Читать книгу Das Vermächtnis des Raben - Hildegard Burri-Bayer - Страница 9
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ОглавлениеZwei Stunden später hatte Aila die Spitze des nächsten Hügels erreicht. Sie sah das kleine Steinhaus mit dem flachen Dach schon von weitem und lief erleichtert darauf zu. Als sie näher kam, stellte sie enttäuscht fest, dass es unbewohnt war. Die kleine Holztür war verschlossen, und das Haus sah aus, als wäre es schon vor langer Zeit verlassen worden. Trotzdem lief sie um das Haus herum und entdeckte dabei etwas Merkwürdiges. Eine Öffnung, größer als die Öffnungen, die der Belüftung in ihren Häusern diente, war in die Hauswand eingelassen. Sie konnte durch die Öffnung in das Haus sehen, aber nicht hindurchfassen. Ungläubig berührte sie die Glasscheibe, die sich kalt und glatt anfühlte.
Vor dem Fenster stand ein Tisch, auf dem sich Gegenstände befanden, die ihr fremd waren. Ob das kleine Haus einem Römer gehörte? Wie alle anderen Dorfbewohner hatte sie jedes Mal staunend an den Lippen der Händler gehangen, die manchmal an ihrem Dorf vorbeikamen und Unglaubliches von den Römern zu berichten wussten.
Ailas Neugier war erwacht und für einen Moment freute sie sich beinahe über das Abenteuer, das vor ihr lag. Sie besaß die gleiche Unbekümmertheit wie ihr Vater. Was würde sie als Nächstes entdecken? Beschwingt lief sie weiter, und am frühen Nachmittag tauchten, wie sie es erwartet hatte, Häuser vor ihr auf. Sie waren noch zu weit entfernt, um Genaueres erkennen zu können. Als sie näher kam, begann ihr Herz vor Aufregung schneller zu klopfen. Sie wusste, dass sie vorsichtig sein musste, wenn die Siedlung vor ihr tatsächlich von Römern bewohnt wäre. In diesem Fall wäre sie auch weiter von zu Hause entfernt, als sie angenommen hatte. Ob die Römer wirklich so klein und dunkelhaarig waren, wie die Händler es berichtet hatten?
Plötzlich drang ein merkwürdiges Geräusch an ihre Ohren, das sie nicht zuordnen konnte. Es wurde rasch lauter und kam direkt auf sie zu. Ihre Ohren begannen von dem ungewohnten Lärm zu dröhnen, und sie sprang erschrocken zur Seite, als ein merkwürdiges Wesen sich in gleichmäßigem Tempo auf sie zu bewegte. Es war größer als sie und seltsam starr und glatt. Verschiedene Gedanken schwirrten durch ihren Kopf, während sie das Wesen, das sich rasch an ihr vorbeibewegte, mit weit aufgerissenen Augen anstaunte. Am schlimmsten war das Geräusch, das von ihm ausging; es war schrecklich laut und machte ihr Angst. Sie ließ sich auf den Boden fallen und hielt sich die Ohren zu. Zu ihrer Erleichterung entfernte das Wesen sich von ihr, und sie hoffte inständig, dass es nicht zurückkommen würde. Der Schreck saß ihr noch in den Gliedern, als sie weiter auf die Häuser zulief.
Die Menschen, die dort wohnten, schienen sich sehr sicher zu fühlen, denn die Siedlung war nicht umfriedet wie die Dörfer, die sie kannte. Dafür besaß jedes Haus, an dem sie vorbeikam einen eigenen Zaun.
Vor einem der Häuser stand eine alte Frau und fütterte einige Hühner, die sie aufgeregt gackernd umringten. Wie eine Römerin sah sie nicht aus. Ihre blaugrauen Augen waren trüb, und ihr weißes Haar war zum größten Teil von einem Tuch bedeckt, das sie unter dem Kinn zusammengebunden hatte.
Zögernd trat Aila auf die Frau zu.
»Bitte gewährt mir eure Gastfreundschaft. Ich habe Hunger und würde mich gern eine Weile bei euch ausruhen«, sagte sie leise.
