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1.1.3 Pluralität in der Kirche – die pastorale Herausforderung der Balance

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Diese gesellschaftlichen Entwicklungen machen selbst vor der Kirche nicht halt, auch wenn sie mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung bei ihr zu verzeichnen sind. Der gesellschaftliche Prozess von Individualisierung und Pluralisierung hat auch bei ihr Einzug gehalten und fordert Konsequenzen. Das katholische Milieu ist zerbrochen. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zerfiel das pluralitätskanalisierende katholische Milieu in einem unaufhaltsamen Prozess (vgl. Bucher 1999, 93; Kaufmann 1979; Gabriel 31994). Inzwischen besteht auch in jenen Bereichen eine Wahlmöglichkeit, wo religiöse Normen die Wahl immer zu verhindern suchten. Es gibt zwar nach wie vor die Vorgaben der Institution, aber diese stehen „unter dem permanenten Zustimmungsvorbehalt ihrer eigenen Mitglieder. […] Auch der Katholik und die Katholikin haben heute die Möglichkeit, sich ihre eigenen Muster der Lebensführung, der Weltbetrachtung und der religiösen Weltwahrnehmung selbst zusammenzustellen – und das mehr oder weniger sanktionsfrei“ (Bucher 2004c, 19). Zudem haben die Kirchen längst nicht mehr das Monopol im Bereich des Religiösen (vgl. Gabriel 31994, 142–156). Immer mehr verlassen die Kirchen oder sie stellen sich aus einer Vielzahl von religiösen Werten und Formen ihre ganz private Religion zusammen. Menschen definieren für sich ganz persönlich, woran sie glauben und worauf sie hoffen. „Es gibt mehr Protestanten und Katholiken, die an Schutzengel glauben (56 beziehungsweise 66 Prozent) als an die göttliche Dreifaltigkeit (23 beziehungsweise 45 Prozent) und daran, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist (43 beziehungsweise 60 Prozent) – so das Ergebnis einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (1997). Nur Minderheiten der Kirchenmitglieder akzeptieren den Glauben an die Auferstehung der Toten (Protestanten: 29; Katholiken: 49 Prozent), an das Jüngste Gericht (Protestanten: 18; Katholiken: 36 Prozent), und ‚dass es eine Hölle gibt‘ (Protestanten: 16, Katholiken: 29 Prozent). Gerade im Zusammenhang mit solchen ‚letzten Dingen‘ kehrt sich inzwischen sogar der gängige statistische Erfahrungssatz ‚Je älter, desto frömmer‘ um. Nach einer Umfrage des Markt-und Meinungsforschungsinstituts Emnid aus dem Jahre 1997 finden Glaubensaussagen, ‚dass meine Seele in irgendeiner Form weiterlebt‘, bei den über 60-Jährigen mit 50 Prozent weniger Zustimmung als bei den 14- bis 29-Jährigen (mit 56 Prozent) und bei den 30- bis 39-Jährigen (mit 60 Prozent). Die Aussage ‚Es gibt ein Leben nach dem Tod‘ wird nur noch von einem guten Drittel (36 Prozent) der über 60-Jährigen akzeptiert und stößt bei 59 Prozent dieser Altersklasse auf Ablehnung, während diese Überzeugung von mehr als der Hälfte der jüngsten Befragtengruppe geteilt wird. Von diesen sagen 41 Prozent: ‚Mit dem Tod ist alles aus‘, unter den 60-Jährigen und Älteren stimmen sogar knapp zwei Drittel (61 Prozent) dieser Aussage zu. Von beträchtlichen Teilen der älteren Generationen werden somit die auf das Jenseits und die Endzeit gerichteten Glaubensüberzeugungen stark in Zweifel gezogen. […] Es nehmen zu: die rituelle Abweichung der Kirchenmitglieder in Glaubenshandlungen, die von den Kirchen erwartet werden, die Abwehr von Glaubensvorstellungen, die als zentral definiert werden (Gottesbild, Lehre von der Auferstehung und vom ewigen Leben), und ‚Synkretismusbildungen‘, das heißt persönliche Kombinationen von christlichen und anderen religiösen Wertvorstellungen. Solche ‚Glaubenskomponisten‘ bilden inzwischen mit 47 Prozent die Mehrheit der europäischen Bevölkerung“ (Ebertz 2003, 23 f.; vgl. ders. 1998; ders. 1997).

