Читать книгу Das Vermächtnis des Raben - Hildegard Burri-Bayer - Страница 8
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ОглавлениеSie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie erwachte. Voller Angst schlug sie die Augen auf und schnappte gierig nach Luft. Der schreckliche Nebel war verschwunden, wie sie erleichtert feststellte. Benommen blieb sie noch eine Weile liegen. Sie war eingeschlafen und hatte geträumt, doch warum fühlte sie sich so matt nach diesem Traum? Ihr war schwindelig und elend, wie damals, als sie krank gewesen war. Suchend sah sie sich um. Wo war Caru? Er hatte sich noch nie von ihr entfernt, wenn sie schlief. Von dem grauen Hund war nichts zu sehen.
»Caru, wo bist du?« Ihre helle Stimme schallte über die Wiese, doch niemand antwortete, oder kam freudig auf sie zugesprungen. Der düstere Traum hielt sie immer noch gefangen. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, und sie verspürte brennenden Durst. Immer wieder rief sie den Namen des Hundes, während sie sich auf den Weg zu einem der zahllosen Bäche machte, die das Hochland durchzogen. Doch Caru blieb verschwunden.
Nachdem sie ihren Durst gelöscht hatte, sah sie sich genauer um und stellte fest, dass sich die Landschaft verändert hatte. Der Wald um sie herum war hell und licht. Was war nur geschehen? Beunruhigt machte sie sich auf den Rückweg, während sie weiter nach ihrem treuen Freund rief. Viel zu schnell erreichte sie den Waldrand und starrte fassungslos auf die riesige Heidelandschaft um sich herum. Die vorher noch dicht bewaldeten Hügel waren kahl, wenn man von den vereinzelten Bäumen absah, die einen jämmerlichen Anblick boten.
Erschrocken zuckte sie zusammen, als ein Birkhuhn neben ihr aufflog und sich kreischend in die Lüfte erhob. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder, doch die Bäume blieben genauso verschwunden wie Caru. Ihr Magen zog sich zu einem dicken Klumpen zusammen. Aila fühlte sich einsam wie noch nie in ihrem Leben, und sie hatte Angst. Angst vor dem, was mit ihr geschehen war, und vor dem, was noch kommen würde. Sehnsucht nach dem sanften Barco stieg in ihr hoch, doch auch er kam nicht, um sie zu trösten. Tapfer bemühte sie sich, ihre Verzweiflung zu unterdrücken, und lief weiter in Richtung Dorf. Der Weg unter ihren Füßen war ihr fremd. Vielleicht hatte sie sich verlaufen? Im gleichen Moment, in dem der Gedanke in ihrem Kopf war, wusste sie, dass sie sich etwas vormachte. Zu oft war sie diesen Weg schon gegangen, genau wie alle anderen Wege hier in der Gegend. Dass sie sich verlaufen hatte, war unmöglich.
Sie lief, bis es dunkel war und ihre Füße von dem ungewohnten Untergrund zu schmerzen begannen. Die wadenhohe Heide bestand überwiegend aus ineinander verschlungenem Geäst, das ihre Beine blutig kratzte. Sie hatte Hunger und verstand nicht, was mit ihr geschehen war. Tränen der Verzweiflung rollten über ihre Wangen, als sie sich neben einen Baumstamm sinken ließ. Müde rollte sie sich unter der verkrüppelten Kiefer zusammen und zog ihren Umhang fester um ihre Schultern. Dann fiel sie in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Als Aila am nächsten Morgen von dem Gezeter zweier Birkhühner geweckt wurde, waren ihre Kleider feucht und klamm. Zitternd vor Kälte erhob sie sich. Der Himmel war von einer dicken grauen Wolkenschicht bedeckt, die der Landschaft etwas Schwermütiges verlieh und zu ihrer Stimmung passte. Aila hätte gern ein Feuer entzündet, doch sie hatte keinen Feuerstahl dabei.
Ihr Magen gab ein knurrendes Geräusch von sich, und sie vermisste Caru, von dem sie noch nie lange getrennt gewesen war. Suchend sah sie sich um. So sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, einen Anhaltspunkt dafür zu finden, welche Richtung sie nehmen sollte, und sie entdeckte auch sonst keinen vertrauten Anblick. Traurig und frierend ging sie weiter und wanderte über fremd aussehende, kahle Hügel und durch weite Täler. Nur wenige Male legte sie eine Pause ein, um ihren Durst an einem der Bäche oder Flüsse zu stillen, an denen sie vorbeikam. Nachts schlief sie unter Bäumen, deren Äste und Zweige ihr ein wenig Geborgenheit gaben. Die endlose Einsamkeit um sie herum begann sie zu erdrücken, aber was noch schlimmer war, sie konnte die Götter nicht mehr spüren. Sie dachte darüber nach, ob es etwas mit ihrer Aufgabe zu tun hatte. Hatten die Götter sie verlassen, um sie zu prüfen?
