Читать книгу Das Vermächtnis des Raben - Hildegard Burri-Bayer - Страница 11
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ОглавлениеAls Aila am nächsten Morgen erwachte, sah sie sich erschrocken um. Es dauerte einen Moment, bis ihr die Geschehnisse vom Vortag wieder einfielen. Ein Geräusch drang an ihre Ohren und lenkte ihren hoffnungsvollen Blick auf die Tür. Würde man sie jetzt endlich freilassen? Doch ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Ein Beamter öffnete die Zellentür, reichte ihr eine Schale mit Essen und verließ den Raum sofort wieder. Aila starrte auf die gelbliche Masse, die sich in der Schale befand, und ließ sie gleichgültig zu Boden fallen.
Sehnsüchtig blickte sie zur Tür. Wie gern würde sie jetzt mit Caru durch den Wald laufen und die frische, würzige Luft einatmen. Die Enge in dem kleinen Raum war nur schwer für sie zu ertragen und zerrte an ihren Nerven.
Wieder wurde die Türe geöffnet, und Ron McLeod betrat den Raum. Er sagte einige Worte zu ihr, die nicht unfreundlich klangen, und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Aila beeilte sich, seiner Aufforderung nachzukommen. Sie lief neben ihm her durch den langen Gang bis zu dem Zimmer, in dem sie schon am Vortag gesessen hatte.
Ron McLeod forderte sie auf sich zu setzen und nahm ebenfalls auf seinem Stuhl Platz. Er hatte seiner Frau von der seltsamen Touristin erzählt, denn das Mädchen war ihm den ganzen Abend nicht aus dem Kopf gegangen. Er wollte herausfinden, wer sie war, und hatte beschlossen, aus diesem Grund ein Foto von ihr in den Zeitungen zu veröffentlichen.
Wenn sie nicht aus Schottland stammen sollte, musste sie ja irgendwie nach Inverurie gekommen sein: mit dem Bus, der Bahn oder dem Flugzeug. Sie hatte ein Gesicht, das man nicht so schnell vergaß, und er war überzeugt davon, auf diese Weise das Rätsel ihrer Herkunft lösen zu können.
Die Journalisten ließen nicht lange auf sich warten. Einer nach dem anderen betrat, gefolgt von einem Fotografen, das Vernehmungszimmer. Ron McLeod begrüßte sie und wies dann auf Aila, die schweigend auf ihrem Stuhl saß. Aila zuckte erschrocken zusammen, als die Blitzlichter aufleuchteten. Sie hatte keine Angst vor den Kameras, nur die daraus hervorschießenden Blitze waren ihr unheimlich. Ihr Gefühl sagte ihr jedoch, dass sie nicht in Gefahr war, und so ließ sie die Fotosession ergeben über sich ergehen. Sie war nur von dem einen Wunsch beseelt, endlich aus diesem Haus herauszukommen, und bereit, alles dafür zu tun, was man von ihr verlangte.
Während die Fotografen ihre Bilder schossen, bestürmten die Journalisten Ron McLeod mit Fragen über das Mädchen, dessen außergewöhnliche Schönheit sie sofort in ihren Bann gezogen hatte. Der Polizist war darauf vorbereitet.
»Meine Herren, beruhigen sie sich bitte. Das Mädchen ist gestern Abend hier aufgetaucht und hatte keinerlei Papiere bei sich, die uns Aufschluss über ihre Herkunft geben könnten. Es scheint so, als hätte sie Lücken in ihrer Erinnerung. Aus diesem Grund benötigen wir die Hilfe der Bevölkerung.«
Die Journalisten gaben sich mit der Antwort zufrieden und verließen einer nach dem anderen das Zimmer. Ron McLeod wollte schon erleichtert aufatmen, als die Tür des Vernehmungszimmers erneut geöffnet wurde und ausgerechnet Walter Scott noch einmal zurückkehrte. Er arbeitete für eine der größten Zeitungen Großbritanniens.
»Ich hätte noch eine Frage an die Kleine«, sagte er, schaltete sein Diktiergerät ein und hielt es Aila unter die Nase. »Sagen Sie unseren Lesern, an was Sie sich noch erinnern können. Wie wäre es zum Beispiel mit Ihrem Namen oder wenigstens dem Vornamen, oder was noch besser wäre, nennen Sie uns den Grund für Ihre Erinnerungslücken.«
Zufrieden blickte er ihr ins Gesicht. Er brauchte den Vorsprung vor seinen Kollegen, und der Trick, den er des Öfteren anwandte, war einfach, aber er funktionierte. Jedes Mal verließ er als einer der Ersten mit gelangweilter Miene die Pressekonferenz, um anschließend noch einmal zurückzukehren und den zu interviewenden Personen noch irgendeinen Knüller zu entlocken oder notfalls in den Mund zu legen.