Dies spricht für eine Umgestaltung des Religiösen (vgl. Kaufmann 1991, 269). Dabei sind die Ambivalenzerfahrungen im Leben von Menschen auch heute noch religionsproduktiv (vgl. Zulehner 1999, 95). Menschen suchen auch heute noch Halt und Sinn und sie greifen dort zu, wo ihnen die Angebote für den Moment plausibel und hilfreich zu sein scheinen (vgl. Först/Kügler 2010). Ändern sich die Umstände, dann kann sich auch der Bereich des Religiösen ändern. Religion ist somit nicht aus der Gesellschaft verschwunden, aber sie ist immer weniger kirchlich eingebunden und verwaltet (vgl. Ebertz 2003, 65). Zugleich spielt sich der religiöse Pluralismus eben auch unter dem eigenen kirchlichen Dach ab (vgl. Gabriel 2009, 121). Darüber hinaus zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass sich der Wahrnehmungshorizont in Sachen Religion immer mehr auf das eigene Ich verlagert. Es geht im Kontext des Religiösen um Selbstfindung, Selbsterfahrung, Selbstvergewisserung und um die Intensivierung des eigenen Lebens, der eigenen Existenz, um Erlebnisverdichtung und um ungestillte Sehnsüchte und Erfahrungen. Diese Erwartungen werden auch von einigen Interviewpartnerinnen deutlich in Gesprächen benannt. Im Kontext der Auseinandersetzung mit Spiritualität und in den unterschiedlichen Frauenliturgiegruppen ist Selbsterfahrung ein wichtiger Punkt (vgl. Kapitel 3).

Religion zeigt sich in neuem Gewand an ganz unterschiedlichen Orten und säkulare Orte und Ereignisse treten als neue Anbieter hinzu. Dies führt zu der Konsequenz, dass die Bedeutung des Religiösen im Leben von Menschen und in der Gesellschaft längst nicht mehr eindeutig zu benennen ist. „Es kommt zu einer Mehrfachbewegung im Felde des Religiösen. Religiöse Versteppung, etwa in den neuen Bundesländern, kirchlich verwaltete traditionelle Religiosität und die Renaissance einer sehr individuell gestrickten, auf das eigene Ich bezogenen und von ihm her entworfenen, nichtsdestoweniger sehr ernsthaften Religiosität koexistieren – und dies beileibe nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Individuum und eben wohl auch im Katholizismus“ (Bucher 1999, 97).

Auf diese Entwicklungen hat die Kirche bislang nur unzureichend reagiert. Zum einen hat sie seit den 70er Jahren versucht, mit einer enormen Professionalisierung und Pluralisierung ihrer Angebote verlorenes Terrain gutzumachen. „Man weitete den nicht-klerikalen Teil des kirchlichen Personals bedeutend aus und besetzte viele Stellen mit hauptamtlich tätigen, zunehmend auch professionell qualifizierten und professionell entlohnten Personen. Wesentliche Teile des von der Kirche beschäftigten Personals, etwa in den Bereichen Diakonie, Aus- und Weiterbildung, Erwachsenenbildung oder auch Religionsunterricht, werden in Deutschland und Österreich von professionell ausgebildeten Laien gestellt“ (Bucher 2001, 268). Die Rolle des Pfarrers, der sich als Hirte um alle Belange seiner Herde kümmert, wurde durch den neuen Typ des Hauptamtlichen ausdifferenziert. Kirchliches Handeln geschieht heute eben nicht mehr nur in den Pfarreien, sondern in Schulen, Beratungsstellen, sozialen Einrichtungen, Betrieben, Krankenhäusern usw. durch hauptamtliche pastorale Mitarbeiter/-innen. Die Kirche hat in diesem Bereich die Pluralität aus ihrem Außen in ihr Innen getragen. Jedoch zeigt die Praxis inzwischen, dass oftmals die einzelnen Bereiche wenig oder nichts voneinander wissen. Vielfach gibt es keinen Austausch zwischen den einzelnen Systemen und im schlimmsten Fall machen sie sich gegenseitig Konkurrenz (vgl. Bucher 2004b, 114).