Sie fand einige Wurzeln, die sie mit einem spitzen Ast ausgrub und hungrig verzehrte. Am Nachmittag bahnte sich die Sonne einen Weg durch die dichte Wolkendecke, und Aila genoss die Wärme. Sie wanderte weiter, bis es dunkel geworden war, und suchte sich ihr Nachtlager wie schon in den Nächten zuvor unter einem Baum. Nachdem sie sich in ihren Umhang gewickelt hatte, fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu.
In ihren Träumen erschien Mog Ruith. Er sah durch sie hindurch, obwohl er direkt vor ihr stand. Aila überlegte, was der Traum bedeuten könnte. Alle Träume, die der Druide ihr schickte, hatten eine Bedeutung. Wollte er ihr zeigen, dass er bei ihr war? Sie breitete ihre Arme aus und konzentrierte ihre Gedanken auf ihn, so wie sie es gelernt hatte, doch sie erhielt keine Antwort. Trotzdem fühlte sie sich etwas besser, als sie ihren Weg fortsetzte, in der Hoffnung, endlich auf Menschen zu treffen.
Sie kam an einem funkelnden See vorbei und beschloss, dort zu rasten und ihre schmerzenden Füße zu kühlen. Gerade hatte sie sich auf dem weichen Ufersand niedergelassen, als sie Schritte hinter sich vernahm. Voller Erwartung drehte sie sich um. Vor ihr stand ein Mann mittleren Alters, der einen dünnen, schwarzen Stock in der Hand hielt.
»Guten Tag«, grüßte John Lansbury freundlich, während er das Mädchen neugierig musterte. »Ich wollte ebenfalls eine kurze Rast an diesem wunderschönen See einlegen und hoffe, Sie haben nichts dagegen.« Ihre Blicke trafen sich, und eine Weile sahen die beiden sich an. Er ist unbewaffnet und sieht freundlich aus, dachte Aila. Ihr Blick wanderte über seine fein gewebten Kleider. Das Hemd war leuchtend rot, genau wie die Hosenbeine, die er trug. Der dünne schwarze Stock, den er bei sich hatte, besaß eine scharfe Spitze, aber er sah nicht wie eine Waffe aus. Ob man damit Fische fangen konnte? Er hatte sie in einer Sprache angesprochen, die sie nicht verstand. Seine warmen braunen Augen erwarteten ihre Antwort.
»Ich bin Aila, die Tochter von Calach, und habe den richtigen Weg verloren. Kannst du mir helfen?«, fragte sie.
Die dunklen Augenbrauen des Mannes schoben sich erstaunt nach oben. Das Mädchen hatte gälisch gesprochen, eine Sprache, die kurz vor dem Aussterben stand und nur noch an wenigen Schulen unterrichtet wurde.
»Sprichst du kein Englisch?«, versuchte er es noch einmal. Das Mädchen schüttelte den Kopf und zuckte leicht die Achseln. John Lansbury ließ sich ein Stück von ihr entfernt nieder und nahm seinen Rucksack vom Rücken. Er öffnete ihn und holte seine Trinkflasche heraus. Durstig trank er einen großen Schluck, bevor er die Flasche neben sich in den Sand legte. Er versuchte sich einige gälische Vokabeln ins Gedächtnis zu rufen, doch es war zu lange her.
Das Mädchen beobachtete ihn ruhig. Sie war wunderschön in ihren seltsamen Kleidern, wie eine Elfe aus einer anderen Welt. Er konnte kein Gepäck bei ihr entdecken, und soweit er wusste, befand sich kein Dorf in der Nähe. Das war der Grund, warum er diese Gegend zum Wandern ausgewählt hatte, weit entfernt von dem üblichen Touristenrummel. Er war ein viel beschäftigter Anwalt, und das Wandern war seine Art der Entspannung, die er sich leider viel zu selten gönnte. Ob das Mädchen tatsächlich alleine unterwegs war? Er hatte niemanden außer ihr gesehen.
