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Dienstag, 11. Januar 1938

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AUS DEM GERICHTSSAALE. Salzburg […]. Vor dem Schöffengericht hatten sich gestern 23 Halleiner im Alter von 19 bis 40 Jahren wegen des Verbrechens gegen das Staatsschutzgesetz zu verantworten. Die von Staatsanwalt Dr. Balthasar vertretene Anklageschrift meldet, daß die Angeklagten teils an Appellen teilgenommen haben, teils Beiträge für die illegalen Nationalsozialisten bezahlten. Im Großen und Ganzen waren die meisten der Angeklagten geständig, einige verlegten sich aufs Leugnen.

Salzburger Chronik

Der seit achtundvierzig Stunden anhaltende starke Schneefall legt endlich eine Atempause ein. Salzburg trägt Weiß. Nicht wenige in der Stadt wären froh, wenn der heutige Tag das vorläufige Ende des Schneefalls markierte. An Pause ist für die Leute vom städtischen Räumungsdienst noch lange nicht zu denken, sie wissen kaum noch, wohin sie das Material schieben sollen. Die Stadt hat zusätzliche Schneeschaufler eingestellt. Der Salzburger Automobilclub kümmert sich um die Räumung der Parkplätze.

Franz Krieger streift mit seiner Kamera durch die Straßen und sammelt Winterimpressionen. Gerade steht er auf der Staatsbrücke. Unter ihm wälzt sich das graue Band der Salzach dahin, manchmal schießt ein Baumstamm oder großer Ast zwischen den Brückenpfeilern hindurch. Franz Krieger steht und schaut, dreht sich um: Auch auf der Brücke kommt der Verkehr schneebedingt nur langsam voran. Ein Hupkonzert macht es auch nicht besser. Die Arbeit lässt Krieger weiterziehen. Eine Auswahl seiner Fotos soll am nächsten Tag im Salzburger Volksblatt erscheinen. Während die anderen dem Schnee den Kampf angesagt haben, sieht Franz Krieger mit dem Auge des Fotografen auf die winterliche Stadt. Am Ende der Staatsbrücke hat jemand sein Fahrrad auf einem Schneehaufen abgestellt. „Ein Fahrradständer aus Schnee“, denkt Krieger und drückt ab. Sein nächstes Ziel soll der Mirabellgarten sein, er will sehen, was die winterliche Pracht dort gezaubert hat. Er muss heute dranbleiben, denn schon ab morgen soll Tauwetter einsetzen. Er geht ein kurzes Stück am Flussufer entlang, wirft einen Blick durch die Fenster des Café Bazar, auf dessen Terrasse, menschenleer, die Tische jetzt dicke, pudrig weiße Hauben tragen. Von drinnen lockt das warme Licht. „Später“, denkt er.

Er ist seit einer Woche wieder in der Stadt und bisher kaum draußen gewesen. Bis Dezember war er noch der Rekrut Krieger, der seinen Militärdienst als „Einjährig freiwilliger Kanonier“ beim „Leichten Artillerieregiment Nr. 6“ in Innsbruck abzuleisten hatte. Seit heute ist er vierundzwanzig Jahre alt und neuerdings Familienoberhaupt wider Willen – ein junger Mann, der doch eigentlich Fotojournalist sein will und nun unerwartet auch den Witwenbetrieb der Eltern übernehmen muss. Seinen Geburtstag feiert er heuer leise. Der Vater war am 1. November vergangenen Jahres mit nur fünfzig Jahren gestorben, ein trauriger Anlass, der die vorzeitige Rückkehr Kriegers aus dem Militärdienst bedingt hat. Franz Krieger Junior ist Einzelkind, geboren im zweiten Stock des elterlichen Wohnhauses im Herzen der Salzburger Altstadt. Als Franz Seraph Karl 1914 auf die Welt kommt, heißt der seit 1927 Alter Markt genannte Platz vor dem Haus der Familie Krieger noch Ludwig-Viktor-Platz, und die Welt vor dem Haus Nr. 10 steht vor einem ersten großen Krieg.

Bis Herbst vergangenen Jahres haben Vater Franz und Mutter Lina gemeinsam die Eisenwarenhandlung Krieger in der Churfürststraße 3 geführt und ein dazugehöriges Magazin in der Marktgasse. „Gegenstand des Geschäftes war der Handel mit allerlei Geräten, vom Kochtopf bis zu Gartengeräten.“ Auch Sprengmittel werden bei Krieger angeboten, und vor jedem Silvester ist das Fachgeschäft Anlaufstelle für die Käufer von Feuerwerkskörpern. 1945 wird dann noch der Handel mit Waffen und Munition dazukommen. Das elterliche Wohnhaus steht nur fünfzig Schritte vom Geschäft entfernt. Mit Franz geht es nun in die dritte Generation über. Seine neue Aufgabe, das Organisatorische und Wirtschaftliche um die Eisenwarenhandlung herum, wird ihm nicht schwerfallen, er hat seine Berufsausbildung mit dem Diplomkaufmann abgeschlossen. Zum Glück, denn so bleibt ihm genug Zeit, seiner Berufung, der Fotografie, nachzugehen.

