Читать книгу Am Nachmittag kommt der Führer - Holger Schaeben - Страница 8
Freitag, 7. Januar 1938
ОглавлениеPOLITISCHE ERKLÄRUNG DR. SCHUSCHNIGGS. London […]. Bundeskanzler Dr. Schuschnigg hat einem Sonderkorrespondenten des Daily Telegraph Rees van Hoek ein ausführliches Interview gewährt. „Ein Abgrund trennt Österreich vom Nationalsozialismus“, erklärte der Kanzler.
Salzburger Volksblatt
Der Griff nach dem Inhalationsmittel ist Otto Müller längst zur vertrauten Gewohnheit geworden. Er hat es doch genau hier hingelegt! In dieser Nacht, allein im Verlag, ringt er verzweifelt nach Luft.
Müller, von schmächtiger Gestalt, aber großer Lust am Büchermachen, lebt für seinen jungen Verlag. Im Juli des vergangenen Jahres hat der aus Karlsruhe stammende gelernte Bankkaufmann den Pustet-Verlag verlassen und den Otto Müller Verlag Salzburg gegründet. Die ersten Monate hat ihm sein alter Arbeitgeber das Leben schwergemacht. Auf dessen Betreiben hin erhält er zunächst keine Konzession für seinen Salzburger Verlag. Als Wochen später zunächst Innsbruck gesetzlicher Firmensitz wird, bestimmt Müller dennoch Salzburg zum Arbeitsort. Der Name der Stadt im Namen des Verlages ist wie ein Bekenntnis für ihn. Für sein klares Bekenntnis zur schönen Literatur stehen seine Autoren der ersten Stunde, wie Leitgeb und Rachmanowa. Bereits mit den ersten Publikationen hat er den Leitgedanken seines Verlagsprogramms festgelegt: Neben der Veröffentlichung schöner Literatur ist dies die Vermittlung von theologischem und geisteswissenschaftlichem Gedankengut. Demnach umfasst das Herbstprogramm 1937, in dem er bereits sechs Bücher veröffentlicht hat, Titel aus Belletristik und Geisteswissenschaften und ist christlich-religiös geprägt. Als Verleger sieht sich Otto Müller als weltoffener Vermittler abendländischer Kultur mit katholischem Hintergrund. Dafür spricht auch seine Absicht, die katholische Schriftstellerin und Halbjüdin Elisabeth Langgässer zu verlegen. Noch vor dem 3. März nächsten Jahres, seinem siebenunddreißigsten Geburtstag, will er ihre „Rettung am Rhein“ herausbringen. Dass Otto Müller auch ein glühender Anhänger Adolf Hitlers ist, empfindet er selbst nicht als Widerspruch. Anlässlich des „Großdeutschen Tages“ am 9. April 1938 wird er eine Ansprache vor seinen Mitarbeitern halten: „Und heute können wir ‚Gott sei Dank‘ sagen zu dem Geschehenen. Der Traum eines deutschen Jahrtausends ist über Nacht wahr geworden. […] Die Tatsache, dass uns das Schicksal Grossdeutschland geschenkt hat, verpflichtet jeden einzelnen von uns bis in die letzte Faser seines Seins. Und damit auch dem Mann gegenüber, der der Führer und Wegbereiter zu diesem Grossdeutschland war und ist. Es soll heute nichts anderes mehr Raum in uns haben als ein Bekenntnis des Dankes Adolf Hitler gegenüber und treue Gefolgschaft.“ Später werden die einen von ihm sagen, er wäre nationalsozialistisch eingestellt gewesen. Andere werden sagen, er habe großdeutsch gedacht. Es ist aber denkbar, dass er selbst da gar keinen so großen Unterschied gesehen hat.