Überrascht sah die alte Frau auf. Es war lange her, seitdem sie die alte Sprache das letzte Mal gehört hatte, aber sie verstand, dass die junge Frau vor ihr hungrig war. Misstrauisch musterte sie das Mädchen von oben bis unten.
»Wenn du etwas zu Essen willst, musst du arbeiten«, erwiderte sie abweisend. Sie dachte nicht daran, eine Fremde ins Haus zu bitten. Seit ihr Mann verstorben war, lebte sie ganz allein. Vielleicht war die Frau vor ihr eine Betrügerin oder eine Kriminelle? Man las so viel in den Zeitungen, und sie würde kein Risiko eingehen. Das Mädchen legte bittend eine Hand auf ihren Arm und sah sie aus ihren schönen Augen an. In ihrem Blick lag etwas so Flehendes, dass die Alte nicht widerstehen konnte. Seufzend gab sie nach. Sie schüttelte die Hand des Mädchens von ihrem Arm und bedeutete ihr, draußen zu warten. Dann bewegte sie sich humpelnd auf die Haustür zu und verschwand im Haus.
Nach einer Weile kam sie wieder und reichte Aila ein Brot und ein Stück Käse, die sie in ein Taschentuch gewickelt hatte. Dankbar nahm das Mädchen das Brot und biss hungrig hinein. Das Brot und der Käse schmeckten köstlich, und sie aß mit großem Appetit. Die alte Frau beobachtete sie.
»Geh jetzt, mehr habe ich nicht für dich«, forderte sie das Mädchen auf und unterstrich ihre Worte mit einer unmissverständlichen Handbewegung.
Aila verstand sie sofort. Sie nickte der alten Frau noch einmal zu und verließ das Grundstück, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Leute in diesem Dorf waren weder gastfreundlich noch höflich. Die Götter mussten sehr zornig auf sie sein. Ob es an den Römern lag, dass die alte Frau so abweisend zu ihr gewesen war?
Sie kam an mehreren Gärten vorbei, in denen Menschen ihrer Arbeit nachgingen. Doch nicht einer von ihnen sprach sie an oder lud sie in sein Haus ein. Sie beachteten sie nicht einmal. Es war schon merkwürdig, was die Römer aus ihnen gemacht hatten, dachte Aila traurig und fühlte sich einsam. Sie kam nicht dazu, weiter über das Verhalten der Menschen in diesem Dorf nachzudenken. Ein grüner viereckiger Wagen bewegte sich leise brummend auf sie zu. Sie konnte gerade noch zur Seite springen und sah erschrocken dem Gefährt nach, das vor einem der Häuser anhielt. Der Wagen war von allen Seiten geschlossen und hatte nur kleine Räder, die ganz schwarz waren.
Ungläubig beobachtete sie, dass sich ein Teil des Wagens öffnete und ein junger Mann aus ihm herausstieg. Der Wagen besaß einen merkwürdigen Glanz, wie poliertes Metall. Sie hatte nicht gewusst, dass es grünes Metall gab, doch das war noch nicht alles. Neugierig lief Aila auf das seltsame Fahrzeug zu und berührte es vorsichtig. Es fühlte sich genauso glatt an, wie es aussah. Wie konnte es fahren, ohne von einem Pferd gezogen zu werden? Plötzlich fielen ihr die Geschichten ihrer Mutter wieder ein, die sie als Kind so geliebt hatte. Miriam hatte ihr von Menschen erzählt, die in solchen Wagen fuhren und sich sogar in die Lüfte erheben konnten wie die Vögel. Es waren nur Geschichten gewesen, obwohl Miriam ihrer Familie stets versichert hatte, dass sie der Wahrheit entsprachen.
Aber das war lange her. In den letzten Jahren hatte Miriam nicht mehr über diese fremde Welt gesprochen, in der sie einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatte, und auch Aila hatte lange Zeit nicht mehr daran gedacht. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass die Welt, aus der sie kam, in der Zukunft lag, und sie hatte versucht, ihr zu erklären, wie weit diese Zukunft von ihrem Leben entfernt war.
