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|7|1 Einleitung: Der berühmteste römische Kaiser

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In der modernen Medienlandschaft ist es üblich, in regelmäßigen Abständen den Bekanntheitsgrad und die Popularität der aktuellen politischen Prominenz zu erfragen. Eher unüblich ist es, die Werte historischer Persönlichkeiten zu ermitteln. Würde man aber ein Ranking der bekanntesten römischen Kaiser aufstellen, so dürfte der Name Nero mit einer signifikanten Häufigkeit auftauchen, vermutlich auch in der Spitzengruppe und wahrscheinlich sogar noch vor Augustus, dem Begründer der römischen Monarchie, und sicher vor Herrschern wie, um nur einige Beispiele zu nennen, Claudius, Nerva und Antoninus Pius. Würde man die Befragten weiterhin auffordern, Kaiser Nero einige charakteristische Eigenschaften zuzuordnen, so wäre das Ergebnis für den Betroffenen wenig erfreulich. Man würde von einem blutrünstigen Tyrannen sprechen, der wie kein anderer Inbegriff der sprichwörtlichen „Zustände wie im alten Rom“ war. Und wenn die Meinungsforscher sich weiterhin nach einem repräsentativen Auszug aus dem Sündenregister Neros erkundigen würden, so würden Stichworte wie Brandstifter, Christenverfolger, Muttermörder oder eine unpassende Affinität zu eigenen musikalischen Darbietungen fallen.

Bald 2000 Jahre ist es her, dass Kaiser Nero das römische Imperium regierte. Woher kommt dieser zweifelhafte Ruhm? Wieso ist sein Name bis heute präsent und so berüchtigt? Eine nicht zu unterschätzende Quelle sind ohne Frage cineastische Hollywood-Produktionen wie Quo vadis aus dem Jahre 1951, in der Peter Ustinov unter Aufbietung all seiner Schauspielkunst einen so hinreißend dekadenten Nero verkörperte, dass viele der Meinung waren, den echten, wenn nicht gar einen besseren Nero als das Original gesehen zu haben. Wer konnte auch die Szene vergessen, wie Ustinov-Nero auf der Terrasse seiner Villa, umgeben von Getreuen und flackerndem Lichtschein, angesichts der brennenden Hauptstadt Rom ein selbst komponiertes Lied über den Brand von Troja vortrug? Oder wie er in der Arena den Daumen senkte, was seitdem – übrigens nicht korrekt – als typisch römisch-kaiserliche Geste für die Lizenz zum Töten gilt? (In |8|Wirklichkeit war es umgekehrt. Daumen herunter bedeutete: Der Kaiser lässt Gnade walten).

Eine wesentliche Rolle bei der Produktion des grausamen Nero spielte aber auch eine Fülle von Büchern, seien es wissenschaftliche Darstellungen, historische Romane oder populäre Sachtitel. Sie bedienten in mehr oder weniger spektakulärer Weise jene Vorstellungen, die mit Nero anscheinend untrennbar verbunden waren. Jedoch hat sich die internationale Forschung in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit Erfolg darum bemüht, ein differenzierteres Bild vom Leben und der Herrschaft dieses Kaisers zu zeichnen. Die Bandbreite der dabei vorgenommenen Analysen und Interpretationen lässt allerdings gelegentlich daran zweifeln, ob dabei immer vom selben Nero die Rede ist. Zwar scheint es unmöglich zu sein, die negativen Seiten in der Person des letzten Herrschers aus der von Augustus gegründeten iulisch-claudischen Dynastie komplett zu ignorieren oder schönzuschreiben. Einen Friedens- oder Humanitätspreis wird man Nero posthum kaum verleihen können, und dafür hat sich auch keiner seiner modernen Biografen eingesetzt. Doch fehlt es nicht an Versuchen, Nero von dem Odium des bloß tyrannischen Kaisers zu befreien und seinen scheinbar nur abstrusen Handlungen einen zumindest partiell politisch-pragmatischen Anstrich zu verleihen. Stützen kann man sich dabei auf einen bekannten Ausspruch des späteren Kaisers Traian, der zwischen 98 und 117 n.Chr. das Reich regierte und der eigentlich keinen Grund hatte, sich für ein positives Andenken an Nero einzusetzen. Dennoch sagte er wiederholt, fünf Jahre der Herrschaft Neros – im Allgemeinen werden darunter seine ersten Regierungsjahre von 54 bis 59 n.Chr. verstanden – seien besser gewesen als die aller anderen Kaiser.1

