Читать книгу Das Vermächtnis des Raben - Hildegard Burri-Bayer - Страница 7

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Das flackernde Feuer tauchte den Raum in ein warmes Licht. Miriam starrte nachdenklich in die Flammen, die vor ihr auf und ab tanzten.

Lange Jahre des Friedens lagen hinter ihr, die sie glücklich und zufrieden mit ihrem Mann Calach und der gemeinsamen Tochter Aila im nördlichsten Teil des Caledonischen Hochlands verbracht hatte. Sie waren froh, dass die Römer angesichts des heftigen Widerstands der so genannten Barbaren alle Versuche aufgegeben hatten, den dünn besiedelten Norden zu erobern. Nur wenige Male hatte Miriam um das Leben ihres Mannes bangen müssen, wenn er mit seiner Gefolgschaft aufgebrochen war, um den verbündeten Fürsten gegen die Römer zu Hilfe zu eilen. Sie beherrschten freilich immer noch weite Teile des Landes, aber mittlerweile hatten sich die meisten der Gaufürsten mit ihnen arrangiert. Aufstände waren die Ausnahme geworden und wurden von den Römern niedergeschlagen, noch bevor die Nachricht davon bis in den hohen Norden dringen konnte.

Miriams Leben wurde vom Wechsel der Jahreszeiten bestimmt, und sie dachte nur noch selten an die seltsame Vergangenheit, die sich wie ein fast vergessener Traum in einem hinteren Teil ihres Gedächtnisses verbarg. Vor über siebzehn Jahren war sie ihrem Herzen gefolgt und hatte ein großes Abenteuer begonnen: Nach einer Zeitreise hatte sie die Bequemlichkeit des dritten Jahrtausends gegen das Leben mit einem Caledonischen Fürsten im ersten Jahrhundert nach Christus eingetauscht.

Sie genoss die Wärme, die von dem Mann an ihrer Seite ausstrahlte, und freute sich auf die Reise am morgigen Tag, die sie gemeinsam mit ihm unternehmen würde.

Boten hatten gemeldet, dass der Briganterfürst Venutius sich eine erbitterte Fehde mit Aneirin, dem Fürsten der Trinovanten, lieferte, die das Land weiter südlich bewohnten. Durch sein Amt als Vergobretos – der Vollstrecker der Urteile – hatte Calach die Pflicht, alles zu unternehmen, um den Streit zwischen den beiden Stämmen zu schlichten und die alten Bündnisse zu erneuern. Ein sorgenvoller Zug lag über Calachs Gesicht, als er sich an Miriam wandte. »Der lange Frieden gefällt den jungen Männern nicht. Immer mehr von ihnen verlassen uns, um sich in anderen Teilen des Landes den dort lebenden Fürsten zu verpflichten. Wenn das so weitergeht, werden in unserem Dorf bald nur noch alte Männer leben.«

Miriam musste lachen. Sie liebte die späten Abendstunden, an denen sie ihren Mann für sich allein hatte und gemütlich mit ihm am Feuer saß, um über die Ereignisse des Tages zu reden. »Ihr Männer seid alle gleich. Erst kämpft ihr für den Frieden, und jetzt, wo ihr endlich euer Ziel erreicht habt, sehnt ihr euch wieder nach Krieg.« Sie schmiegte sich enger an Calach und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund. »Es leben noch genügend junge Männer in unserem und auch in den umliegenden Dörfern, die so streitlustig sind, dass die nächste kleinere Fehde nicht weit entfernt sein kann, die sie wieder für eine Weile beschäftigen wird. Warum lässt du die Männer nicht auf den Feldern arbeiten? Den ganzen Tag verbringen sie mit Jagen und Trinken oder schleichen um die jungen Mädchen herum. Sie wären viel ruhiger, wenn sie regelmäßig arbeiten müssten.«

Calach bewunderte seine schöne, kluge Frau. Sie wusste zu allem etwas zu sagen, und oft schon hatte er auf ihre Worte gehört. Verliebt sah er ihr in die Augen.

