Читать книгу Am Nachmittag kommt der Führer - Holger Schaeben - Страница 7
Freitag, 31. Dezember 1937
ОглавлениеSilvester, morgen Neujahr, übermorgen Namen-Jesu-Fest. Tageslänge: 8 Stunden 24 Minuten. Sonnenaufgang 7.51, -untergang 16.15; Mondaufgang 6.36, -untergang 15.22 Uhr. Temperatur heute um 7 Uhr minus 7 Grad (gleich mit gestern).
Salzburger Chronik
Im Hôtel de l’Europe laufen die Vorbereitungen für die Silvesternacht auf Hochtouren. Dass Georg Jung heute Geburtstag hat, geht dabei fast unter. Ihm ist es recht. Jung ist nicht der geborene Hotelier. Jung ist Künstler. Durch den Tod des Vaters vor vier Jahren hatte er sich in der Pflicht gesehen, den Betrieb zu übernehmen. Der Vater, der wie er nach seinem Vater Georg genannt worden war, hatte das Haus zu einem Grandhotel gemacht. Mit dem Maler Georg Jung steht dem Hôtel de l’Europe jetzt ein Mann vor, der sich lieber „mit dem Problem der Farbe als Ausformung partieller Lichtqualitäten“ beschäftigt als mit Buchungszahlen, Zimmerauslastungen, Speiseplänen und ähnlich weltlichen Angelegenheiten. Aufgewachsen an einem Ort, an dem sich die große Welt ein Stelldichein gibt, in einem Milieu materiellen Reichtums, hat er sich nie um Fragen der persönlichen Existenzsicherung kümmern müssen. Sein Leben galt und gilt der Kunst. Seitdem er auch Unternehmer ist, hat er im Hotel vor allem eines unternommen: die künstlerische Ausgestaltung des Hauses. Bald nach dem Tode des Vaters konnte man im Sommer 1935 im Neuen Wiener Tagblatt lesen: „Mitunter […] gerät sein Doppel-Ich als Künstler und Hotelier in peinliche Kollisionen. So erst kürzlich, als der Küchenchef seinen Herrn im ganzen Hause vergeblich suchte, bis er ihn endlich im Malerkittel, zwischen Farbtöpfen den Bartisch bemalend, fand und ob solch unwürdigen Anblicks fassungslos ausrief: ‚Der Padron malt!!!‘“
Auch heute, im vierten Winter nach der Übernahme der Hotelleitung, zeigt der Jung der dritten Generation wenig Ambitionen für die Führung des väterlichen Betriebs. Manchmal, wenn ihm der Trubel zu viel wird, setzt er sich in seinen Steyr Austria, lässt Hotel und Salzburg hinter sich und steuert das fünf Meter lange Gefährt – mehr ein Schiff denn ein Auto – über Gnigl in Richtung Gaisberg. Jung ist ein leidenschaftlicher Autofahrer. Es gibt dieses Ölbild mit dem Titel „Gaisbergstraße“, das er bereits 1929 gemalt hat. Im Vordergrund ist sein Auto zu sehen, und sogar der Fahrer ist zu erkennen, der den massigen 8-Zylinder über die kurvige Straße chauffiert, „dahinter eine reichgegliederte, bewaldete Hügellandschaft, durch welche sich die Straße schlängelt. […] Die Stimmung ist dramatisch gewitterhaft verdüstert. Eine Skala tiefer Grautöne verwandelt den Ausblick in eine geheimnisvolle Stimmungslandschaft“.
Heute Nachmittag trägt die Natur Schwarz-Weiß. Jung fährt die winterliche Straße bis zur Zistelalm hinauf, dort parkiert er, lässt das Seitenfenster herab, zündet sich eine Zigarette an und denkt vielleicht an seine nächsten Jahre: Kunstschaffender oder rechtschaffener Hotelier? Salzburg oder Wien? Palastleben oder Künstleratelier? Auf den heutigen Tag genau ist er achtunddreißig Jahre alt. Als Maler erfährt er im In- und Ausland hohe Anerkennung und Wertschätzung. Auch Walter Schwarz schätzt seine Arbeiten sehr. Die beiden sind durch die Kunst verbunden, mehr als durch materielle Werte. Schon 1919 werden sie einander begegnet sein, Jung als ein Mitglied der Künstlergruppe Der Wassermann, Schwarz als Kunstsammler, der über dem Kaufhaus Schwarz eine Galerie führt. Die nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Neue Galerie, in der Bilder moderner Maler wie Egon Schiele, Felix Albrecht Harta, Anton Faistauer zu sehen sind, ist auch ständiger Ausstellungsort für Werke der Wassermann-Gruppe.
Jung zieht an seiner Zigarette und bläst den Rauch in die kalte Winterluft. An der Gaisbergstraße liebt er nicht nur die Herausforderungen, die sie an ihn als Chauffeur stellt. Auch seine künstlerischen Qualitäten hat er an ihr schon ausprobiert und kurz nach ihrer Eröffnung im Jahre 1929 eine Serie von Federzeichnungen mit Motiven der Bergstraße gemalt. Es sind siebzehn Blätter, die in ihrer Summe „eine höhere Einheit bilden. Man kann sie mit musikalischen Kompositionen vergleichen: Bäume, Felsen, Wiesen, Wolken sind motivische Einfälle, die nun im großen Orchester verarbeitet werden, von den Instrumenten in verschiedenen Tonfarben gespielt, kontrapunktisch verknüpft, auf das spezifisch Graphische hin paraphrasiert und melodiös zusammengezogen. […] Die künstlerisch wertvollen Zeichnungen geben sich recht sinnfällig und erschließen sich auch jenem Beschauer, der in ihnen nur einen Bericht über die längs der Straße ausgebreiteten landschaftlichen Szenerien sehen will. Sie sind, ähnlich holländischen zeitgenössischen Graphiken, tönende Visionen, die so stark im Boden der Wirklichkeit wurzeln, daß sie auch als die Künder eines kühnen realen Werkes der Ingenieurzunft, wie es der Bau dieser Straße darstellt, ihren lobenswerten Dienst tun.“ Die Zeichnungen spiegeln die Persönlichkeit Jungs, „der zwischen hoher Empfindsamkeit und starken intellektualisierten Neigungen hin- und hergezogen“ ist.
Als Hotelierserbe ist er ein wohlhabender Mann, der sich seiner künstlerischen Tätigkeit ohne jede materielle Not widmen kann. Aber ist er frei? Für diesen Moment vielleicht. Er macht den letzten Zug und löscht die Glut. Vielleicht soll er verkaufen? Er weiß es nicht.