Читать книгу Am Nachmittag kommt der Führer - Holger Schaeben - Страница 18
Montag, 21. Februar 1938
ОглавлениеIn Wien, Graz und Innsbruck große, ergreifende Nazidemonstrationen. Das ist so wunderbar. Jetzt rollt die Sache programmgemäß weiter.
Joseph Goebbels: Aus dem Tagebucheintrag vom 22. Februar
Walter Schwarz schaut aus dem Fenster seiner Wohnung über dem Kranzlmarkt. Als das Licht der Fackeln durch die Ritzen der Fensterläden züngelt, duckt er sich reflexartig weg. Unter ihm, von der Getreidegasse kommend, fließt ein in der Dunkelheit lodernder Strom jubelnder Menschen vorbei. Die Fackelträger, „Heil-Hitler“-Brüller und Hakenkreuzfahnen- und Transparenteschwenker bewegen sich in Richtung Alter Markt. Er ist sicher, dass sie sich auf dem Residenzplatz versammeln werden, denn der Marsch ist von den Behörden genehmigt, die Strecke aus der Zeitung bekannt. Seine Gedanken sind heftig in Bewegung und er hofft, dass sie mit der Wirklichkeit Schritt halten können: Nun sollen sie also legal sein … In Salzburg hat man schon über tausend von ihnen gezählt … Vor drei Tagen haben sie den Feßmann wieder aus der Haft entlassen, und ruckzuck sind die Straßen in Nazihand … Der Reitter hat ihm die Organisation übertragen … Ist doch klar: Dass die Vaterländischen heute im Kurhaus ihr Bekenntnis zu Schuschnigg und Österreich abgelegt haben, muss ihnen ein Dorn im Auge sein … Mein Gott! Das hört ja nimmer auf! Jetzt ziehen sie schon seit fast zwei Stunden grölend und trommelnd hier vorbei. Das müssen noch mehr als tausend von denen sein!
Die Landsknechtstrommeln hört auch Franz Krieger, der unten auf der Straße ist. Wie Walter Schwarz sieht er den feurigen Menschenstrom, nur ist er mittendrin. Und wenn er nah genug herantritt, kann er sogar das Feuer in den Augen der Menschen sehen. Und er hört auch, was um ihn herum gesprochen wird. Zahlen machen die Runde: 10.000? 13.000? 20.000? Franz Krieger ist wie gefangen von diesem warm glühenden Ereignis. Wie die Fackeln gegen den nächtlichen Himmel erstrahlen! Mein Gott, das müssen wer weiß wie viele sein! Er fotografiert und fotografiert. Er hört den Jubel und sieht den Glanz der Freude auf den Gesichtern der Menschen. Er fotografiert bereits von Anfang an, war von der Rainerstraße über den Mirabellplatz die Paris-Lodron-Straße entlang in der Franz-Josef-Straße und in der Linzer Gasse, auf dem Platzl und der Staatsbrücke, in der Griesgasse und der Getreidegasse mit dabei. Jetzt geht es über den Alten Markt auf den Residenzplatz zu. An der Spitze sieht er die Hitlerjugend und den „Bund Deutscher Mädel“ marschieren. Die Burschen tragen braune Knickerbocker und weiße Hemden mit Schulterriemen und Koppelschloss; die Mädchen dunkle Röcke und weiße Blusen dazu, darüber haben sie Berchtesgadener Jacken an. Jungen wie Mädchen halten Spruchbänder hoch: „Heil Hitler“, „Sieg Heil“, „Österreich erwache“. Franz Krieger, der wie ein Großteil der tosenden Menge auf dem Residenzplatz ankommt, sieht Bilder, Bilder, Bilder – und ist gleichzeitig ein Teil davon. Jetzt ebbt der Jubel etwas ab. Dr. Albert Reitter, der „Volkspolitische Referent“ der „Vaterländischen Front“, ergreift das Wort. „Nationalsozialisten, wir sind soweit!“, ruft er in den wieder einsetzenden Jubel und grüßt mit „Deutschem Gruß“. Und die Menschen machen es ihm nach.
Während der Einzelne in der Begeisterung der Masse untergeht, hat sich im Schutz der Dunkelheit einer aus seiner Wohnung gewagt und drückt sich am Rand des Platzes in einen Hauseingang: Walter Schwarz. Er muss wissen, was hier vor sich geht. Er hört, wie Reitter seinen Gruß auch an den „Führer“ adressiert, aber nicht nur an ihn, er grüßt ebenso den Schuschnigg sowie den Innenminister, der ja seit Neuestem Seyß-In-quart heißt. Walter Schwarz fragt sich, was Reitter damit bezweckt. Seine Gedanken gehen ihm hin und her im Kopf: „Sieg Heil!“, „Front Heil!“ Wo ist da noch der Unterschied? … Erst haben sie die Nationalsozialisten in den Untergrund gejagt. Jetzt lassen sie sie wieder machen, wie sie wollen … Da marschieren SS und SA auf, als ob es sie schon immer gegeben hätte, als ob die nun tun und lassen könnten, was sie wollen … Ist doch verboten. Oder nicht? … Wird das so weitergehen? Wie weit werden die es noch treiben?