Die Lage ist prekär und zunehmend wird deutlich, dass die katholische Kirche im deutschsprachigen Kontext eben auch mit dem Abstieg ihrer altbewährten Sozialformatierungen zurechtkommen muss. Besonders die Pfarrgemeinden stehen massiv unter Druck. Es fehlt an Priestern und auch die Aktiven kommen ihnen mehr und mehr abhanden. Zudem sind sie davon gekennzeichnet, dass sie viele Milieus überhaupt nicht erreichen (vgl. Wippermann/De Magalhaes 2005; Ebertz/Wunder 2009).

Hervorstechend ist in diesem Zusammenhang das fast überall mehr oder minder gleiche Lösungsmuster: Es werden Pastoral- und Personalpläne entwickelt, die die Versorgung von immer weniger Gläubigen bei gleichzeitigem Priestermangel gewährleisten sollen. Diese Versorgung ist im Grunde an nur einer Größe ausgerichtet und diese nimmt im deutschsprachigen Bereich merklich ab: dem Priester (vgl. Sellmann 2010, 1010). Gerade diese Problemlösungsstrategie steht für ein Prinzip, das im Modus des Status quo handelt.

Ein weiteres Problem von nicht minderer Tragweite ist der Rückgang der finanziellen Mittel. In besonders drastischer Weise wurde dies bereits in den Bistümern Aachen und Essen erlebt. Aber nahezu alle Bistümer haben mehr oder weniger drastische Sparpakete geschnürt. Vor allem durch Personalabbau und Kürzungen in der Seelsorge, im Kindergartenbereich und der Verwaltung sowie durch Reduzierungen des Gebäudebestandes sollen die Haushalte wieder ausgeglichen werden. In den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat man noch von reichlich fließenden Kirchensteuermitteln profitiert und in diesem Zusammenhang wurden viele Einrichtungen und Stellen geschaffen, was sich die Kirche heute nicht mehr leisten kann. Einrichtungen, die in den sogenannten fetten Jahren gegründet wurden, erscheinen heute als Luxus, den man sich nicht mehr leisten kann oder will. Mit den Sparmaßnahmen werden somit unweigerlich auch Einschnitte in die inhaltliche und pastorale Arbeit vorgenommen. Für so manchen Kürzungsbeschluss werden keine inhaltlichen Begründungen geliefert, sondern es wird mit der prekären Finanzlage argumentiert. Diese Entwicklung ist mindestens so heikel wie die finanzielle Situation so mancher Diözese.

Die Krisenphänomene zeigen, dass die Kirche in Deutschland in der gesellschaftlichen Realität angekommen ist. Was sich in anderen Bereichen der Gesellschaft schon längst abgezeichnet hat und eingetroffen ist, greift nun auch in ihr Raum und stellt sie vor besondere Herausforderungen, die sich zum einen im Feld der finanziellen Belastungen bewegen, zum anderen im Kontext innerkirchlicher Pluralisierungen. Die erste Herausforderung ist relativ neu und die Wege, ihr zu begegnen, sind in den deutschen Diözesen unterschiedlich. Die einen haben einen Spar- und Erneuerungsprozess mit internen Kräften beschritten (Bistum Limburg). Wieder andere suchen im Kontakt und durch die Hilfe externer Berater, wie z. B. die Bistümer Aachen und Mainz, ihre Probleme schnell und effizient zu lösen. Zu der Lösungsstrategie, externe Berater wie McKinsey hinzuziehen, merkt Zulehner kritisch an: „Die Philosophie von McKinsey kommt aus der Wirtschaft und nicht aus der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils. Umso verwunderlicher ist es (aber was kann die Angst vor einem Konkurs nicht theologisch alles bewirken!), dass sich just dieser ökonomische Umgang mit der Kirche solch großer Beliebtheit erfreut. Ökonomische Effizienz ist insgeheim zur obersten Richtschnur geworden“ (Zulehner 2004, 111).