Beliebt ist in der modernen, zumal deutschsprachigen Nero-Forschung die Tendenz, Nero gewissermaßen von der Couch des Psychotherapeuten abzuholen, ihn als eine labile, suchende, irrlichternde, durch Autoritäten wie die dominante Mutter und einflussreiche Berater gelenkte Natur auf der Suche nach einer eigenen Identität zu analysieren. Man darf skeptisch sein, ob solche Versuche in der Weise von Erfolg gekrönt sein können, dass sie geeignet sind, das Phänomen Nero erklären zu helfen. Medizinische und psychologische Ferndiagnosen sind, wenn man mit ihnen den Blick auf die Geschichte lenkt, stark problembehaftet, zumal gerade die antiken Quellen eine eigene Terminologie und Vorstellungswelt hatten, wenn sie politischen Führungspersönlichkeiten „Wahnsinn“ oder |9|„Verrücktheit“ attestierten. Bezeichnenderweise ist der Begriff „Caesarenwahn“, mit dem man Attitüden gekrönter Häupter und anderer Mächtiger wie Verschwendungssucht, Brutalität und Realitätsverlust gerne zu geißeln pflegt, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Geprägt von dem Schriftsteller Gustav Freytag, wurde er durch den Publizisten und späteren Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde salonfähig gemacht. Dieser veröffentlichte 1894 ein Buch über Neros Vorvorgänger Caligula, dem er den Titel Caligula und den Untertitel Eine Studie über römischen Caesarenwahn gab. Dabei handelte es sich um eine kaum verklausulierte Abrechnung mit dem theatralischen Gehabe des damaligen deutschen Kaisers Wilhelm II. Der Deckname Caligula diente dabei als Quiddes Lebensversicherung, denn eine offene Kritik an Wilhelm wäre undenkbar gewesen und hätte für den Autor unangenehme Konsequenzen gehabt.

An Neros Psyche heranzukommen, ist angesichts der zeitlichen Distanz und der Ausrichtung der zur Verfügung stehenden literarischen Quellen eher schwierig. Natürlich gibt es unbestreitbare, durch die schriftlichen Quellen abgesicherte, durch Inschriften, Münzen und Archäologie bestätigte oder ergänzte Fakten. Was jedoch einer Annäherung an die Person Nero massiv im Wege steht, ist die Tatsache, dass der Kaiser die antiken Berichterstatter, sogar, wenn sie vorgaben, objektiv schreiben zu wollen, in einer sonst nicht bekannten Weise zu meist negativen Wertungen veranlasste. Ziel einer modernen Nero-Biografie kann es daher nicht nur sein, Nero so darzustellen, „wie er wirklich gewesen ist“. Natürlich verfügt die moderne Geschichtswissenschaft über ein ausgefeiltes, sich ständig erweiterndes Repertoire an kritisch-analytischer Methodik. Und selbstverständlich ist in der Forschung ein hohes Maß an intellektuellen Energien aufgewendet worden, um dem Phänomen Nero auf die Spur zu kommen.2 Doch beweist eben schon die große Zahl an unterschiedlichen Deutungen, Sichtweisen und Interpretationen, dass nicht alle richtig sein können. Zwischen einem wahnsinnigen Monster und einem unterschätzten Staatsmann ist Nero in der modernen Forschung so ziemlich alles gewesen. Man weiß heute, jedenfalls in einzelnen Bereichen, vielleicht mehr darüber, wie man in der Antike Nero gesehen und beschrieben hat, als darüber, wie Nero „wirklich“ gewesen ist.