»Sicher hast du Recht, doch die alten Bräuche besagen nun einmal, dass die Gefolgschaft eines Gaufürsten für die Jagd und den Krieg bestimmt ist. So war es seit jeher und wird es auch immer sein. Denk nicht so viel über die Angelegenheiten der Männer nach – erfülle lieber deine Pflicht als Ehefrau.« Er verschloss ihren Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss und zog sie sanft auf die gemeinsame Schlafstätte.

»Sitten und Gebräuche ändern sich im Laufe der Zeit«, murmelte Miriam zwischen zwei Küssen, doch Calach hörte ihr nicht mehr zu. Sie spürte seine Hände über ihren Körper wandern, fordernd und doch zärtlich. Mit einem gespielten Seufzer ließ sie sich von seiner Leidenschaft mitreißen und vergaß alles um sich herum. Sie liebte Calach wie am ersten Tag ihrer Begegnung und hatte es nie bereut, dass sie ihr altes Leben gegen diese Liebe eingetauscht hatte.

Als sie am nächsten Morgen aus dem Haus traten, bedeckten schwere graue Wolken den Himmel und der auffrischende Wind blies ihnen kühle Luft ins Gesicht. Miriams Wangen hatten sich gerötet, und ihre Augen blitzten vor Vergnügen. Sie war seit Jahren nicht mehr aus dem Dorf gekommen und würde die Reise fernab von ihrem alltäglichen Leben genießen. Während Calach die Pferde aufzäumte, verabschiedete Miriam sich von ihrer Freundin Ira. »Bitte vergiss nicht dein Versprechen, auf Aila zu achten«, sagte sie zum Abschied noch.

Die junge Frau lächelte ihr fröhlich zu und streichelte über die warmen Nüstern von Miriams Stute. »Es wäre leichter, auf den Wind zu achten, als auf deine Tochter, aber mit Hilfe der Götter wird es mir hoffentlich gelingen.« Grüßend hob sie die Hand und sah ihrem Bruder und seiner Frau immer noch lächelnd nach, als die beiden die Pferde bestiegen und langsam zum Tor hinausritten.

Der Wind spielte mit den rotgoldenen Locken des jungen Mädchens, das still zwischen den mächtigen Eichen stand. Wären die flatternden Haare nicht gewesen, hätte man sie für eine wunderschöne Statue halten können. Ihre weit geöffneten Augen blickten merkwürdig starr und schienen die Umgebung um sie herum nicht wahrzunehmen. Lange verharrte sie in der gleichen Haltung, bevor ihre Augen sich wieder mit Leben füllten. Lässig wandte sie sich um und strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Ihre Bewegungen waren geschmeidig wie die einer Katze und genauso leise.

Ohne auch nur auf einen einzigen der trockenen Äste unter ihren schmalen Füßen zu treten, verließ sie den heiligen Hain, der in dem schwindenden Licht der untergehenden Sonne noch düsterer wirkte als sonst. Ein großer grauer Schatten tauchte neben ihr auf und bewegte sich ebenso lautlos wie sie.

Sie war erschöpft, als sie das Dorf erreichte und sich auf ihre Bettstelle sinken ließ, ohne ihr Gewand abzulegen. Das Knistern des Feuers, das eine der Leibeigenen entzündet hatte, begleitete sie in den Schlaf. Sie bemerkte nicht mehr, wie Ira hereinkam und eine warme Decke über ihrem schmalen Körper ausbreitete. Vorsorglich legte Ira noch einige Holzscheite nach, bevor sie das Haus wieder verließ. Die Nächte wurden mit jedem Tag kälter und feuchter, und es würde nicht mehr lange dauern, bis der Wind auch die letzten bunten Blätter von den Bäumen fegte und die dunkle Jahreszeit begann.

