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Die Verschiebung der Steuerlast auf die Arbeit
in der neoliberalistischen Phase
ОглавлениеSinkende Einkommen, aber steigende Steueranteile am Sozialprodukt der Lohnabhängigen einerseits, steigende Einkommen und sinkende Steuerquoten für Einkommen und Unternehmen andererseits sind für das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts typisch.
Seit 1975 hat sich der Anteil der Einkommens- und Körperschaftssteuer am Sozialprodukt etwa halbiert – wobei das Jahr 2001 mit seiner negativen Körperschaftssteuer noch nicht einmal berücksichtigt ist. Andererseits hat sich der Anteil der Lohnsteuer am Sozialprodukt vervierfacht. Der Wendepunkt findet sich um 1970. Steigende Steuerquoten der Lohnabhängigen und sinkende Steuerquoten für Einkommen und Unternehmen sind so mit dem immer weiter abnehmenden Wachstum des letzten Viertels des vorigen Jahrhunderts korreliert. Die These vom steigenden Wachstum durch Senken der Unternehmens- und Einkommensteuer kann auf diese Daten wirklich nicht gestützt werden.62
Bis etwa 1970 betrugen die Steuern auf Unternehmen etwa vier Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) oder mehr. Heute liegen sie bei etwa zwei Prozent. Lägen sie immer noch bei vier Prozent des Bruttosozialprodukts, wären die Steuereinnahmen aus diesen Quellen im Jahre 2000 um 80 Mrd. DM höher gewesen.63 Eine Krise der öffentlichen Hand wäre noch nicht eingetreten.
Die Bundesrepublik steht mit dieser Fehlentwicklung nicht allein.
»Die EU-Kommission führt den Steuerwettbewerb als wesentlichen Grund dafür an, dass die Arbeitnehmer in der EU im Jahre 1995 im Schnitt um 20% stärker belastet waren als im Jahre 1981, die Selbstständigen und Unternehmen dagegen um 22% geringer. Zum einen können sich Unternehmen dem heimischen Finanzamt über die Grenze hinweg entziehen. Zum anderen haben so gut wie alle EU-Länder die Steuern auf Unternehmensgewinne gesenkt, um die Betriebe im Land zu halten. Als Ausgleich trieben die Finanzminister die Lohnsteuern hinauf.«64
Ob man es glaubt oder nicht: Zur Steuerflucht brauchen die großen Unternehmen noch nicht einmal ein Ticket ins Ausland. Es genügt eine Fahrt nach Norderfriedrichskoog bei Husum.
»Seit Jahrzehnten erhebt das Dorf keine Steuern. Keine Grundsteuer, keine Hundesteuer und keine Gewerbesteuer. Laut Handelsregister haben sich deswegen inzwischen 514 steuerflüchtige Firmen aus dem ganzen Land im Koog angesiedelt, darunter namhafte und weltweit agierende Konzerne…
Natürlich steht im Telefonbuch nicht ›Eon‹ oder ›Deutsche Bank‹, sondern ›VR Telecommunications GmbH&Co KG‹, ›DB Enterprise‹ oder ›DB Value‹ … Wenn Dividende ausgeschüttet oder Anteile verkauft werden, bleibt das alles wunderbar steuerfrei.«
Selbstredend findet das Beispiel der Gemeinde Nachfolger. »Im Wettlauf um Firmen und Investitionen senken immer mehr Gemeinden die Gewerbesteuer auf null – und tricksen ganz legal den Fiskus aus.«65
Niemand weiß genau, wie viele Millionen oder Milliarden Gewerbesteuern inzwischen in Norderfriedrichskoog und anderen Gemeinden »gespart« werden… »Aber als zum Beispiel Unilever nur seinen Bereich Bestfoods (Knorr, Pfanni, Mondamin, Maizena) in Monda umtaufte und in die ausgebaute Scheune von Dieckstraat 13 steckte, fehlte der Heilbronner Stadtkasse plötzlich ein zweistelliger Millionenbetrag.«66
Nun muss Heilbronn an allen Ecken sparen. Wo? Überall, vor allem aber an den Beschäftigten. Die Beamten diskutieren zur Zeit (2003) gerade einen Verzicht auf 30% des Weihnachtsgeldes. Auch andere Sparprogramme liegen für sie und die städtischen Angestellten in der Luft.67 Denn eines ist allen klar: »In dieser schwierigen Lage müssen wir alle unser Schärflein beitragen!«
Alle?
