Читать книгу Balancieren statt ausschließen - Hildegard Wustmans - Страница 12
1.1.2 Lebensentwürfe und Selbstbilder von Frauen im Wandel. Ambivalenzen – Herausforderungen – Überforderungen
ОглавлениеIn den letzten Jahrzehnten hat sich die Gesellschaft und damit ihre Sozialstruktur, ihre Kultur und das Leben der Individuen massiv verändert. Diese Veränderungen haben zur Konsequenz, dass die unterschiedlichen Systeme und Welten in der Gesellschaft immer beweglicher werden. Die entfaltete Moderne verändert die gesamtgesellschaftlichen Strukturen grundlegend und sie macht vor dem Raum der Kirche nicht halt. Die Modernisierung der Gesellschaft setzt sich dabei systemisch auf der Ebene der individuellen Lebensführung und Lebensgestaltung fort. Dieser Prozess wird in der Soziologie unter dem Stichwort „Individualisierung“ behandelt und beschreibt die neue Form der Vergesellschaftung des Individuellen (vgl. Beck 1998; Beck/Beck-Gernsheim 1994; Sennett 1998). Alle gesellschaftlichen Anforderungen und Regelungen, vom Arbeitsmarkt bis hin zu den sozialstaatlichen Unterstützungen, sind auf die Einzelpersonen hin orientiert und erwarten deren aktive Beteiligung. Diese Entwicklung birgt Chancen und Lasten für die/den Einzelne(n). Es ist ein ambivalenter Prozess, mit enormem Freiheitsgewinn, seitdem der eigene Lebensweg nicht mehr von Ordnungen und Rollen der traditionellen Gesellschaft abhängig und vorbestimmt ist. Dabei tun sich für die Individuen eine Fülle an Möglichkeiten auf, sodass jede und jeder ihren/seinen Lebensweg gestalten kann. Die Biografie des/der Einzelnen ist nicht mehr determiniert und durch Familie, Milieu und Tradition bestimmt. Sie ist zu einem selbst zu verantwortenden Projekt von Individuen geworden. Dabei hat das Individuum auf die unterschiedlichsten Anforderungen von außen zu reagieren. Dies bedingt, dass die Arbeit an der eigenen Biografie zu ersetzen hat, wofür ehemals die sozialen Bindungen in den Milieus zuständig waren: nämlich Haltepunkte und Orientierungen in der Welt zu geben (vgl. Gabriel 31994, 80–119).
Der Prozess der Individualisierung wird von der Pluralisierung der Lebensformen und Möglichkeiten begleitet. Die Lebensstile und Weltanschauungen werden vielfältiger und für so manche(n) auch unübersichtlicher. Diese Entwicklungen der Individualisierung und Pluralisierung bedeuten nicht den gänzlichen Untergang traditioneller Deutungsmuster, sondern sie verlieren vielmehr ihre unhinterfragte normative Gültigkeit, die sie vormals für eine Gruppe besaßen. Deutungsmuster werden nicht mehr länger von einem kollektiven Milieu ausgebildet. Andere Ansprüche, Weltsichten und Werte treten hinzu und das Individuum hat nun die Möglichkeit und die Aufgabe, aus einem Set von Anschauungen zu wählen. Dies bedeutet für die alten Werte und Ordnungen, dass sie sich in Konkurrenz zu neuen Werten gestellt sehen und in der Regel nun auch einer Prüfung unterzogen werden. Was vormals nicht zu hinterfragen war, wird nun zu einem Objekt der Wahl. In einer pluralisierten Welt werden Entscheidungskompetenzen immer pluraler und dezentraler. „Die Moderne kann daher in aller Vorläufigkeit mit drei Schlagworten charakterisiert werden: Individualisierung der Lebensführung, Verlust traditioneller Sicherheiten sowie funktionale statt traditionale Differenzierung der Gesellschaft. Anders gesagt: Freisetzung des Individuums, Entzauberung der Welt und Aufhebung ständischer Organisationsmerkmale kennzeichnen die Moderne“ (Bucher 1999, 94).