Eine moderne Biografie über Kaiser Nero muss sich also ihrer Grenzen bewusst sein – jedoch auch ihrer Möglichkeiten. Das Faktum, zu welchen Ansichten Zeitgenossen und spätere Generationen eine zweifellos unkonventionelle |10|Gestalt wie Nero herausforderte, liefert wertvolle Erkenntnisse über die besondere Form der Erfassung einer politisch prägenden Persönlichkeit und bei Nero geradezu paradigmatisch über Grundlagen und Voraussetzungen des historischen Urteils. Andere Kaiser haben jedenfalls in der antiken Publizistik viel weniger Aufmerksamkeit gefunden, und sie haben auch nicht in vergleichbarer Weise polarisiert. Also muss Nero etwas an sich gehabt haben, was die Menschen – negativ, aber auch, wie sich zeigen wird, positiv – ansprach. Wenn man die jeweiligen Parameter kennt, die antike Informanten anlegten, wenn sie über Nero sprachen, besteht wiederum auch die Chance, etwas über den Herrscher an sich zu erfahren. Und wenn man weiß, was die einzelnen Autoren von einem Kaiser grundsätzlich erwarteten, lassen sich aus ihren Aussagen und Wertungen Rückschlüsse auf das tatsächliche Verhalten Neros ziehen.

Und ein zweiter Ansatz kann einen Ausweg aus dem möglichen Dilemma weisen, zu keinem klaren biografischen Profil des Kaisers Nero zu gelangen. Denn selbst ein Nero, vielfach stilisiert zu einer Figur jenseits von Raum und Zeit, agierte nicht in einem Vakuum, und mochte er in mancher Hinsicht auch exzentrisch sein, in dem Sinne, dass sein Verhalten nicht mit dem früherer Kaiser konform ging, so agierte er doch ganz notwendigerweise in dem politisch-sozialen Rahmen seiner Zeit. Daher gilt es, den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Koordinaten des Römischen Reiches der frühen Kaiserzeit die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Nero regierte über ein riesiges Imperium, das sich von Syrien bis nach Spanien, von Nordafrika bis nach Britannien erstreckte. Daraus ergaben sich Anforderungen, denen sich jeder Kaiser und somit auch Nero zu stellen hatte. Seine Rolle als Administrator wird in den literarischen Quellen gerne unterschlagen beziehungsweise nur am Rande erwähnt (und das auch eher unabsichtlich), weil sie nicht zu dem Bild passte, das die Informanten gerne von Nero zeichnen wollten. Weiterhin hatte es Nero, wie alle seine Vorgänger und alle seine Nachfolger, mit den relevanten gesellschaftlichen Gruppen in Italien und vor allem in der Hauptstadt Rom zu tun. Aus Senatoren, Rittern, Soldaten und der Plebs urbana genannten Masse der städtischen Mittel- und Unterschichten rekrutierte sich ein enges Beziehungsgeflecht, in dem der Kaiser die zentrale Figur war – oder es jedenfalls sein sollte.

Diese Biografie des Kaisers Nero will, wie jede Biografie, ein Leben nachzeichnen. Sie soll aber auch zeigen, wie die antiken Biografen und |11|Historiker arbeiteten, wenn sie einen Kaiser zu porträtieren hatten, der als ganz junger Mann von seiner ambitionierten Mutter auf den Thron gehievt und der im Alter von 30 Jahren, vom Senat zum Staatsfeind erklärt, zum Selbstmord gezwungen wurde und der danach der Sanktion des offiziellen Vergessens anheimfiel. Die formale „Tilgung der Erinnerung“ (damnatio memoriae) als Höchststrafe für einen Römer, insbesondere für einen aristokratischen Römer und erst recht für einen Kaiser, blieb ihm zwar erspart, nicht aber die Erklärung zum „Staatsfeind“. Das war schlimm genug. Eine wichtige Maxime für jeden Römer von Stand lautete: So zu leben, dass man nach dem Tod nicht wirklich stirbt, denn wichtiger als die physische Absenz ist die Gewissheit, im kollektiven Gedächtnis der Menschen weiter präsent zu sein. Der Versuch des römischen Senats, nach dem Tod Neros am 9. Juni des Jahres 68 n.Chr. die Erinnerung an einen Herrscher der besonderen Art zu verdrängen, erwies sich als Fehlschlag. Nicht nur, dass sich viele Menschen schon bald nach dem unfreiwilligen Ableben Neros nach ihm zurücksehnten. Es gibt, wie die Nero-Rezeption bis heute zeigt, kaum einen römischen Kaiser, der sich über einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad freuen darf.