Ron McLeod gefiel die Situation ganz und gar nicht. Er konnte Journalisten nicht ausstehen. Wie Aasgeier fielen sie über jede eventuelle Sensation her, um sie ohne Rücksicht auf Verluste auszuschlachten, aufzubauschen oder zu verdrehen. Und Walter Scott war einer der Schlimmsten von ihnen. Wenn er ihn jetzt hinauswarf, würde er mehr hinter der Story wittern, als sie wahrscheinlich hergab. Andererseits wollte er nicht, dass gerade dieser Journalist herausfand, dass das Mädchen nur gälisch sprach. Er konnte aber nicht genau sagen, warum ihn der Gedanke daran störte, und so beschloss er, diplomatisch vorzugehen.
»Ich möchte Sie bitten, uns jetzt allein zu lassen. Wir sind mit der Vernehmung noch nicht fertig und wollen das Mädchen auch nicht überfordern. Sie können später ein Interview mit ihr bekommen, wenn Sie so großen Wert darauf legen.« Auffordernd sah er den Journalisten an. Walter Scott warf dem Mädchen noch einen abschätzenden Blick zu. Sie hatte nicht ein Wort mit ihm gesprochen. Widerwillig verließ er den Raum und wäre im Gang beinahe mit Professor Williams zusammengestoßen. Überrascht sah er den Professor an, den er von früheren Interviews her kannte. War es Zufall, dass er gerade jetzt hier auftauchte? Oder wusste er etwas über das Mädchen? Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
»Hallo, Herr Professor, wie geht es Ihnen. Dürfen wir bald auf weitere Publikationen von Ihnen hoffen?«
»Es wird noch eine Weile dauern, aber wenn es so weit ist, werde ich Sie anrufen«, versprach Professor Williams. »Was halten Sie denn von dem Mädchen?«, fragte er zurück. »Es ist schon seltsam, dass sie nur gälisch spricht und das auch noch mit dieser ungewöhnlichen Betonung und einem seltsamen Dialekt. Wenn sie spricht, klingt die Sprache ganz anders, viel weicher, als ich es für möglich gehalten hätte.«
Er geriet beinahe ins Schwärmen. Der Gedanke an das Mädchen hatte ihm keine Ruhe gelassen. Er musste unbedingt noch einmal mit ihr sprechen, um mehr über die alte Sprache herauszufinden. Er hatte ein Aufnahmegerät mitgebracht und wollte sie darum bitten, das Gespräch aufnehmen zu dürfen.
»Ist das wahr? Die Kleine spricht nur gälisch und versteht kein Englisch?« Walter Scotts Gedanken überschlugen sich beinahe vor Aufregung. Er hatte wieder einmal Recht gehabt, der Sache nachzugehen. Welchen Grund konnte Ron McLeod haben, den Journalisten diesen Punkt zu verschweigen? Er konnte förmlich riechen, dass sich mehr hinter der Angelegenheit verbarg, als der Polizist zugeben wollte.
»Sie ist ein außergewöhnlich schönes Mädchen, was hat sie denn noch gesagt?«, wollte er von dem Professor wissen. Professor Williams war erfreut über das Interesse des Journalisten und sah keinen Grund ihm die Antwort auf seine Frage zu verweigern. »Eine Merkwürdigkeit gab es noch«, begann er. Walter Scott warf ihm einen aufmunternden Blick zu und schaltete sein Diktiergerät ein. »Wie Sie ja wissen, gehöre ich nun einmal zu den wenigen Menschen, die diese alte Sprache fließend sprechen, und ich war ziemlich überrascht, als sie mir in Gälisch geantwortet hat. Sie hat mich so vertrauensvoll angesehen wie ein Kind. Als ich sie dann nach ihrem Namen gefragt habe, sagte sie, sie sei die Tochter von Calach, einem Feldherrn, dessen Name mir nicht bekannt ist. Auf die Frage nach ihrem Wohnort erzählte sie mir, dass sie in einem Dorf lebt, in dem alle Bewohner gälisch sprechen. Den Namen des Dorfes konnte sie mir allerdings nicht sagen.« Er sah den Journalisten an. »Das war eigentlich schon alles. Ich bin gespannt, ob wir heute mehr über ihre Herkunft herausfinden werden. Es war schön, Sie zu treffen, wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen.«
Er reichte Walter Scott die Hand und ging an ihm vorbei ins Vernehmungszimmer. Walter Scott sah ihm nach. Dann drückte er den Knopf seines Diktiergerätes auf Stopp. Für den Anfang hatte er genug erfahren. Er würde Professor Williams später anrufen, um weitere Informationen von ihm zu erhalten.