Die Umverteilung der Steuerlasten zuungunsten der Arbeit und zugunsten des Kapitals fällt zeitlich zusammen mit einem drastischen Verlust des Anteils des Faktors Arbeit am Sozialprodukt zugunsten des Faktors Kapital. Weniger Arbeitsertrag muss so mehr Steuern aufbringen. Das traurige Resultat von 30 Jahren derartiger Umverteilung von Lasten und Chancen zeigte die gelbe bzw. Sternchenkurve in Grafik C (S. 32): Die durchschnittlichen Nettoeinkommen der (noch) nicht arbeitslosen abhängig Beschäftigten haben sich seit 1950 nur verdreifacht. Das Sozialprodukt stieg auf das Siebenfache und die Summe der Einkommen aus Unternehmen und Vermögen auf das 11,5fache, also fast viermal so stark wie die Einkommen der abhängig Beschäftigten.
Und noch etwas zeigt sich an dieser gelben bzw. Sternchenkurve der Grafik C: Seit Mitte der 70er Jahre steigen die durchschnittlichen Nettorealeinkommen der abhängig Beschäftigten nicht mehr. Aber das Sozialprodukt, die Summe aller erzeugten Güter und Dienstleistungen, verdoppelte sich. 34,5 Millionen abhängig Beschäftigten stehen aber nur rund vier Millionen Selbstständige und mithelfende Familienangehörige gegenüber. Deren (gestiegene) Einkommen reichen nicht hin, die verdoppelte Produktion auch abzunehmen, zu kaufen. Aber wenn die Nachfrage dem Angebot nicht mehr folgt, entsteht Rezession. Zu den strukturell Arbeitslosen gesellen sich so die konjunkturell Arbeitslosen.
Steuersenkungen für Unternehmen und obere Einkommen (Senkung des Spitzensteuersatzes) und die daraus zwangsweise folgende Suppenkaspar-Sparsamkeit der »öffentlichen Hände« können in einer solchen Situation nur noch mit Dantes »Lasst, die ihr einkehrt, alle Hoffnung fahren!« kommentiert werden.
Steuererhöhungen für die Wirtschaft und die Besserverdienenden dagegen würden der bisherigen schiefen Verteilung entgegenwirken. Dabei ist dann nicht einzusehen, warum der »Spitzensteuersatz« wie bisher bei 53% liegt, noch, warum er schon ab ca. 50 000 € gelten soll. Und erst recht nicht, warum man ihn bis 2005 noch auf 43% senken will. Der Spitzensteuersatz inklusive aller lokalen und regionalen Abgaben liegt in den Vereinigten Staaten inzwischen bei immerhin gut 46%.68
Ein von 10 000 € an von einem auf z.B. zehn Prozent abgesenkten Eingangssatz linear ansteigender Steuersatz, der bei 50 000 € vielleicht 30% erreicht und der bis zu einem zu bestimmenden Grenzwert weiter steigt, würde einer großen Zahl von bisher benachteiligten Menschen mehr von dem, was sie in der Wirtschaft verdient haben, lassen. Und würde so verfügbares Einkommen gerade da sichern, wo die größte Chance besteht, dass es in Konsum und damit Nachfrage umgesetzt wird: im unteren und mittleren Bereich der Einkommen. Gerade hier ist höheres Einkommen auch für die breite Vermögensbildung, die angesichts des Absinkens des Faktors Arbeit immer wichtiger wird, dringend nötig. Und gerade in diesem Bereich ist das Argument, man solle nicht die »Leistungswilligen« bestrafen, nicht ganz falsch. Dieses Argument verliert jedoch immer mehr an Gewicht, je höher die Einkommen im Millionenbereich liegen.
Wie hoch kann und soll aber dieser Spitzensteuersatz liegen? Hohe Spitzensteuersätze sind zum Tabu geworden. Das ist eine Ideologie, die das Umsteuern der Wirtschaft erschwert.