Die Sonne war hinter einer dicken Wolkenschicht hervorgekommen und verwandelte das Wasser des Sees in einen glitzernden Traum. Er nahm eine Plastikdose mit belegten Broten aus seinem Rucksack und öffnete sie. Auffordernd hielt er sie dem Mädchen hin. »Möchtest du etwas essen? Ich habe genügend Brote mitgenommen, sie werden für uns beide reichen.« Aila lächelte ihn dankbar an und nahm eines der Brote. Hungrig biss sie hinein. Das Brot war dick mit Käse belegt und schmeckte köstlich. Sie verzehrte es mit großem Appetit. Sie wirkte regelrecht ausgehungert, und er bot ihr ein zweites Brot an, das sie sofort nahm. Was machte ein so junges Mädchen in einer einsamen Gegend wie dieser hier? Ob sie sich verirrt hatte? Wieder bemühte er sich, aus den wenigen Vokabeln, die er kannte, einen Satz in seinem Kopf zu bilden, doch es gelang ihm nicht.
Als sie auch das zweite Brot gegessen hatte, versuchte er es mit Zeichensprache. »Wohin gehst du?«, fragte er und wies mit dem Finger erst auf ihre Brust und anschließend in die verschiedenen Himmelsrichtungen. Das Mädchen sah ihn an und schüttelte wieder den Kopf. Sie schien sich tatsächlich verlaufen zu haben.
»Möchtest du, dass ich dir den Weg zum nächsten Ort zeige?«, fragte er weiter. In ihren Augen sah er, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Er nahm seinen Stock und malte einige Häuser in den Sand. Diesmal schien sie ihn zu verstehen, denn sie nickte mehrmals. John erhob sich und packte die Dose und die Trinkflasche in den Rucksack. Das Mädchen war ebenfalls aufgestanden. Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander her. Aila hatte keine Mühe, mit ihm Schritt zu halten, wie er es insgeheim befürchtet hatte. Bei jedem Schritt stieß John den Stock in den Boden, als wollte er sich darauf stützen. Aila hätte zu gern erfahren, warum er das tat, und sie bedauerte, dass sie ihn nicht danach fragen konnte.
Die Sonne, die sich immer wieder einen Weg durch die Wolken brach, stand schon hoch am Himmel, als sie den Gipfel des nächsten Hügels erreichten. Von oben sahen sie unzählige Schafe, die wie kleine weiße und schwarze Punkte auf den Hängen verteilt grasten. Dann entdeckte sie die Zäune, die sich quer durch die ansonsten unberührte Landschaft zogen. Die Menschen hier mussten sehr reich sein, wenn sie so viele Schafe besaßen, und sorglos noch dazu, denn sie konnte weit und breit niemanden sehen, der auf die Tiere achtete. Sie fand es merkwürdig, machte sich aber weiter keine Gedanken darüber. Der Anblick der Schafe hatte sie etwas beruhigt. Wo Schafe waren, konnten die Siedlungen nicht weit sein. Sicher würde sie bald auf Menschen treffen und erfahren, wo sie überhaupt war.
John blieb stehen und wies auf den schmalen Weg, der sich ins Tal hinunterschlängelte und wieder den nächsten Hügel hinauf. Von dort aus konnte man Inverurie sehen. Es waren höchstens noch drei Stunden zu laufen, und das Mädchen konnte gefahrlos alleine weitergehen. Der kleine Ort, in dem seine Frau ihn erwartete, lag in der entgegengesetzten Richtung, und er würde ein scharfes Tempo einschlagen müssen, wenn er ihn noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollte. Mary Ann würde sich Sorgen machen, wenn er so spät bei ihr eintraf. Sein Handy hatte im Hochland keinen Empfang, und er konnte sie nicht einmal anrufen, um sie zu beruhigen.
»Du brauchst nur diesem Weg zu folgen, dann kommst du nach Inverurie«, sagte er.
Aila schien ihn zu verstehen. »Ich möchte dir für deine Freundlichkeit danken.« Sie lächelte ihm noch einmal zu, bevor sie sich von ihm abwandte und mit großen Schritten den Hügel hinunterlief. John sah ihr nachdenklich nach. In Gedanken wünschte er ihr Glück. Ein Mädchen wie dieses hatte er noch nie getroffen, und fast tat es ihm Leid, dass er nicht mehr über sie erfahren hatte. Er dachte eine Weile darüber nach, was es war, das ihn so an ihr faszinierte, doch er fand keine Erklärung dafür.