Aila hatte seltsame Träume. Immer wenn Mog Ruith sie in den heiligen Hain rief, wurde sie anschließend von diesen Träumen gequält, die sie nicht verstehen konnte und die ihr Angst machten. Sie hatte mit Barco, dem Dudelsackspieler, darüber gesprochen, der ihr ein guter Freund geworden war. Barco hatte sie sanft aus seinen schräg stehenden dunklen Augen angesehen. »Vertraue Mog Ruith, er wird wissen, wie weit er dich führen kann.« Seine Worte ließen sie sofort ruhiger werden. Sie hatte großes Vertrauen zu dem Barden, der ein Schüler Mog Ruiths war. Er besaß die Gabe, immer im richtigen Moment zu erscheinen, als würde er genau wissen, wann sie seinen Trost oder einen Rat von ihm herbeisehnte.

Als sie an diesem Morgen erwachte, strich sie sich mit einer energischen Handbewegung über die Stirn, als wollte sie die dunklen Träume fortschieben, die ihre Gedanken immer noch umklammert hielten. Sie sprang aus dem Bett und öffnete die Türe, um die kühle Morgenluft einzulassen. Die Sonne erhob sich schwerelos hinter den Bäumen, die das Dorf umgaben.

Ailas Stimmung stieg. Es würde ein schöner Tag werden, und sie beschloss, ihn in ihrem geliebten Wald zu verbringen. Sie brach ein Stück von dem frisch gebackenen Brot ab, das auf dem Holzregal neben der Türe lag, und zog sich ihren Umhang über. Kauend lief sie zum Fluss, um sich zu waschen. Caru, der graue Kriegshund, folgte ihr auf Schritt und Tritt, wie er es von dem Tag an tat, als sie ihm furchtlos einen schmerzhaften Dorn aus der Pfote gezogen hatte. Doch das war lange her. Damals war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, und ihr Mitleid hatte über ihre Angst vor dem großen Tier gesiegt, das wütend jeden anknurrte, der sich ihm nähern wollte.

Sie hob einen Ast vom Boden auf und schleuderte ihn in den Fluss. Sofort jagte Caru dem Ast nach. Während sie sich in dem kalten Wasser Gesicht und Hände wusch, brachte Caru den Ast ans Ufer und legte ihn auffordernd vor sie auf den mit Steinen übersäten Ufersand. »Meinst du, dass du noch nicht sauber genug bist?« Lachend warf sie den Ast ein zweites Mal und sah zu, wie der Hund sich in das kalte Wasser stürzte. Dann zog sie einen dünnen Haselnusszweig aus dem Beutel an ihrem Gürtel und reinigte sorgfältig ihre Zähne, so wie Miriam es ihr schon als Kind beigebracht hatte.

Sie war gerade fertig, als die ersten Bewohner des Dorfes am Fluss eintrafen. Verico befand sich unter ihnen. Er war ein stürmischer junger Mann, der es kaum abwarten konnte, seine Prüfungen abzulegen, um endlich in die Reihen der Krieger aufgenommen zu werden. Er warf Aila einen feurigen Blick zu. Für ihn kam kein anderes Mädchen im Dorf als Calachs Tochter in Frage. Er liebte sie, seit er denken konnte, und trainierte härter als alle anderen, um der Beste zu sein, wenn der große Tag anbrechen würde. Es war seine einzige Chance, die Fürstentochter zur Frau zu bekommen. Er war sich sicher, dass Calach, der seine Tochter über alles liebte, niemals den Zweitbesten für Aila wählen würde.

Aila war sich bewusst, dass die Blicke des jungen Mannes ihr folgten, als sie sich erhob und in Richtung Wald lief. Verico war nicht der einzige Mann, der ihr nachsah, und sie genoss die Bewunderung der jungen Männer, die ihr ein Gefühl von Überlegenheit gab. Bei dem Gedanken daran, dass ihre Eltern noch eine ganze Weile fortbleiben würden, legte sich ein unbekümmertes Lächeln über ihre feinen Gesichtszüge. Niemand würde ihr Vorschriften machen, und für die nächsten Tage war sie von der langweiligen Nähstube befreit, in der sich alle unverheirateten Frauen und Mädchen beinahe täglich trafen, um zu nähen, zu weben und zu spinnen. Die Nähstube war das begehrte Ziel der jungen Männer, die ständig nach einem Vorwand suchten, um sich ihrer Angebeteten nähern zu können.

