Читать книгу Balancieren statt ausschließen - Hildegard Wustmans - Страница 16

1.2.1.1 Die Zukunft der Kirche zeigt sich im Heute. Eine ekklesiologische Balance

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Seit Anfang der Moderne hat die katholische Kirche sich als Religionsgemeinschaft organisiert. Mit dem Augsburger Frieden (cuius regio eius religio) stellt sich Kirche als politikfähige societas perfecta vor, die bis heute mit Konkordaten und kodifiziertem Kirchenrecht arbeitet. Sie schafft sich mit einem eigens an Seminaren ausgebildeten Priesterstand ihr Führungspersonal (vgl. Sander 2002, 83, 90). Sie gibt sich eine durchsetzungsfähige Organisationsstruktur mit Territorialpfarreien und Diözesanbehörden, die in der römischen Kurie kulminiert. Sie normiert den Glauben in eine diskursfähige Sprache, die in Lehrentscheidungen formuliert und mit den Traktaten der Dogmatik eingeübt wird. „Die societas perfecta ist der politische Selbstanspruch der Religionsgemeinschaft Kirche gegenüber den anderen Mächten und Gewalten. […] Kirche als societas perfecta läuft sowohl auf ihre staatliche Privilegierung als Rechtsgröße hinaus wie auf einen gesellschaftlichen Vorrang im Hinblick auf die Werteorientierung“ (ebd., 89).

Wie jede Religionsgemeinschaft lebt auch die Kirche dabei auf Machterfahrungen hin. Es sind Ereignisse wie Papstwahlen, Kardinalsernennungen, Pontifikalämter, Primizfeiern, Heilige Jahre, internationale Wallfahrten, Weltjugendtage, an denen Bedeutung, Pracht und gesellschaftliches Gewicht der kirchlichen Religionsgemeinschaft demonstriert werden (vgl. Sander 2002, 93 f.). Mit diesen Instrumenten kommuniziert sie nach innen, in ein System, in dem auf konfessionelle Hegemonie geachtet wird und dem für alle Lebenslagen und Bereiche etwa Verbände zur Verfügung stehen: Katholische Arbeitnehmer/-innenbewegung (KAB), Kolping, Bund Katholischer Unternehmer (BKU), Katholische Junge Gemeinde (KJG) und Katholische Frauen Deutschlands (kfd) usw. Darüber hinaus erhebt die Kirche Rechtsansprüche gegenüber dem Staat, die in Konkordaten festgehalten und gesichert sind. Mit diesen Instrumenten strukturiert sie Religion und das Leben ausschließlich ihrer Gläubigen (vgl. Sander 2006, 458). „Diese Kirche erhebt einen breiten politischen Rechtsanspruch gegenüber dem Staat, einen umfassenden moralischen Führungsanspruch gegenüber der Gesellschaft und einen lebenslänglichen Seelsorgeanspruch gegenüber der Person“ (ebd., 458). Diese Religionsgemeinschaft übersteht die Wirren der Zeiten – den Absolutismus, die Aufklärung und den Kommunismus. Dessen ungeachtet ist festzuhalten, dass beginnend mit der Entfremdung der Arbeiter, mit dem Werteumbruch Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts und in einer globalisierten Welt die Macht dieser Religionsgemeinschaft verdunstet (ebd., 458). Aktuell wird dies durch einen fortgesetzten Trend des Mitgliederrückgangs deutlich, aber auch in dem massiven Rückgang finanzieller Ressourcen. Daran wird deutlich, dass sich die Zeiten geändert haben. Die Instrumente, mit denen Kirche ihre Religion strukturiert hat, greifen heute vielfach nicht mehr. Diese Religionsgemeinschaft verliert an Macht und Einfluss. Sie kann auf keinen Absolutheitsanspruch mehr bestehen und sieht sich in die Konkurrenz mit anderen Religionsgemeinschaften gestellt. Gleichzeitig fordern innerkirchlich unerhörte Minderheiten (Frauen, Homosexuelle) Rechte ein. „Für die Kirche bedeutet das eine doppelte Ohnmachtserfahrung: Säkularisierung und religiöse Pluralität“ (Sander 2002, 92). Und es zeigt sich, wie schwer sie sich tut, angesichts dieser Gegebenheiten Strategien für die Zukunft zu entwickeln.