Franz Krieger steht im Mirabellgarten. Von irgendwoher ist das kratzende Geräusch der Schneeschaufler zu hören. Er späht durch den Sucher seiner Leica-Kamera: Die Schneelast hat den kunstvoll gestalteten Bewegungen der Skulpturen ihre Leichtigkeit und Lebendigkeit genommen. Der bronzene Pegasus kann sich kaum noch in die Lüfte erheben, und die Borghesischen Fechter tun sich im Kampf mit ihrem unsichtbaren Widersacher jetzt doppelt schwer. Nur Herkules stützt sich scheinbar ungerührt auf seine Keule, während sich die weißen Flocken auf seinen Kopf und das über seine Schulter geworfene Löwenfell legen.

Während Franz Krieger in diesen ersten Tagen des Jahres auf der Suche nach passenden Motiven ist, können die Bewohner der nur wenige Kilometer östlich von Salzburg gelegenen Ortschaft St. Gilgen ganz andere Dinge beobachten. Seit ein paar Tagen lässt sich in ihrem Dorf der Einsatz von KZ-Häftlingen im Jännerschnee verfolgen. Insbesondere das An- und Abfahren der Gefangenentransporte am Gemeindegefängnis, wo die etwa zwanzig Häftlinge untergebracht werden, entgeht den Leuten nicht. Was sie nicht wissen können: Vor ihren Augen entsteht ein weiteres Außenlager des KZ Dachau. Der SS-Führer und Dachauer Lagerkommandant Hans Loritz hat den Ort an der Nordwestspitze des Wolfgangsees ausgewählt. Er hat persönliche Ambitionen. Sein Plan: In St. Gilgen will er mehrere zusammenhängende Grundstücke entlang der Straße nach Bad Ischl erwerben. Das Gelände liegt etwas abseits der Gemeinde an einem Berghang, mit schönem Blick auf den See. Auf dem Grundstück wird bis zum Sommer 1938 seine Villa Waldheim und am Ufer sein Bootshaus entstanden sein. Die Vorarbeiten sowie die Bauarbeiten werden Dachauer Zwangsarbeiter durchführen. Offiziell bezeichnet er seine privaten Bautätigkeiten als Arbeiten zur Errichtung des KZ-Außenlagers St. Gilgen. Doch noch liegt in St. Gilgen über allem die Ahnungslosigkeit, und wären da nicht diese ungewöhnlichen Aktivitäten zu beobachten, würde die Dorfwelt ungestört unter der dicken Decke aus unschuldigem Weiß ruhen.

Franz Krieger nimmt jetzt den Weg zum Bazar, er will sich aufwärmen und Zeitung lesen. Im Hereinkommen greift er nach der Salzburger Chronik am Haken des Zeitungsständers und schaut nach einem freien Platz, bevorzugt mit Aussicht auf die winterliche Terrasse. Noch im Stehen bestellt er einen Verlängerten. Die Zeitung ist fest in ein hölzernes Stabgestell mit Griff eingespannt, sie lässt sich dadurch mit der linken Hand leicht halten, ohne sie auflegen zu müssen. Krieger kann sich also ganz entspannt zurücklehnen und mit der rechten Hand umblättern: entweder von vorne nach hinten oder, wie er es jetzt vorzieht, von hinten nach vorne. Auf der letzten Seite interessiert ihn heute die Sport-Chronik. Doch die muss noch ein paar Sekunden warten. Eben bleibt sein Blick an einer Werbeanzeige auf derselben Seite hängen, eine ganze Spalte, nicht zu übersehen. Neben anderen Salzburger Unternehmen macht hier auch das Kaufhaus Schwarz auf sich aufmerksam: „Heute hat unser Inventurverkauf begonnen! Reste! Reste! Reste!“ Da wird wieder ein schönes Menschengedränge sein, denkt Krieger, denn der Inventurverkauf bei Schwarz hat eine lange Tradition. Wahrscheinlich lohnt es sich, nachher noch rasch vorbeizugehen. Er hat zwar keinen Bedarf, die Versuchung ist jedoch groß – alles, was das Sortiment des Schwarz’schen des Schwarzachen Kaufhauses hergibt, wäre zu billigen Preisen zu haben … Aber er wird lieber ein paar Fotos vom Andrang bei dieser Gelegenheit schießen. Als Krieger sich weiter durch die Spalte liest – gerade ist er bei „Herren Modehüte in vielen Farben, früher bis S 9,80, jetzt 5,90“ –, kommt der Kaffee.

Am Nachmittag kommt der Führer

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