Aila machte einen großen Bogen um den heiligen Hain und lief tiefer in den Wald. Unterwegs pflückte sie einige Beeren, die sie hungrig verzehrte. Nach einer Weile öffnete sich der Wald und gab den Blick auf eine Lichtung frei, die von einer blühenden Wiese überzogen war. Die Lichtung war kreisrund und übte immer wieder eine starke Anziehungskraft auf Aila aus. Sie war überzeugt davon, dass sich hier ein Geheimnis verbarg; vielleicht hatte sie sogar einen der Zugänge in die andere Welt entdeckt. Jedenfalls liebte sie diesen Platz, den sie vor einiger Zeit gefunden hatte und an dem sie ungestört ihren Gedanken nachhängen konnte. Bisher hatte sie niemandem von dieser Lichtung erzählt, nicht einmal Barco. Er sollte ihr Geheimnis bleiben, ein Zufluchtsort, den sie ganz für sich allein behalten wollte.

Die Spitzen einiger schmaler, verwitterter Steine ragten aus den hohen Gräsern. Sie hätte zu gern gewusst, wer sie dort aufgestellt hatte und was sich dahinter verbarg. Ob Mog Ruith es ihr sagen konnte? Irgendwann einmal würde sie ihn danach fragen. Sie ließ sich in der Mitte des Kreises in das weiche Gras sinken und genoss den würzigen Duft der Kräuter, der über der Wiese hing. Dann rollte sie sich träge auf den Rücken und betrachtete gedankenverloren die kleinen weißen Wolken, die am Himmel trieben. Zu gern hätte sie die Wölkchen einmal berührt, um zu wissen, wie sie sich anfühlten. Ihre Mutter hatte ihr vor langer Zeit erklärt, dass Wolken nur aus Wasser bestanden, doch diese Vorstellung gefiel ihr nicht. Sie wollte, dass sie so weich und luftig waren, wie sie aussahen. Sie war stolz auf ihre kluge und schöne Mutter, die mehr wusste als die anderen Menschen in ihrem Dorf und die viel von ihrem Wissen an sie weitergegeben hatte. Trotzdem hatte sie die Erfahrung machen müssen, dass Wissen auch Träume zerstören konnte, und sie hatte sich schon oft gefragt, ob es das wirklich wert war.

Die Sonne stand jetzt hoch über ihr, und sie genoss die warmen Sonnenstrahlen, die auf ihr Gesicht fielen. Ihre Gedankengänge wurden träger, und ohne es zu bemerken, schlief sie ein. Mog Ruith stand vor ihr. Er trug einen waid-blau gefärbten Umhang über seinem weißen Gewand. Sein langer Bart reichte ihm fast bis auf die Brust. Aus funkelnden, wässrig blauen Augen sah er sie an. In seinen Augen, die sonst Weisheit und Güte ausstrahlten, stand jetzt tiefe Trauer. Er hielt den goldenen Reif in den Händen, der die Kraft der Tiefe und die Macht der Elemente in sich vereinte und durch den alles Leben floss. Der Reif war in zwei Teile zerbrochen. Fassungslos vor Entsetzen starrte Aila auf das zerstörte Heiligtum. Die ruhige Stimme des Druiden drang an ihre Ohren. »Ich habe dich seit deiner Geburt auf die Aufgabe vorbereitet, die dir bevorsteht. Die Zeit ist jetzt gekommen, in der sich dein Schicksal zum Wohle unseres Volkes erfüllen wird.«

Nebelschwaden stiegen von dem Boden unter ihren Füßen hoch und breiteten sich rasch aus. Der unheimliche Nebel wurde immer dichter, bis ihre Augen ihn nicht mehr durchdringen konnten, und nahm ihr die Luft zum Atmen. Verzweifelt rang sie nach Luft und versuchte aus dem Nebel herauszufinden, doch es gelang ihr nicht. Das furchtbare Gefühl zu ersticken war das Letzte, was sie spürte, bevor sie das Bewusstsein verlor und der Nebel um sie herum sich in tiefe Schwärze verwandelte, die sie unbarmherzig in sich hineinzog.

Das Vermächtnis des Raben

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