Pluralität und Heterogenität im Innen wie im Außen sind daher der Rahmen der Kirche und sie wirken in ihre institutionellen Bereiche. Sie steht im Dienst der Traditionen und der Ordnung. Aber Kirche ist auch und in besonderer Weise dazu da, den Menschen in ihrer Zeit und vor Ort zu dienen. So muss es fortdauerndes Anliegen und Ziel sein, in Raum und Zeit taugliche Orte zu schaffen und zu prägen, an denen Menschen der Hoffnung und der befreienden Macht Gottes begegnen können (vgl. Sander 2002, 121). In den Ohnmachtserfahrungen von Menschen kann die Kirche zu Orten finden, an denen sich im Heute ihre Zukunft zeigt. An diesen Orten zeigt sich nicht die Religionsgemeinschaft Kirche, sondern Kirche als Pastoralgemeinschaft. „Der Weg der Macht, den die Pastoralgemeinschaft geht, entsteht nicht aus ihr heraus, sondern aus der Macht in den Gesellschaften von heute, allerdings aus dem verworfenen und verschämten Teil dieser Macht, der Ohnmacht. Die Pastoralgemeinschaft Kirche sucht nicht die Ohnmacht, sondern gerade jene Macht, die Menschen aus der Gewalt von Ohnmacht herausführen kann. […] Es ist eine Erfahrung Gottes, der sich als erlösende und befreiende Tätigkeit einer Macht aus der Ohnmacht offenbart. Diese bedrängende Erfahrung gehört zur Kirche. Sie kann ohne sie nicht existieren. Diese Erfahrung erreicht die Kirche, indem sie durch ihre religionsgemeinschaftliche Form hindurchgeht“ (ebd., 27). Und ein solcher exemplarischer religionsgemeinschaftlicher Ort sind Frauenliturgiegruppen.

In unserer Gesellschaft haben Menschen eine Sehnsucht nach Religion, sie suchen Religion, aber nicht mehr zwingend bei den Kirchen. „Was überwunden schien, kehrt zurück. Was als veraltet galt, macht dem Neuen den Rang streitig. Nahezu alle Bereiche von Kultur und Gesellschaft sind von dieser Dialektik geprägt. Auch die Religion macht hier keine Ausnahme. Hinsichtlich ihrer sozio-kulturellen Signatur lassen sich sowohl Prozesse der Säkularisierung und zugleich der Respiritualisierung ausmachen. In den weitgehend säkularisierten Gesellschaften (West- und Mittel-)Europas tritt sie vor allem in ihren lebenspraktischen Äußerungen, im Bereich lebensweltlicher Sinnfmdung und Daseinsgestaltung wieder in Erscheinung. Je unübersichtlicher und vertrauter eine von ständigen Innovationen geprägte Gesellschaft wird, umso notwendiger werden offenkundig kulturelle Widerlager, die Wirklichkeitsvertrautheit, Biographiekohärenz und Identitätsvergewisserung ermöglichen. Unbestreitbar sind dagegen Funktions- und Bedeutungsverluste auf gesamtgesellschaftlicher Ebene für die institutionellen Ausprägungen religiöser Weltdeutungen. Mit weltanschaulich pluralen Gesellschaften sind offenkundig nur pluralitätsfähige religiöse Großinstitutionen kompatibel. Den bestehenden religiösen Körperschaften fällt es gleichwohl konstitutionell schwer, in ihrem Binnen- und Außenverhältnis produktive Umgangsformen mit religiöser und weltanschaulicher Pluralität auszubilden“ (Höhn 2004, 15). Menschen wünschen sich Rituale an Schwellen und in prekären Situationen ihres Lebens, aber sie nehmen mehr und mehr freie Ritualanbieter/-innen in Anspruch (vgl. Fincke 2004).