Für die Bewältigung der zweiten Herausforderung, der innerkirchlichen Pluralisierung, ist ein Blick in die Kirchengeschichte nützlich. Es zeigt sich dann sehr schnell, dass innerkirchliche Pluralität keine Erfahrung neueren Datums ist. Aber mit dem Zweiten Vatikanum und mit der Pastoralkonstitution von Gaudium et spes und der dogmatischen Konstitution von Lumen gentium liegt der Kirche ein Entwurf vor, wie Pluralität gestaltet werden kann. In Lumen gentium wird Kirche von der Berufung aller Menschen durch Gott in Christus her entwickelt und verstanden. Kirche wird von ihren Mitgliedern her verstanden und zeigt sich somit als plurale Gegebenheit. In Gaudium et spes erkennt und benennt die Kirche die Chance und Notwendigkeit, von den Zeichen der Zeit her sich selber immer wieder neu zu entdecken. Der/die Einzelne und die Gesellschaft sind Orte der Theologie und damit wird die Pluralität zum Fundament und zum Prüfstein der Kirche selber (vgl. Bucher 1999, 99 f.).

Die Kirche steht in der Differenz von innen und außen, von inhaltlichen Ansprüchen und gravierenden ökonomischen Engpässen, von den eigenen Glaubenssätzen und einer zunehmenden Tendenz der eigenen Mitglieder, sich über diese hinwegzusetzen und individuelle Neuarrangements des Religiösen und Spirituellen zu entwickeln (vgl. Höhn 2004, 16). Diese Differenzen sind eine massive Anfrage und Herausforderung, denen die Kirche nicht ausweichen kann. Sie muss sich diesen Differenzen stellen, denn nur so besteht die Möglichkeit, glaubwürdige und taugliche Antworten für die Menschen in der Welt von heute zu finden.

Das Problem der Differenzen stellt sich nicht nur für die Kirche allein, sondern auch für ihre Mitglieder. Auch von ihnen verlangt die Situation, dass sie sich zu den Differenzen in der Welt von heute und in der Kirche in Beziehung setzen, und in besonderer Weise gilt dies vielleicht für die Frauen. Dabei hat es den Anschein, als würde gerade die Gruppe der Frauen auf die Ambivalenzen ihrer Biografien und die Differenzen, in die sie sich gestellt sehen, mit einem besonderen Bedürfnis nach Spiritualität reagieren. An ganz unterschiedlichen Orten kommen Frauen zusammen, um miteinander Liturgien und Rituale zu feiern. Sind sie ein Ausdruck von Pluralität und tatsächlich eine Reaktion auf die bedrängenden Ambivalenzen und Differenzen? Was suchen und entwickeln Frauen an diesen Orten? Wie werden diese von der institutionellen Seite der Kirche wahrgenommen? Wo finden sie Unterstützung? Wo wird ihnen mehr als nur Befremden entgegengebracht? Und wie beziehen sich die Frauen auf die Kirche und ihre traditionellen Formen der Glaubensfeier und der Inhalte des Glaubens? Diesen Fragen muss man sich stellen, wenn man verstehen will, was die Frauen bewegt, und zugleich davon ausgeht, dass ihre Praxis nicht nur für die Frauen einen Sinn hat, sondern auch für die Kirche von Bedeutung ist. Im Rahmen dieser Arbeit sind diese Fragen zentral. Sie soll eine Antwort auf diese Fragen bieten und zugleich einen Weg aufzeichnen, wie mit Pluralitäten und Differenzen in einer produktiven Art und Weise umgegangen werden kann.