Ailas Kopf begann zu schmerzen von den vielen Gedanken, die von allen Seiten auf sie einstürmten. Sie rieb sich über die Stirn, wie sie es immer tat, wenn ihr ihre Träume oder Gedanken zu viel wurden. Sie musste endlich herausfinden, wo sie war. Der Mann, der aus dem Wagen gestiegen war, kam zurück aus dem Haus und holte eine Kiste aus dem hinteren Teil des Autos. Er beachtete die junge Frau nicht, die nur wenig entfernt von seinem Auto stand. Seine rötlichen Haare waren kurz geschnitten, und er trug eine enge blaue Hose, deren Beine bis zu dem Schuhwerk reichten, das aus glänzendem Leder gefertigt war. Aila sprach ihn an.
»Ich bin Aila, die Tochter von Calach und würde gerne wissen, in welchem Dorf ich hier bin.« Der Mann vor ihr betrachtete sie nachdenklich. Das Mädchen war auffallend hübsch, auch wenn es etwas zerzaust wirkte. Die langen rotgoldenen Locken, die ihr über die schmalen Schultern fielen, waren ungekämmt, und sie trug schlichte Sandalen an ihren Füßen, die wie selbst gefertigt aussahen. Ob sie eine Touristin war? Um allein zu reisen, war sie eigentlich zu jung. Sicher hatte sie sich verlaufen und war auf der Suche nach ihrer Unterkunft. Viele Touristen kamen den Sommer über hierher, um durch das Hochland zu wandern oder es mit dem Mountainbike zu durchqueren.
Still stand das Mädchen vor ihm und wartete auf seine Antwort.
Die Sprache, die sie gesprochen hatte, war ihm fremd, und er hatte kein Wort verstanden. »Sprichst du auch englisch?«, fragte er zurück und sah ihr in die großen, grauen Augen. Das Mädchen erwiderte seinen Blick, sagte aber nichts. Sie sah traurig aus, und er lächelte ihr aufmunternd zu. »Wenn du immer geradeaus gehst, bis du an der Kirche bist, gelangst du zu unserer Touristikinformation, dort kann man dir bestimmt helfen.« Er wies die Straße hinunter und zuckte mit den Achseln. »Ich wüsste nicht, wie ich dir weiterhelfen kann, wenn du mich nicht einmal verstehst.«
Er drehte sich um und ließ Aila stehen. Sie hat mir ja nicht einmal den Namen ihres Hotels oder ihrer Pension genannt, dachte er. Aila sah ihm nach, bis er im Inneren des Hauses verschwunden war. Dann erst setzte sie ihren Weg fort. Was hatte sie diesen Menschen getan, dass sie ihr die Gastfreundschaft verweigerten? Unfreundlich waren sie nicht, nur unhöflich und abweisend. Sie konnte es nicht verstehen. Sie war allein und ohne Schutz und wollte doch nur wissen, wie sie zurück nach Hause gelangen konnte.
Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie an Caru dachte. Sie vermisste ihn schrecklich. Sicher verstand er nicht, warum sie nicht mehr bei ihm war, genauso wenig, wie sie es selbst verstehen konnte.
Die Häuser standen immer dichter aneinander, je weiter sie ins Innere des Dorfes kam. Auch der Boden unter ihren Füßen hatte sich verändert. Er war grau und glatt. Menschen gingen achtlos an ihr vorbei. Sie schienen es eilig zu haben, denn sie liefen sehr schnell. Aila fiel auf, dass sie alle an der Seite des Weges gingen, und tat es ihnen nach. Bald bemerkte sie auch den Grund dafür. Wagen, die in allen Farben glänzten, fuhren in der Mitte, manche laut brummend, andere summten nur leise, wie ein Schwarm Bienen. Einige der Wagen hinterließen einen stinkenden Nebel, der noch eine Weile über dem Weg hing, bevor er sich auflöste. Sie staunte immer mehr. Die Häuser wurden jetzt höher und standen wie eine Mauer nebeneinander.
Nach einer Weile öffnete sich die Häuserfront und sie gelangte an einen großen Platz, der von einem mächtigen Haus mit einem hohen Turm beherrscht wurde. Sie war so fasziniert von dem Turm, dass sie ihre Müdigkeit vergaß. Lange staunte sie das Bauwerk an und überlegte, was für Menschen etwas so Beeindruckendes bauen konnten. Sie mussten in jedem Fall sehr klug sein.