Die neuen (Wahl-)Möglichkeiten bedeuten für die Individuen nicht nur einen ungemeinen Freiheitsgewinn, sondern es treten zugleich neue Anforderungen hinzu. Es gilt, das eigene Leben, die eigene Biografie in die Hand zu nehmen. In früheren Generationen gab es unverrückbare Grundsätze und Plausibilitäten. Das, was man dachte, wer man war, waren nicht (zwingend) Ergebnisse eines individuellen Reifungs- und Entscheidungsprozesses, sondern ein kollektives Ereignis. Unsere heutige Gesellschaft differenziert sich aber nicht mehr nach geburtsabhängigen Ständen. Im Rahmen der „neuen“ Biografien ist es erforderlich, sich selbst zu entwerfen und sich souverän zwischen und in verschiedenen Welten zu bewegen. „Erforderlich ist Passagefähigkeit als die Kompetenz, unterschiedliche Lebensbereiche, Wertsphären, Kulturen und Weltdeutungen kontrolliert miteinander in Verbindung bringen, aufeinander beziehen, voneinander abgrenzen zu können. […] Das Individuum hat heute die Möglichkeit, steht allerdings auch vor der Notwendigkeit, sich seine eigenen Muster der Lebensführung, der Weltbetrachtung und eben auch der religiösen Weltwahrnehmung zusammenzustellen. Denn es ist frei den bestehenden Mustern der Lebensführung gegenüber, da es ihren sozialen Trägern gegenüber frei ist. Deren soziale wie moralische Sanktionsmacht ist geschwunden“ (Bucher 1999, 95 f.).
Dies hat u. a. zur Folge, dass heute Dinge miteinander kombiniert werden können, die in den vergangenen Generationen weitgehend mit einem Tabu belegt waren, und ganz neue Lebensentwürfe werden möglich. Besonders deutlich zeigen sich die Veränderungen in den Lebensläufen junger Frauen im Vergleich zu denen ihrer Mütter und Großmütter. Zu den deutlichen Veränderungen gehören vor allem die sehr viel besseren Bildungsmöglichkeiten für Frauen, die sehr viel stärkere Einbindung von Frauen in den Erwerbsarbeitsmarkt und die Tatsache, dass sie über eigenes Einkommen verfügen. Frauen haben eindeutig das Bestreben nach einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dies zeigt auch die Frauenerwerbstätigenquote, die in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Inzwischen sind fast 60 Prozent aller Frauen erwerbstätig (vgl. BMFSFJ 2004, 23), wobei ein großer Anteil der Frauen teilzeitbeschäftigt ist. „Nach Angaben des Mikrozensus 2002 stellen Frauen rund 86 % der Teilzeitbeschäftigten. Weit über die Hälfte (62,2 %) der teilzeitbeschäftigten Frauen geben dafür persönliche oder familiäre Verpflichtungen als Grund an“ (BMFSFJ 2004, 58). Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass auch Frauen mit Kindern zunehmend erwerbstätig sein wollen. Fast zwei Drittel der Mütter mit Kindern sind heute erwerbstätig. Zu berücksichtigen ist jedoch in diesem Kontext das Alter der Kinder. Je jünger die Kinder, desto seltener sind die Mütter berufstätig (vgl. BMFSFJ 2004, 23). Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim hat die Veränderungen in den Biografien von Frauen als eine Entwicklung vom ‚Dasein für andere‘ zum Anspruch auf ein Stück ‚eigenes Leben‘ gekennzeichnet (vgl. Beck-Gernsheim 1983).
Die Entwicklungen im Bereich der Biografien von Frauen zeigen, dass die sogenannte ‚weibliche Normalbiografie‘ einen deutlichen Individualisierungsschub erlebt hat (vgl. Beck-Gernsheim 1983, 308 f.). Neue Handlungsräume, neue Entscheidungsmöglichkeiten und neue Lebenschancen sind für Frauen möglich. Aber diese verursachen auch neue Unsicherheiten bei den Frauen und nicht zuletzt auch im Verhältnis der Geschlechter. Es zeigt sich gerade an dem Punkt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, dass aus den neuen Chancen auch neue Zumutungen hervorgehen. Die Chance der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist gerade auch für die Frauen zu einer neuen Belastung geworden. Vielfach sind sie es, die die Kosten dieser neuen Möglichkeiten zu tragen haben. Auch wenn Frauen sich heute nicht mehr selbstverständlich über das Familiendasein und den Mann als Ernährer definieren, sind sie immer noch weitaus häufiger als Männer für die Familienaufgaben zuständig. Studien belegen, dass die klassische Rollenverteilung der Betreuung der Kinder (und des Haushalts) nach wie vor die Hauptaufgabe der Frauen ist, und dies trotz steigender Erwerbsbeteiligung von Frauen und auch unabhängig vom sozialen Status, Bildungsniveau sowie Anzahl der Kinder. „Männer übernehmen bei der Betreuung der Kinder am liebsten Aktivitäten im Bereich von Sport und Spiel (81 % der Zeit, die Frauen dafür aufwenden). Bei der Körperpflege und Betreuung der Kinder bleiben Männer gerade bei einem Drittel dessen, was ihre Partnerinnen leisten. Erwerbstätige Frauen mit Kindern unter 6 Jahren wenden für die Betreuung ihres Nachwuchses mit knapp 2,5 Stunden doppelt so viel Zeit auf wie erwerbstätige Männer“ (BMFSFJ 2004, 88). Diese Daten belegen zugleich einen weiteren wichtigen Punkt, nämlich dass nach wie vor die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Deutschland faktisch ein reines Frauenproblem ist.
