Читать книгу Am Nachmittag kommt der Führer - Holger Schaeben - Страница 14
Sonntag, 6. Februar 1938
ОглавлениеWeiterhin mild, morgens Nebel, sonst wolkig, trocken, mäßige Winde.
Salzburger Chronik
Hoch über der Stadt, am Salzburger Gaisberg, haben sich über zweitausend Besucher zum Skispringen auf der SSC-Schanze auf der Zistel eingefunden. Der Name Sepp „Bubi“ Bradl zieht. Einen Populäreren gibt es heuer nicht. Er ist nicht nur Weltmeister, er ist der erste Skispringer, der weiter als 100 Meter geflogen ist. Am Neujahrstag hat er noch das Bergiselspringen in Innsbruck gewonnen und danach auch das Springen in Garmisch-Partenkirchen für sich entschieden. Bradl startet für den Salzburger Skiclub. Die Schanze befindet sich auf dem östlichen Abhang zwischen Zistelalpe und Mitteregg. Das Gebiet gehört noch zur Stadt Salzburg, Stadtteil Aigen. An einem solchen Tag wäre eigentlich auch beim Mitteregg der Teufel los. Der Gasthof gleichen Namens liegt direkt neben der Schanze. Aber erst im Juni nächsten Jahres wird der Betrieb wieder aufgenommen werden können. Nach dem Brand vor anderthalb Jahren steckt man noch mitten im Wiederaufbau. Und jetzt im Winter ruhen die Arbeiten ohnehin. Nur der Schlepplift, der gleich beim Haus abgeht, surrt leise vor sich hin. Vereinzelt lässt sich ein Skifahrer nach oben ziehen. Das Interesse gilt aber heute dem Skispringen.
Die Organisatoren und Helfer des SSC haben in den letzten Tagen sehr gute Arbeit geleistet. Die äußeren Bedingungen sind allerdings auch auf über 1000 Meter Höhe nicht ganz perfekt: War der Januar winterlich, ist der Februar viel zu mild, und heute prahlt er auch noch mit Sonnenschein. Die Temperaturen, schon fast frühlingshaft, setzen dem Schnee ordentlich zu.
Sepp Bradl – den Namen kennt man längst nicht nur in Deutschland oder Österreich. Mit einem Satz überwindet Bradl in Planica im März 1936 als erster Mensch auf Skiern die 100-Meter-Marke. Mit diesem Sprung schreibt er Sportgeschichte. Es ist auch ein Sprung in ein besseres Leben. „I hob damals wegen dem Sprung Arbeit bekommen, a richtige Arbeit, a Lehrstelle! Beim Lanz in Salzburg, woaßt eh, dem Trachtengeschäft!“ Seine Geschichte erzählt er später einem Journalisten, viel später, kurz vor seinem Tod im März 1982.
Bradl, den sie alle „Bubi“ nennen, ist am 8. Januar 1918 in Wasserburg am Inn als Josef Bradl zur Welt gekommen. Mit seinen Eltern übersiedelte er als Kleinkind von Deutschland nach Österreich. Bradls Vater, ein Bergmann, hatte im Kupferbergwerk in Mühlbach am Hochkönig Arbeit gefunden. Sepp ist ein Winterkind. Und er ist ein Bergkind. Mit seinem Vater teilt er die Begeisterung fürs Klettern. Bei einer gemeinsamen Tour am Hochkönig stürzt Vater Bradl ab, stirbt in den Armen seines zwölfjährigen Sohnes. „Des hob i mei Lebn lang net vagessn“, erinnert sich Sepp Bradl.
Im Skiclub von Mühlbach entdeckt man sein Talent. Sepp wird Skispringer. Eine richtige Arbeit hat er nie. Seit seiner Schulzeit ist er arbeitslos. Seine verwitwete Mutter kann das Lehrgeld für eine Lehrstelle nicht aufbringen. Wenn überhaupt, verdient er nur sehr unregelmäßig. Etwa beim „Freiwilligen Arbeitsdienst“, dem er beitritt, um das Geld für eine Skihose zusammenzukriegen. Das Arbeitslager liegt in Oberösterreich, hundertfünfzig Kilometer von Mühlbach am Hochkönig entfernt, wo er zu Hause ist. In drei Monaten hat er 42 Schilling gespart. Um das Ersparte nicht angreifen zu müssen, geht er den ganzen Weg zurück zu Fuß.