Auf dem Platz vor dem Haus saßen viele Menschen auf Stühlen und aßen und tranken gemeinsam. Aila beobachtete sie eine Weile und stellte fest, dass einige sich allein an einen Tisch setzten, andere zu zweit oder mit ihren Kindern, ohne von den Bewohnern der Häuser dazu aufgefordert zu werden. Nach einer Weile kamen die Leibeigenen aus den Häusern und brachten ihnen etwas zu essen. Ailas Stimmung hob sich. Ihr Magen gab ein unmissverständliches Geräusch von sich, und ihre Kehle war ganz ausgetrocknet. Zögernd trat sie auf einen Tisch zu, an dem ein Mann und eine Frau mittleren Alters saßen. Die Leute sahen sie an, sagten aber nichts. Sie lächelte ihnen freundlich zu und setzte sich auf einen der beiden freien Stühle.
»Mein Name ist Aila und ich bin die Tochter von Calach«, sagte sie zu der Frau, die sie unverwandt anstarrte. Als ihre Augen sich trafen, senkte die Frau den Blick und wandte sich ihrem Mann zu, der beruhigend ihre Hand drückte.
»Wir würden es vorziehen, alleine zu essen«, sagte er zu dem Mädchen, das einen ungewohnten Geruch verströmte.
Aila lächelte ihm zu. Sie verstand nicht, was er ihr sagen wollte. In diesem Moment kam eine der Leibeigenen und stellte eine schlanke Karaffe mit Wasser auf den Tisch, die so klar war, dass man durch sie hindurchsehen konnte, dazu zwei Trinkbecher aus dem gleichen Material. Nach einem Blick auf das Mädchen lief sie zurück ins Haus und kam mit einem weiteren Trinkbecher zurück, den sie wortlos auf den Tisch stellte. Sie nahm die Karaffe und füllte die Becher. Anschließend reichte sie jedem der drei eine Karte.
Aila beobachtete, wie der Mann und die Frau das hauch-dünne Etwas nahmen und es genau betrachteten. Sie zögerte einen Moment, dann tat sie es ihnen nach. Die Karte fühlte sich glatt an und war mit Buchstaben bedeckt, die sie nicht lesen konnte. Plötzlich wurde ihr klar, dass es so etwas wie eine Schriftrolle sein musste, wie manche der Händler sie mit sich führten. Der Mann und die Frau redeten leise miteinander und beachteten sie nicht weiter. Aila beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Ob sie irgendetwas falsch gemacht hatte? Die Menschen hier verhielten sich ihr gegenüber merkwürdig, und sie sahen nicht so aus, wie sie sich die Römer vorgestellt hatte. Sie waren weder dunkel, noch klein, und sie hatten auch keine schwarzen Augen. Ihre fein gewebten Kleider leuchteten in allen Farben, und sie trugen glänzendes Schuhwerk an ihren Füßen. Als die Frau nach ihrem Trinkbecher griff, nahm Aila ebenfalls ihren Trinkbecher und trank einen großen Schluck. Ihre Kehle begann zu kribbeln, und sie verschluckte sich. Erschrocken sprang sie auf und stieß dabei ihren Becher um. Das Getränk schmeckte wie Wasser, aber es hinterließ ein komisches Gefühl im Hals.
Der Mann und die Frau sahen sie abweisend an, sagten aber nichts. Aila fasste sich wieder und setzte sich zurück auf ihren Stuhl.
Die Leibeigene kam an den Tisch, wischte mit einem Tuch die verschüttete Flüssigkeit auf und stellte den Trinkbecher wieder vor sie hin. Sie nahm die Karten an sich und hörte aufmerksam dem Mann zu, der ihr anscheinend einen Befehl gab. Nachdem die Frau ebenfalls etwas zu der Leibeigenen gesagt hatte, wandte sie sich auffordernd an Aila. Aila nickte ihr freundlich zu, als die junge Frau sie ansprach. Die Leibeigene drehte sich um und lief wieder ins Haus. Kurze Zeit später kam sie mit drei Tellern in der Hand zurück und stellte sie auf den Tisch. Wieder sagte der Mann etwas zu ihr, worauf sie einen weiteren Teller mit Essbesteck brachte. Aila betrachtete hungrig den Teller, der vor ihr stand. Das Essen sah fremd aus, aber es roch köstlich. Sie beobachtete, wie der Mann das Essbesteck nahm und ein kleines Stück von dem Fleisch abschnitt.