Die Auflösung der Milieus produziert auch neue Überforderungen und führt zu neuen Belastungen. Effektivität und Nutzen sind zum allgemeinen Kriterium geworden. Dies erklärt auch, warum es nicht nur jene gibt, die von den Wahlmöglichkeiten und dem gesellschaftlichen Reichtum profitieren, sondern auch diejenigen, die durch die Maschen fallen. In der Gesellschaft sind sehr deutlich jene auszumachen, die vom Freiheitsgewinn überfordert sind, die mit den neuen Entwicklungen nicht mehr mithalten können und die nun von keinem Milieu mehr aufgefangen werden. Während in vormodernen Gesellschaften durch die Familie Sicherheit und Orientierung gegeben wurde, entsteht jetzt ein Vakuum, das jede/jeder Einzelne neu füllen muss. Die Normalbiografie wird damit zur ‚Wahlbiografie‘, zur ‚reflexiven Biografie‘, zur ‚Bastelbiografie‘. Alle menschlichen Lebensbereiche stehen zur Wahl. „Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muß, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden werden“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994, 16). Die zunehmende Komplexität von Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungszwängen führt auch zu einem erhöhten Konfliktpotenzial in Partnerschaften und in den Zusammenhängen von Ehe und Familie, weil verbindliche Regeln fehlen (vgl. Beck-Gernsheim 1986, 144–173). Dafür stehen die hohen Scheidungsquoten und die Zahl der alleinerziehenden Mütter, von denen ein großer Teil auf Sozialhilfe angewiesen ist.6 Der moderne Sozialstaat übernimmt im Kontext der sozialen Absicherung einige Aufgaben, aber auch diese werden durch neue Sozialgesetzgebungen immer weiter zurückgefahren. Die Situation für die Modernisierungsverlierer/-innen wird immer prekärer.7
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass im Generationenvergleich Frauen heute in der Regel besser dastehen als ihre Mütter und Großmütter, ohne jedoch mit den Männern gleichgezogen zu haben. Das Interesse von Frauen an eigenständiger ökonomischer Absicherung und Berufstätigkeit gerät immer wieder in Konflikt mit dem Wunsch nach Partnerschaft und Mutterschaft. Häufig sehen sich Frauen in ihrem Bestreben nach einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf Mehrfachbelastungen ausgesetzt, da sie zum einen noch immer mit einem vielfach traditionellen Rollenverhalten der Partner konfrontiert sind und zum anderen ausreichende Ganztagsbetreuungseinrichtungen für Kinder nach wie vor Mangelware sind, gerade in ländlichen Gebieten. Für viele Frauen gilt, dass sie die Differenz zwischen den neuen Möglichkeiten und den alten Erwartungen deutlich und mit aller Macht spüren. Sie bewegen sich zwischen Herausforderung und Überforderung. Auf diese Zusammenhänge macht die französische Philosophin Elisabeth Badinter (2010) aufmerksam. Sie plädiert dafür, die Mutterrolle zu entlasten und auf die Fähigkeiten von Frauen, das eigene Leben und die Beziehung zu ihren Kindern zu gestalten, zu vertrauen. „Je mehr man die Mutterrolle entlastet, umso mehr respektiert man die Entscheidungen der Mutter und der Frau und umso stärker wird diese geneigt sein, das Experiment zu wagen, ja es sogar zu wiederholen. Das Modell der Halbzeitmutter zu unterstützen, das einige allerdings immer noch unzureichend und damit verwerflich finden, ist heutzutage der ideale Weg, Frauen zum Kinderkriegen zu ermuntern. Wenn man hingegen von der Mutter verlangt, die Frau zu opfern, die in ihr steckt, wird sie nur die Geburt des ersten Kindes noch weiter hinauszögern oder gar ganz davon absehen“ (Badinter 2010, 182 f.).
Die Lage der Frauen ist von einer ausgeprägten Ambivalenz gekennzeichnet und sie sind von der potenziellen Gefahr bedroht, zwischen den Polen und den unterschiedlichen Erwartungen zerrieben zu werden. Eine Möglichkeit, dieser Gefahr zu entgehen, besteht darin, sich immer wieder neu den eigenen Ansprüchen und Erwartungen zu stellen und sie in eine Balance zu den Erwartungen im Außen zu bringen. An dieser Arbeit an den Balancen führt wohl kein Weg vorbei, wenn Frauen einem Nullsummenspiel entgehen wollen.