft. Sie befinden sich auf einer Reise, um eine Fehde zwischen dem Briganterfürst Venutius und dem Fürsten der Trinovanten zu schlichten und die alten Bündnisse zu erneuern. Ich habe dir doch erzählt, dass mein Vater der Vergobretos ist.«

»Was ist ein Vergobretos?«, wollte der Professor wissen. »Ich habe dieses Wort nie vorher gehört.«

Aila warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte. Jedes Kind wusste, welche Aufgabe der Vergobretos zu erfüllen hatte, und der alte Mann vor ihr schien sehr weise zu sein. Oder war er vielleicht doch nicht so weise, wie sie gedacht hatte? »Er ist der Vollzieher der Urteile, der einmal im Jahr von den Stämmen neu gewählt wird«, erklärte sie. »Mein Vater ist immer wieder zum Vergobretos gewählt worden, so lange ich mich erinnern kann. Er wird von allen bewundert, weil er gerecht und stark ist.«

»Du hast gesagt, dass du nach Inverurie gelaufen bist. Wie lange bist du denn unterwegs gewesen?«, fragte Professor Williams weiter.

»Ich bin mehrere Tage gelaufen und habe nachts unter Bäumen geschlafen«, sagte Aila. »Seitdem ich den richtigen Weg verloren habe, versuche ich Mog Ruith zu rufen, doch er gibt mir keine Antwort.«

»Mog Ruith?«, wiederholte Professor Williams ungläubig. Der einzige Mog Ruith, von dem er je gehört hatte, war ein Druide, dessen Name trotz der geringen Zahl schriftlicher Aufzeichnungen aus dieser längst vergangenen Epoche im Gedächtnis der Menschen geblieben war.

Aila wunderte sich immer mehr. Der alte Mann vor ihr schien tatsächlich nicht so weise zu sein, wie sie es angenommen hatte. »Mog Ruith ist der weiseste aller Druiden, und ich bin seine Schülerin«, sagte sie stolz.

Professor Williams lehnte sich nachdenklich in seinem Sessel zurück. Das Mädchen erzählte ihm unglaubliche Dinge. Ob sie geistesgestört war? Dagegen sprach allerdings ihre Fähigkeit, fließend gälisch zu sprechen. Unter anderen Umständen hätte er die Gelegenheit sehr genossen, wieder einmal diese schöne Sprache zu sprechen. Doch jetzt brauchte er erst einmal einen Augenblick, um das soeben gehörte in seinem Kopf zu sortieren.

Aila begann zu gähnen. Die Aufregung der letzten beiden Tage und die vielen neuen Eindrücke waren zu viel für sie gewesen. Ihre Augenlider wurden immer schwerer, bis sie ihr schließlich zufielen.

Professor Williams blieb noch lange Zeit in seinem Sessel sitzen und überlegte, wie er sich die Ereignisse der letzten Tage erklären könnte Seine Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen, weil die einzige Idee, die ihm zu dieser Geschichte einfiel, so unvorstellbar war, dass sein Verstand sich dagegen wehrte. Wenn es ihm tatsächlich gelingen sollte, dafür den Beweis anzutreten, müsste er sein gesamtes Weltbild auf den Kopf stellen, und er war sich nicht sicher, ob er das wirklich wollte.

Er warf noch einen Blick auf das schlafende Mädchen, dann stand er auf und begab sich in seine Bibliothek. Unschlüssig lief er eine Weile vor den langen Bücherreihen auf und ab. Schließlich gab er sich einen Ruck und nahm einige Bücher heraus. Er schaltete seine Leselampe ein und setzte sich in seinen Lieblingssessel, der direkt vor dem Kamin stand. Seufzend schlug er die erste Seite auf und begann zu lesen.

Das Vermächtnis des Raben

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