Aila gab sich große Mühe, sich an die offenbar hier herrschenden Sitten zu halten, aber es gelang ihr nicht, das Fleisch so zu schneiden, wie der Mann und die Frau an ihrem Tisch es vormachten. Das Messer, das man ihr gegeben hatte war stumpf und nach vorne hin abgerundet – wie sollte man damit schneiden? Als sie sich einen Moment unbeobachtet glaubte, riss sie das Fleisch rasch mit ihren Fingern auseinander und steckte sich ein Stück davon in den Mund. Es schmeckte so salzig, dass sie vorsichtig einen Schluck von dem Wasser trank. Nun war sie vorbereitet auf das Kribbeln in ihrem Hals. Höflich lächelte sie den Mann an, der etwas freundlicher zu sein schien als die Frau, die ihren Blick fest auf den Teller vor ihr gerichtet hielt. Der Mann erwiderte ihr Lächeln nicht und aß schweigend weiter.
Aila verspürte plötzlich keinen Hunger mehr. Sie war es nicht gewöhnt, so abweisend behandelt zu werden. Traurig betrachtete sie das Treiben um sich herum. Frauen schoben ihre Kinder in kleinen Wagen mit großen Rädern vor sich her. Manche trugen ihr Haar kurz, andere lang. Mit offenem Mund starrte sie einer jungen Frau hinterher, die eine so kurze Bluse trug, dass man einen Teil ihres flachen Bauches sehen konnte. Ihre langen Beine steckten in einer hautengen Hose. Doch das war noch nicht alles. Unter ihren Schuhen befanden sich kleine Stöcke, die bei jedem Schritt klapperten und sie größer aussehen ließen, als sie tatsächlich war.
Die junge Frau blieb stehen und sah sich suchend um. In diesem Moment trat ein dunkelhaariger Mann auf sie zu und nahm sie lachend in den Arm. Er küsste sie vor allen Menschen auf den Mund und legte frech eine Hand auf ihr Hinterteil. Aila konnte kaum glauben, was sie sah. Sie wandte ihren Blick von dem Pärchen ab, um zu sehen, wie der Mann und die Frau an ihrem Tisch reagierten, doch die beiden waren nicht mehr da. Sie waren ohne ein Wort des Abschieds einfach gegangen.
Aila stiegen die Tränen in die Augen. Inmitten der vielen Menschen um sich herum fühlte sie sich einsam wie noch nie in ihrem Leben. Unentschlossen stand sie auf und überlegte, was sie jetzt tun sollte.
Plötzlich stand die Leibeigene neben ihr und hielt ihr ein Blatt hin. Aila nahm es höflich entgegen und lächelte der Frau freundlich zu. Dann drehte sie sich um und wollte gehen, doch die Leibeigene packte sie grob am Arm und hielt sie fest. Ihre Stimme klang aufgeregt und schrill. Aila verstand nicht, was sie sagte, aber der Ton war mehr als unangemessen für eine Leibeigene. Stolz richtete sie sich auf. Sie war die Tochter eines Gaufürsten und konnte es nicht dulden, dass eine Bedienstete in diesem Ton zu ihr sprach. Mit einer heftigen Bewegung wischte sie die Hand des Mädchens von ihrem Arm.
»Ich bin Aila, die Tochter von Calach. Wage es nie wieder, so mit mir zu reden«, sagte sie. Ihre Augen funkelten die Leibeigene zornig an. Dann drehte sie sich um und verließ mit stolz erhobenem Kopf den Tisch. Sie war erst wenige Meter gegangen, als sie von hinten festgehalten wurde. Zwei Männer standen neben ihr. Aila wurde von oben bis unten gemustert.
»Du hast deine Rechnung noch nicht bezahlt«, sagte Ron McLeod, der ältere der beiden Männer, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Wütend blitzte Aila ihn an. Doch nach einem Blick in die harten Augen des Mannes wurde ihr ganz mulmig im Bauch.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie leise, während ihr die Tränen über die Wangen strömten.