Schon an diesen beiden Punkten wird deutlich, dass die Kirchen ihr Monopol auf dem Gebiet von Religion und Ritual verloren haben. Diese Faktenlage ist ernüchternd und enttäuschend. Sie legt die kirchlichen Defizite in der Darstellung des Glaubens frei. Was Kirche sagt und was sie tut, ist für sie selbst sinnvoll, aber im Außen ihrer selbst vielfach bedeutungslos. Sie benutzt binnenkirchliche Sprachspiele und sollte sich doch auf die Suche nach einer neuen Sprache und nach Zeichen begeben, die die Menschen hier und heute brauchen und verstehen. Die Kirche steht vor der Aufgabe, eine neue Grammatik zu lernen und das Verstummen der Unerhörten wahrzunehmen und ins Wort zu bringen. Dadurch, dass die Kirche den/dem Unerhörten Repräsentanz gibt, kann sie zu ihrer eigenen Berufung finden: allen Menschen die Frohe Botschaft zu verkünden. In diesem Prozess gilt es von der eigenen Hoffnung und dem eigenen Glauben Rechenschaft ablegen zu können, wenn danach gefragt wird (vgl. 1 Petr 3,15).

Nach Hoffnung fragt, wer sie im Leben nötig hat. Dies bedeutet für die Pastoral der Kirche, dass sie die Macht Gottes inmitten der Ohnmachtserfahrungen heutiger Menschen repräsentieren kann und soll (vgl. Sander 2001). Dabei sind die spirituelle und rituelle Dimension des Glaubens einzubeziehen und zum Ausdruck zu bringen. Sie sollte sich auf das besinnen und ausbauen, wo ihre Kompetenzen liegen und sie auf eine lange Tradition von Erfahrungen aufbauen kann, im Bereich ihrer spirituellen und rituellen Kompetenz sowie in den Feldern ihrer tätigen Hilfe (vgl. Zulehner 2004, 39–43). Dieser Prozess wird nur dann fruchtbar werden, wenn es ihr gelingt, tatsächlich bei der Lage der Menschen anzusetzen und ihnen zu ihrer Sprachfähigkeit zu verhelfen. „Die Gemeinschaft im Wort des Evangeliums ist eine mächtige Größe. Sie ermächtigt die einzelnen Mitglieder, sich in dem auszusprechen, was sie wirklich sind. Sie erniedrigt diejenigen nicht, die Ohnmacht erfahren, sondern gibt ihnen die Macht, die Erfahrung zu benennen. Das macht diese Gemeinschaft gegen Bedrohungen von außen widerständig. Menschen, die wissen, wer sie auch in der Ohnmacht sind, und die im Durchgang durch ihre dunklen Seiten authentisch werden, lassen sich nicht einfach brechen“ (Sander 1999, 50 f.).

Dies bedeutet, dass kirchliche Pastoral viel stärker gegenwartsbezogen und prozessorientiert arbeiten sollte. Dies erfordert Professionalität und Entschlossenheit. Mut wird ihr vor allem dort abverlangt, wo sich die Pastoral der Ohnmacht von Menschen stellt – an den Orten also, wo sie sich den Ohnmächtigen zuwendet und solidarisch in den konkreten Bezügen von Menschen handelt. Kirche wird in ihrem Sprechen und Handeln glaubwürdig, wenn sie tatsächlich die Frohe Botschaft verkündet, die allen Menschen ein Leben in Fülle verheißt (Joh 10,10), und danach handelt. „An ihren Taten wird gemessen, was sie sagt“ (Klinger, 2003, 139).

Eine Kirche, die die Tabus in der Gesellschaft benennt und immer mehr lernt, die Schatten in ihrer eigenen Organisation zur Sprache zu bringen, erfährt, dass dies zu Auseinandersetzungen führt. Die Auseinandersetzungen und die eigene Botschaft sind in eine Balance zu bringen. „Denn die Kirche ist Kirche in der Welt von heute, ist ein Teil dieser Welt und immer auch von ihren Stärken und Schwächen, Pathologien und ihrer Größe gekennzeichnet. Sie hat genau dieser Welt einen Horizont zu geben, den sie ohne die Botschaft der Kirche nicht hätte, oder besser: von dem sie ohne die Botschaft der Kirche von Gott nichts wüsste“ (Bucher 2004b, 23)

Die Kirche sollte Konflikte nicht scheuen, sondern zum notwendigen Störpotenzial in der Gesellschaft werden und so zugleich an der fortwährenden Erneuerung ihres Selbst arbeiten. Die Kontroversen im Außen wie im Innern gilt es zu benennen, auszuhalten und zu gestalten. Und damit gilt es einen Weg zu beschreiten, der die Macht in der eigenen Ohnmacht entdeckt. Steht sie dazu, dann gelingt es ihr, ungesicherte Orte und Erfahrungen im Leben der Menschen von heute mit Hoffnung zu beleben.

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