Читать книгу Am Nachmittag kommt der Führer - Holger Schaeben - Страница 19
Donnerstag, 24. Februar 1938
ОглавлениеKAMERADEN DER VATERLÄNDISCHEN FRONT! Österreicher und Österreicherinnen! Heute abends 7 Uhr spricht unser Bundeskanzler und Frontführer zu uns Österreichern und zu ganz Europa. Er wird uns die Sicherung des Friedens und der Versöhnung geben, aber auch die unbeugsame Sicherung unserer Freiheit und Unabhängigkeit! Wir Österreicher und besonders wir Salzburger wollen unserem Kanzler und Frontführer laut unseren Dank zurufen. Ihm zu Ehren tragen wir morgen Fackeln und Licht durch die Straßen. Alle Salzburger nehmen am Fackelzug der Vaterländischen Front teil, an dem Aufmarsch für Ruhe, Frieden, Ordnung und Versöhnung! Die gesamte Bevölkerung wird gebeten, die Häuser bis morgen abends beflaggt zu lassen. Front Heil! B. Aicher, Landesführer.
Salzburger Volksblatt
Seit dem „Berchtesgadener Abkommen“ sind nun fast zwei Wochen vergangen. Bundeskanzler Schuschnigg glaubt immer noch an die Möglichkeit der Souveränität seiner Heimat. In einer Rede vor dem Österreichischen Bundestag will er die Unabhängigkeit und den Willen zum Widerstand gegen Hitler betonen. Die Rede, mit großer Spannung erwartet, wird schon seit Tagen landesweit über Rundfunk und Zeitungen angekündigt. Hauseigentümer haben schriftliche Aufforderungen erhalten, der Bedeutung der Rede durch Beflaggung mit den österreichischen Farben Rechnung zu tragen, wie es darin heißt. Auf zentralen Plätzen sind Lautsprecher installiert. In vielen Kaffee- und Gasthäusern ist noch vor zwei Tagen durch Plakatierung angekündigt worden, dass die Rede bei ihnen über Rundfunk zu hören sein würde. In Wien wird man die Reichsratssitzung über eine Beschallung sogar direkt vor dem Parlament verfolgen können. Als die Stunde Schuschniggs gekommen ist, befindet sich halb Wien auf den Beinen. Aus Fabriken und Firmen kommen Arbeiter und Angestellte zusammen und ziehen in geschlossenen Reihen auf die Ringstraße. Die Innere Stadt vibriert förmlich. Wimpel und Fahnen werden geschwungen. Das Parlament ist schon von Menschenmassen umringt. In anderen Teilen Wiens sind die Straßen wie leer gefegt. Leute, die kein eigenes Radiogerät besitzen, versammeln sich in den Kaffeehäusern.
Nachdem Sitzungsteilnehmer und Regierungsmitglieder am Parlament vorgefahren sind, trifft um 18.45 Uhr Bundeskanzler Dr. Kurt Schuschnigg ein. Im Reichsratssitzungssaal prangt ein über die ganze Breite gespanntes rot-weiß-rotes Fahnentuch, darauf der Doppeladler und das Kruckenkreuz, das Symbol der „Vaterländischen Front“. Der historische Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Fast alle mitteleuropäischen Sender werden die Rede übertragen, auch zahlreiche amerikanische Stationen haben ihre laufenden Programme geändert. Die Welt horcht auf. Um 19.05 Uhr werden die Lautsprecher eingeschaltet. Nach der Eröffnung durch den Präsidenten des Österreichischen Bundestages, Rudolf Hoyos-Sprinzenstein, setzt Schuschnigg zu seiner mehr als zweistündigen Ansprache an. Er weiß, dass es jetzt um alles geht. Daher spart er sich lange Floskeln: „Der erste und einzige Punkt der Tagesordnung ohne Allfälliges und ohne Debatte lautet: Österreich!“ Sofort folgt minutenlanger, stürmischer Beifall. Schuschnigg macht deutlich, dass die Regierung unverrückbar auf dem Boden der Verfassung von 1934 stehe und dass sie es als ihre erste und selbstverständliche Pflicht erachte, mit all ihren Kräften die unversehrte Freiheit und Unabhängigkeit des österreichischen Vaterlandes zu erhalten. Nachdem der Kanzler ausführlich über den Besuch bei Hitler auf dem Berghof berichtet hat, schickt er eine unmissverständliche Warnung an die österreichischen Nationalsozialisten: „Es ist vereinbart und festgestellt, daß die bisherige Illegale in Österreich in keiner Weise auf Deckung durch außerstaatliche Stellen oder auf Tolerierung durch die österreichische Bundesregierung rechnen kann, daß vielmehr jede gesetzwidrige Betätigung zwingend der in den Gesetzen vorgesehenen Ahndung verfallen wird. […] Wir wissen genau, daß wir bis zu jener Grenze gehen konnten und gingen, hinter der ganz klar und eindeutig steht: Bis hierher und nicht weiter! Nicht Nationalismus oder Sozialismus in Österreich, sondern Patriotismus ist die Parole. Und was gesund ist von den verschiedenen Gedanken und Programmen, das findet Platz in der ersten nationalen und sozialen Bewegung im Vaterland, in der Vaterländischen Front!“ Nach erneutem, nicht enden wollendem Beifall hebt er zum Höhepunkt und Schluss seiner langen Rede an: „Und weil wir entschlossen sind, darum steht der Sieg außer Zweifel. Bis in den Tod Rot-Weiß-Rot! Österreich!“ Daraufhin braust ihm tosender Applaus entgegen, wie er ihn noch selten erfahren hat.
So wie in Wien, Salzburg oder Innsbruck haben sich in allen Landeshauptstädten Österreichs Tausende Menschen vor den Lautsprechern versammelt. Natürlich sind nicht nur die Anhänger Schuschniggs zusammengekommen. Gerade die Nationalsozialisten sollen sich vom Kanzler angesprochen fühlen. Als die Schlussworte „Bis in den Tod Rot-Weiß-Rot!“ aus den Lautsprechern und Radioapparaten scheppern, jubeln die Anhänger der „Vaterländischen Front“, während die Wut der anderen, der Nazis, kaum mehr Grenzen kennt: Lautsprecher werden heruntergerissen und zertrampelt, rot-weiß-rote Fahnen verbrannt, in Graz wird das Rathaus gestürmt, die österreichische Fahne vom Mast geholt. Und dann wird erstmals in Österreich eine Hakenkreuzflagge über einem öffentlichen Gebäude hochgezogen. Sie weht nicht sehr lange – aber sie weht.