Der „Freiwillige Arbeitsdienst“ ist ein öffentlich gefördertes Beschäftigungsprogramm der „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung“ und der Arbeitslosenversicherung der Weimarer Republik. Meist sind es Burschen wie Bradl oder junge Männer, die in einem Arbeitslager einer für die Allgemeinheit nützlichen Arbeit nachgehen, die ihnen zudem das Gefühl geben soll, gebraucht zu werden. Die Arbeitsdienstlager der NSDAP werden seit 1931 vom ehemaligen Reichswehroffizier, Oberst a. D. Konstantin Hierl geleitet: „Der Arbeitsdienst ist eine Säule des zukünftigen deutschen Staates. Er ist höchster Ausdruck eines deutschen Sozialismus. Eine Erziehungsschule ohnegleichen.“
Mit einem Sprung ist Sepp raus aus dieser Erziehungsschule. 1936 in Planica heißt der Favorit eigentlich Reidar Andersen. Der Norweger will endlich die 100 Meter knacken. Alle Augen richten sich auf ihn. Bradl schenkt man wenig Beachtung. Dann kommt der zweite Durchgang, und Bubi Bradl springt der Konkurrenz davon.
Willi Lanz, Trachtenmodeunternehmer aus Salzburg, bietet ihm nach seinem Weltrekordsprung eine Lehrstelle an. Mit achtzehn verfügt Sepp Bradl zum ersten Mal über ein eigenes, regelmäßiges Einkommen. Sportlich fördert Lanz seinen Lehrling und stellt ihn zum Training frei. Lanz hat mit Sepp nicht nur einen fleißigen Lehrjungen gefunden. Der clevere Unternehmer hat sich mit dem Weltrekordler auch eine ideale Werbefigur ins Haus geholt.
Im Jahr seines Weltrekordsprungs startet Bradl noch für die österreichische Nationalmannschaft. Bei den Nordischen Skiweltmeisterschaften 1937 in Chamonix landet er auf dem fünften Platz. Ab 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs, wird er für den Kader des Deutschen Reiches springen. Bei den Weltmeisterschaften 1938 in Lahti wird er Vierter, und im selben Jahr wird ihm, erneut auf der Schanze in Planica, die Verbesserung seines Weltrekordes von 101,05 auf 107 Meter gelingen. „Ich duckte mich wie ein Panther. Als ich kurz vor dem Absprung wieder hochgehen sollte, blieb ich unten. Der Druck war ungeheuer, fast schien es, als hätte ich keine Kraft mehr, zum Doppelsatz hochzugehen. Mit letzter Energie riss ich mich hoch und – zack, draußen war ich. Ich spürte, der Absprung war hervorragend gelungen. Es war ein herrliches Gefühl, sich tragen zu lassen, und ich hatte den Wunsch, immer so weiterzufliegen.“
Beim Zistelspringen auf dem Gaisberg sind die Menschen außer sich vor Begeisterung. Sepp Bradl tritt zu seinem zweiten Sprung an. Er hört die jubelnde Menge. Kurz schließt er die Augen. In Startposition verharrend atmet er die Sekunden ein und aus. Dann rauscht er ab. Sein roter Pullover leuchtet wie ein Feuerball. Mit einem kräftigen Stoß löst er sich vom Schanzentisch. „Zieheeeen!“, brüllt die Masse. „Zieheeeen!“ Sepp fliegt, getragen vom Jubel, und – landet sicher in den Armen des Publikums. Er gewinnt überlegen. Der Salzburger Bildberichterstatter Franz Krieger fotografiert den lächelnden Sieger des heutigen Springens. Es ist das Lächeln eines unter einem Glücksstern Geborenen. Es ist das letzte Zistelspringen vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.