Von Arnaldo Momigliano, dem bedeutenden italienischen Althistoriker und ausgewiesenen Kenner der antiken Literatur, stammt eine in ihrer Schlichtheit kaum zu übertreffende Definition dessen, was eigentlich eine Biografie ist. Eine Biografie, so sagte Momigliano, ist die „Darstellung des Lebens eines Menschen von der Geburt bis zum Tod“3. Wenn man sich an diese Anweisung hält, kann man nicht viel falsch machen. Und sie heißt auch nicht, und das wollte Momigliano damit auch nicht verlangen, dass man in einer modernen Biografie eine streng chronologische Vorgehensweise wählen muss. Nero wurde geboren, Nero wurde Kaiser, Nero war Kaiser, Nero starb – damit wird man sich so sicher nicht zufriedengeben wollen. Heutige Biografien sollten, anders als das bei den in der Antike entstandenen Lebensbeschreibungen der Fall war, zeigen, in welchem politisch-gesellschaftlich-kulturellen Umfeld die im Mittelpunkt stehende Persönlichkeit agierte, wie sie von diesem beeinflusst und geprägte wurde. Und auf der anderen Seite sollte umgekehrt deutlich werden, wie die betreffende Persönlichkeit ihre Zeit geprägt, ihr ihren Stempel aufgedrückt hat.

In der Form der Darstellung wird in den folgenden Ausführungen nicht durchgängig das meist favorisierte rein chronologische Schema verwendet. |12|Vielmehr wird der Tatsache, dass die antiken Quellen tendenziell mehr ihr – unterschiedlich motiviertes – eigenes Nero-Bild präsentieren, als den Versuch unternehmen, den „echten“ Nero zu porträtieren, Rechnung getragen. Es wird eine Differenzierung zwischen sicheren Fakten, vermittelt auch aus nichtliterarischen Quellen wie Inschriften, Münzen und archäologischen Zeugnissen und Wertungen vorgenommen. Ein eigenes Kapitel fasst kompakt zusammen, was sich über die Stationen der Herrschaft Neros authentisch festhalten lässt. In einzelnen Sachrubriken folgt eine systematische Analyse einzelner Themen, die mit Neros Tätigkeit als Kaiser prominent verbunden werden, mit dem Versuch, aus der vielschichtigen Überlieferung das herauszufiltern, was man als historische Realität ansehen kann. Dann wird sich auch ein Schema im Handeln Neros erkennen lassen, das als eine Art Schlüssel zum Verständnis dieses Kaisers gelten kann und das geeignet ist, die scheinbar so unvereinbaren Facetten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Im Prinzip hat es, was die hier verfolgte Vorgehensweise angeht, der berühmte römische Kaiserbiograf Sueton, dem eine wichtige Lebensbeschreibung Neros zu verdanken ist, nicht viel anders gemacht. Jedoch gibt es einige Unterschiede, neben der Tatsache, dass sich inzwischen eine hochkomplexe Forschung des Themas Nero angenommen hat: Zum einen gilt es bei einer Vorgehensweise, in der prägende sachliche Segmente von Neros Leben unter die Lupe genommen werden, den Zusammenhang mit dem Ganzen im Auge zu behalten. Und zum anderen besteht die Möglichkeit und Notwendigkeit, diese Überlieferung, von der Sueton ein relevanter Teil ist, in ihrer Bedeutung für die Verbreitung einer bis heute wirkenden Vorstellung von Kaiser Nero zu würdigen.

Nero

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