Ron McLeod sah überrascht auf, als Professor Williams das Zimmer betrat. »Guten Morgen«, wünschte der Professor freundlich und reichte Aila die Hand. »Ich würde gern noch einmal mit dem Mädchen reden«, sagte er an Ron McLeod gewandt. »Sie haben doch nichts dagegen?«
»Ganz und gar nicht. Je eher wir herausfinden, wer sie ist, umso besser«, bekam er zur Antwort. »Ich habe Fotos von ihr machen lassen, die bereits morgen in den Zeitungen veröffentlicht werden. Es wird sich schon jemand melden, der sie kennt, da bin ich ganz sicher.«
Professor Williams setzte sich neben Aila und sah sie freundlich an. »Wie geht es dir heute Morgen? Ich hoffe, die Nacht in der Zelle war nicht zu unangenehm für dich.«
Ailas schöne Augen füllten sich mit Tränen. Die Anteilnahme des Professors tat ihr gut. »Ich bin in einen schrecklichen, kleinen Raum gesperrt worden, die Enge darin hat mich beinahe erdrückt. Was habe ich den Menschen hier nur getan, dass sie mich so behandeln? Ich möchte nach Hause. Kannst du mir helfen aus diesem Haus herauszukommen?« Bittend sah sie den alten Mann an.
»Ich werde es versuchen, doch es wird nicht ganz leicht werden. Die Beamten möchten wissen, wer du bist und wo du herkommst. Du hast das Restaurant verlassen, ohne deine Rechnung zu bezahlen. Damit hast du dich strafbar gemacht.«
Aila verstand nicht, was er meinte. »Ich habe dir doch gesagt, wer ich bin. Bitte hilf mir von hier fortzukommen, ich habe niemandem etwas getan.«
Professor Williams überlegte eine Weile. Ihm war nicht entgangen, dass Ron McLeod mehrmals einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte. Sicher hatte der Beamte noch andere Dinge zu tun, als sich um das Mädchen hier zu kümmern.
»Wäre es möglich, dass ich das Mädchen mit zu mir nehme? Ich könnte mich in aller Ruhe mit ihr unterhalten und Ihnen dann Bericht erstatten«, bat er. Die Idee war ihm gerade erst gekommen, aber sie gefiel ihm. Er hatte das Gefühl, dass es ein interessanter Tag werden würde. Seit dem Tode seiner Frau vor drei Jahren verbrachte er die meiste Zeit allein und widmete sich seinen Sprachforschungen. Nur selten verspürte er Lust, an den gesellschaftlichen Veranstaltungen teilzunehmen, zu denen er des Öfteren eingeladen wurde. Die dort vorherrschende Konversation war langweilig und interessierte ihn nicht sonderlich. »Ich würde selbstverständlich die Rechnung des Mädchens übernehmen und den Besitzer des Restaurants bitten, die Anzeige zurückzuziehen«, fügte er hinzu.
Ron McLeod überlegte einen Moment. »Ich denke, das lässt sich machen, ich muss allerdings eine Bedingung daran knüpfen: Fragen Sie das Mädchen, ob es bereit ist, solange bei Ihnen zu bleiben, bis wir ihre Identität geklärt haben.«
Professor Williams war zufrieden mit der Antwort des Polizeibeamten. Lächelnd sah er Aila an. »Ich kann dir deinen Wunsch erfüllen und dich von hier fortbringen, vorausgesetzt, du kommst mit zu mir und bleibst dort, bis alle Fragen geklärt sind. Wir könnten uns in Ruhe unterhalten und überlegen, wie du wieder zurück nach Hause gelangst.«
Aila war mit allem einverstanden, was der Professor vorschlug. Sie hatte Vertrauen zu dem alten Mann und war davon überzeugt, dass er ihr helfen würde. Professor Williams erhob sich und verabschiedete sich von Ron McLeod.
»Sobald ich Näheres über sie in Erfahrung gebracht habe, rufe ich Sie an«, versprach er. Er konnte nicht ahnen, dass es ihm unmöglich sein würde, dieses Versprechen einzuhalten.