Bevor Frauen an unterschiedlichen Orten und aus sehr verschiedenen Kontexten zu Wort kommen, sollen hier zunächst zwei Blitzlichter vorgestellt werden, die den Rahmen weiter erhellen. Diese Blitzlichter legen den Schluss nahe, dass es sich bei der Frage nach dem Umgang mit der Pluralität in der Kirche und unter den Frauen um eine Herausforderung handelt, die sich nicht nur in Deutschland stellt, sondern auch in einem ganz anderen gesellschaftlichen Kontext, und exemplarisch sei hier auf den Kontext Brasilien verwiesen. Die Bezugnahme zu Brasilien hat eine biografische Begründung. Ich habe nach dem Abitur ein sozial-pastorales Jahrespraktikum in Brasilien absolviert und im Rahmen des Theologiestudiums auch ein Auslandssemester in São Paulo absolviert. In einer Millionenstadt in Brasilien treffen sich im großen Saal einer Ordensgemeinschaft ca. 30 Frauen. Sie tun dies regelmäßig. Sie kommen an einem Sonntag zusammen, um miteinander eine Frauenliturgie zu feiern. Eine Gruppe von Frauen hat die Liturgie vorbereitet, das Thema gewählt, den Raum, die Mitte gestaltet. Eine Ordensfrau, die diese Gruppe ins Leben rief und seither begleitet, sorgt für Absprachen und Koordination mit der Ordensgemeinschaft und unterstützt die Frauen, wo immer sie Hilfe benötigen. Die Frauen, die kommen, nehmen zum Teil einen langen Anfahrtsweg in Kauf, um dabei zu sein. Der feste Kern der Gruppe trifft sich nun schon seit mehreren Jahren.

Auch in einer Kleinstadt in Deutschland treffen sich einmal im Monat Frauen, um Frauenliturgie zu feiern. Zwei Frauen haben die Liturgie vorbereitet. Sie haben das Thema gewählt, den Ablauf durchdacht, den Raum gestaltet. Es sind in der Regel 12 bis 15 Frauen, die an diesen Abenden zusammenkommen. Die Gruppe wurde von einer Gemeindereferentin initiiert und seither begleitet sie die Frauen. Auch hier hat sich ein fester Kern herausgebildet, der sich schon über viele Jahre hinweg trifft.

Beiden Gruppen ist gemeinsam, dass die Frauen aus ungleichen Bezügen kommen und dass sie unterschiedlich alt sind. In der brasilianischen Gruppe sind alle Frauen katholisch, in der deutschen Gruppe fast alle, wenige sind evangelisch. Einige der Frauen sind in ihren Pfarrgemeinden aktiv. Sie alle sind sehr verschieden und doch gibt es eine entscheidende Gemeinsamkeit: den Wunsch, im Glauben das Leben zu feiern, sich mit religiösen Traditionen und Formen auseinanderzusetzen und dafür eigene, neue Formen zu entwickeln. Sie denken sich rituelle Handlungen vor dem Hintergrund ihrer konkreten Lebenserfahrungen aus, ganz konkret im geschützten Raum einer Gruppe von Frauen. Viele tausend Kilometer, ganz andere kulturelle, wirtschaftliche und soziale Hintergründe trennen die Frauen und doch sind ihre spirituellen Sehnsüchte so ähnlich. Alle diese Frauen suchen ihren spirituellen Ort und wollen ihn selbst gestalten. Sie tun dies selbstbewusst und entschieden, manchmal auch in bewusster Abgrenzung zur Kirche und deren spirituellen Formen und Angeboten.