Derzeit ist Politik jedoch nicht das, was ihn beschäftigt. Er hat nur noch sein Geschäft im Kopf, und das macht ihm gerade wenig Freude. Vor acht Monaten hat er die Position als leitender Direktor des Verlages Anton Pustet, den er sieben Jahre zum Wohl des Unternehmens bekleidet hatte, gegen die Rolle des Verlagsinhabers getauscht. Er arbeitet viel, auch oder gerade nachts. Immer häufiger packt ihn die Angst des Erstickens. Seit geraumer Zeit leidet er unter einem nervösen Asthma. Das Leben von Otto Müller ist ständig bedroht. „Weil er gewohnt war, sich selbst […] das Äußerste an Haltung und Leistung abzufordern“, kommt er oft an seine körperlichen Grenzen. „Was immer er leistete, es war seiner schmalen Physis abgerungen.“ Die Situation für seinen Verlag ist in den letzten Wochen immer prekärer geworden und hat seine Asthmaanfälle vermehrt und heftiger auftreten lassen. Bis kurz vor Weihnachten des vorigen Jahres hatte Otto Müller eine Verfolgungskampagne gegen sich ertragen müssen. Der Styria-Konzern in Graz, zu dem der Salzburger Verlag Pustet gehört, hatte ihm vor Monaten einen dicken Knüppel zwischen die Beine geworfen und die Verweigerung der Konzession für Salzburg betrieben, um sich am Pustet-Standort einen ernst zu nehmenden Konkurrenten vom Leib zu halten. Kein guter Anfang für einen Gründer. Erst seit Herbst ist der Otto Müller Verlag Salzburg endlich auch ein Verlag mit Konzession, wenn auch nur für Innsbruck. Der Konflikt mit der Styria war aber damit noch nicht zu Ende. Es vergingen weitere zermürbende Wochen und Monate. „Aus verschiedenen Äusserungen hat es aber den Anschein, dass die Grazer nach wie vor versuchen werden, ihren Rachefeldzug weiterzuführen“, hatte Otto Müller schon im Juli 1937 an seinen Freund Ignaz Zangerle geschrieben. Im September flattert ihm tatsächlich eine Strafanzeige ins Haus. Der Katholische Preßverein als Eigentümer der Styria steht hinter der Anzeige wegen Verdachts der Untreue. Angeblich hat Müller eine Klausel in die Autorenverträge des Pustet-Verlages aufgenommen, in der er die Autoren verpflichtete, ihre Werke für die Dauer seiner Leitungsposition bei Pustet zu belassen. Die Schadensforderung des Preßvereins: 250.000 Schilling. Diese Summe übersteigt um ein Vielfaches das Startkapital, das Otto Müller für sein Unternehmen zusammengebracht hat. Für Verlag und Verleger bedeutet die Strafanzeige eine existenzielle Bedrohung. Die gerichtlichen Voruntersuchungen der Staatsanwaltschaft dauern Wochen – Oktober, November, Dezember. Drei quälende Monate. In den letzten Dezembertagen 1937 werden sie eingestellt, da die Staatsanwaltschaft keine Gründe zur weiteren Verfolgung der Anzeige findet. Gleichzeitig mit der Einstellung des Strafverfahrens wird Otto Müller von der Landeshauptmannschaft Salzburg die Verlagskonzession mit Standort Salzburg erteilt. Endlich geschafft? Die Strafanzeige, so unbegründet und haltlos sie war, ist nicht ohne negative Wirkung auf seine Gesundheit geblieben.
Hektisch, unter beklemmender Atemnot durchsucht er mit beiden Händen den Inhalt der Schublade seines Schreibtisches nach dem rettenden Asthmaspray, während sich seine Bronchien weiter zusammenziehen. „Man muss ihn gesehen haben, wenn er, schmächtig von Gestalt und früh angegraut, nächtens im Sessel mühsam nach Atem rang, wenn die Angst des Erstickens in seinem schmalgewordenen, erschöpften Gesicht stand.“ Er zittert, schwitzt, röchelt – dann findet er endlich, wonach er sucht.