Diese Blitzlichter sowie weitere Facetten und Orte werden im Verlauf der Arbeit noch sehr viel deutlicher in den Blick genommen und analysiert. Aber diese Orte sind allesamt signifikant in ihrer Bedeutung für das, was Kirche ist und wie sie wahrgenommen wird. Sie zeigen an, wie es um den einen oder anderen Ort bestellt ist, an dem Menschen zusammenkommen, um liturgische Feiern miteinander zu gestalten und zu erleben. Damit geben sie unmittelbar Auskunft über einen zentralen Bereich von persönlicher Glaubenspraxis und Kirche. Die Beispiele sprechen beim genaueren Hinsehen eine sehr deutliche Sprache in Bezug auf Liturgien, denn sie sagen alle auf die eine oder andere Art, dass die Liturgien ein Lebensmittel sind, das Menschen brauchen, um gut leben zu können. Dem Anschein nach gibt es bei Frauen diesbezüglich ein besonderes Interesse; die Frauen, die in dieser Arbeit zu Wort kommen, suchen nach neuen, nach anderen Orten in Form und Inhalt als die „gewöhnliche“ Liturgie. Es sind Frauen, denen die Nahrung in den gewohnten Strukturen und Formen nicht mehr ausreicht, denen sie sogar manchmal unbekömmlich ist. Sie suchen nach Orten, an denen sie belebende Nahrung bekommen, weil sie wissen, dass sie sie brauchen, um wirklich leben zu können. Auch die Kirche braucht solche Orte, weil sie ein lebendiger Organismus ist. Jedes Lebewesen braucht Nahrung, um am Leben zu bleiben. Das Nahrungsmittel der Kirche ist die Liturgie (vgl. Wustmans 22005a, 238–254). Und in der Liturgie geht es dabei um nichts Geringeres als um Gott selber.

Der Wunsch von Frauen nach einem eigenen Ausdruck ihrer Spiritualität und Religiosität ist nicht neu. Diese Sehnsucht ist so alt wie die Kirche. Dies zeigen die Ordensgemeinschaften von Frauen in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit, aber z. B. auch die weibliche Mystik. Auf diesem langen Weg standen und stehen Frauen immer wieder vor der Frage, wie sie das Eigene entwickeln, ins Wort bringen können und wie sie sich zugleich auf den Ort beziehen, der ihre Herkunft markiert – die katholische Kirche. Allerdings gibt es einen auffälligen Unterschied zwischen den vorausgegangenen Bestrebungen von Frauen nach weiblicher Spiritualität und Religiosität und den heutigen Formen; denn diese sind nur noch punktuell an kirchliche Kontexte gebunden. Ordensgemeinschaften von Frauen sind ein Ort weiblicher Spiritualität, aber es gibt viele weitere Orte, die für sich Autorität beanspruchen. Dies ist eine Konsequenz der bereits beschriebenen gesellschaftlichen und religiösen Pluralisierung. So ist es nicht verwunderlich, dass z. B. Einführungen in die Meditation sowohl in kirchlichen Kontexten angeboten werden wie auch in Frauenbildungshäusern, die sich im feministischen Spektrum beheimaten. Die teilnehmenden Frauen wählen unter den verschiedenen Angeboten aus und das Kriterium für die Wahl ist das, was passt, was momentan anspricht.

Frauen feiern Liturgien, begehen Rituale, weil sie erkannt haben, dass diese in ihren Nöten und Sorgen, ihren Freuden und Hoffnungen ein Segen sind. In diesen Situationen greifen Rituale. Sie helfen den Menschen, die durch sie hindurchgehen, wieder mit sich und der Umwelt in eine Balance zu kommen. In ihren Liturgien und Ritualen erschließen sich Frauen einen Raum, in dem sie ihre Anliegen zum Ausdruck bringen können. Damit überschreiten sie die bestehende Ordnung institutionalisierter Religion und sie wagen viel, weil sie Unerhörtes zum Ausdruck bringen. Sie gehen das Risiko ein, ausgegrenzt, ausgeschlossen und diszipliniert zu werden. Oder aber ihr Tun und Handeln wird abgetan, nicht ernst genommen. Und damit stehen sie in der Spannung von Macht und Ohnmacht (vgl. Sander 2001). Die Macht kommt in ihren Erfahrungen zum Ausdruck, die als befreiend erlebt werden. Die Ohnmacht wird in ihrer Position der Institution gegenüber greifbar.

In dieser Arbeit sollen unterschiedliche Orte und Positionen von Frauen in den Blick genommen und analysiert werden. Zugleich soll ein Ausweg, ein kreativer Umgang mit der Macht und Ohnmacht vorgeschlagen werden. Konstitutiv für den Vorschlag ist es, die Bedeutung der randständigen Orte der Frauenliturgien aufzudecken und zugleich das Verhältnis von Rand und Mitte, Innen und Außen nicht über den gegenseitigen Ausschluss zu bestimmen, sondern diese in eine jeweils neu herzustellende Balance zu bringen. Die Balancen sind dann möglich, wenn die Stärken ausbalanciert werden. Eine Konzentration auf die Schwächen führt ins Ungleichgewicht. Das Ressentiment, die schielende Seele, wie Nietzsche es genannt hat, kann keine Basis für eine Balance sein (Nietzsche 1999, 270 ff.). Ein vom Ressentiment geprägtes Handeln schielt auf die Schwächen der anderen, um die eigenen Stärken zu finden. Ein solches Handeln bohrt kundig nach den Schwächen bei den anderen, um sich selbst groß und vor allem besser zu fühlen (vgl. Sander 2003, 14). Ein solches Handeln definiert sich über Fremddenunziation (vgl. Bucher 2004b, 21).

Ein Blick in das Neue Testament zeigt, dass auch Jesus um die Versuchungen des Ressentiments weiß. Er benennt die schielende Seele in einem Gleichnis (vgl. Sander 2003, 14): „Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und sprach leise dieses Gebet: ‚Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. Ich faste zweimal die Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.‘ (Lk 18,10–12) Hier zeigt sich, dass die Stärke des einen von der Schwäche des anderen abhängt. Die Schwächen der anderen gibt es tatsächlich, aber eine schielende Seele macht deutlich, dass sie selber über keine wirklichen Stärken verfügt. Wächst der andere über seine Schwächen hinaus, dann zeigt sich die eigene Schwäche erst richtig. Der Zöllner betet im Gleichnis: ‚Gott, sei mir armem Sünder gnädig!‘ (Lk 18,13) und wächst damit über sich hinaus. Wenn die Kirche oder die Frauen auf den jeweils anderen schielen, dann blüht ihnen das, womit Jesus sein Gleichnis beschließt: ‚Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wir erhöht werden.‘ (Lk 18,14)“

Auch in der Beziehung zwischen Kirche und Frauen lockt das Ressentiment. Frauen nähren es dadurch, dass sie vielfach ihre Verbindung mit dem Ursprung ihres Glaubens und der Tradition verloren haben. Sie sind nicht mehr in der Lage oder bereit, sich in produktiver Art und Weise auf diesen Ort zu beziehen. In Bezug auf die Kirche ist festzustellen, dass sie ihre Sprachfähigkeit in der Gegenwart mehr und mehr zu verlieren scheint, und manchmal hat es den Anschein, dass sie gar nicht versteht, was die Bedürfnisse der Frauen sind. Sowohl von den Frauen wie auch von der Kirche her lässt sich deutlich das Problem der Zweiheit und der Differenz identifizieren. Dieses Problem zeigt sich gerade auch in der Lösungsstrategie, die für Frauen und die Kirche in der Regel darin besteht, den jeweils anderen Pol mit seinen Schwächen, aber ohne seine Stärken zu sehen, wie auch in dem Mechanismus, ihn auszuschließen (vgl. Sander 2005c, 6).

In der vorliegenden Arbeit kommen Frauen zu Wort, die an unterschiedlichen Orten an Frauenliturgien und Frauenritualgruppen teilnehmen. Ihre Aussagen werden gerade auch darauf hin untersucht, von welchen Zweiheiten sie sprechen und wie sie mit diesen umgehen, ob sie das jeweils Andere ausschließen oder die beiden Aspekte ausbalancieren und wie ihnen das gelingt. Für die Frauen wie für die Kirche geht es dabei um die Anerkennung der Differenz und damit letztlich auch um die jeweilige Pluralitätstauglichkeit, die in einer fortwährenden Bewegung der Balance zu finden ist und damit erst tragfähige Schritte in die Zukunft möglich macht.

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