Robert Reich, der erste Arbeitsminister der Administration Clinton, meint, dass Solidarität einst auch die Voraussetzung für das Überleben der USA im Pionierzeitalter war. »Es war eine Solidarität aus wohlverstandenem Eigeninteresse, wie Alexis de Tocqueville beobachtete.«69 In dieser so verstandenen Solidarität konnte der Steuersatz 1935 auf 79% gesteigert und mit einer Steuer auf Erbschaften verbunden werden. Woodrow Wilson steigerte den Spitzensteuersatz auf 83%.
»Als F. D. Roosevelt sagte, niemand solle mehr verdienen können als 25 000 $, was heute 200 000 $ im Jahr entspricht, hat ihn niemand bezichtigt, verrückt geworden zu sein oder seine politische Zukunft aufs Spiel zu setzen.«70
Dass hohe Spitzensteuersätze der Wirtschaft schaden, das Wachstum hemmen, die Arbeitslosigkeit vergrößern, ist eine Aussage, die je nach den konkreten Bedingungen stimmt oder nicht stimmt. Sie hat im Amerika der 30er, 40er und 50er Jahre nicht gestimmt. Sie stimmt heute, weil die weltweite Öffnung aller Grenzen dem Kapital Fluchtmöglichkeiten bietet und die Öffnung der Märkte erlaubt, sich der Solidarität mit den anderen Bürgern des Staates zu entziehen. Auf Solidarität, die nicht auf Eigeninteresse gegründet ist, ist eben kein Verlass.
Doch ohne höhere Spitzensteuersätze ist eine Umkehr der Verteilung von oben nach unten nicht möglich. Und ohne diese Umkehr wird die Gesellschaft so desolidarisiert, dass sie zerbrechen muss. Denn die Verlagerung des erarbeiteten Mehrwerts von der Arbeit zum Kapital ist unaufhaltsam. Selbst in einem geschlossenen Wirtschaftsraum könnte Politik sie allenfalls verlangsamen. Da die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktionskapital nur langsam voranschreitet und in absehbarer Zeit immer nur relativ kleine Teile der Bevölkerung erfasst, ist Umverteilung von oben nach unten und vom Kapital zur Arbeit für den Erhalt der Gesellschaft unverzichtbar geworden.
Aber nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen muss die Umverteilung von unten nach oben umgekehrt werden. Genau so gewichtig, wenn nicht noch wichtiger sind wirtschaftliche Zwänge: Denn ohne die verschiedenen Formen der Umverteilung des erarbeiteten Mehrwerts zur Arbeit und insbesondere »nach unten« fehlt wegen des weltweiten Drucks auf die Löhne schließlich weltweit die kaufkräftige Nachfrage, die zur Abnahme der wachsenden Produktion notwendig ist. So entpuppt sich das neoliberale System letztendlich als wirtschaftsfeindlich.
Schon heute nähert sich die Krise in den Industrienationen bereits dem Mittelstand. »Angst vor dem Absturz – Das Dilemma der Mittelklasse« nannte Barbara Ehrenreich71 ihr 1992 auf Deutsch erschienenes Buch, in dem sie die grassierende Furcht des amerikanischen Mittelstands vor diesem Desaster beschrieb. Eine Furcht, die durch die großen Vermögensverluste beim jüngsten Aktiencrash nur noch verstärkt wurde. Auch in der Bundesrepublik ist die Krise mittlerweile längst beim Mittelstand angekommen. Immer mehr kleine Unternehmer fallen durch den scharfen Konkurrenzkampf aus der »Gewinnerstraße«, die die rote Kurve der Grafik C auf dem Lesezeichen bzw. die graue Kurve der Grafik C auf S. 32 zeichnet, heraus. Im besten Fall konnten sie etwas Vermögen retten, von dem sie jetzt leben. Im schlechtesten Falle sind sie mittel- und arbeitslos. Das betrifft kleine Einzelhändler ebenso wie Handwerksbetriebe oder selbstständige Ärzte, aber auch immer mehr mittlere Betriebe müssen aufgegeben.
Sogar die oberen Spitzen hat die Wirtschaftskrise schon erreicht. »Selbst die Reichsten werden ärmer«, meldet die Welt:
»… ihr Geld zerrinnt mit jedem Zittern der Börse, mit der Talfahrt der Konjunktur, mit der schlechten Laune der Verbraucher. Millionen schmelzen dahin, und die Zahl der Milliardäre nimmt von Jahr zu Jahr ab … «72
Nicht die schlechte Laune der Verbraucher, sondern ihre sinkenden Einkommen sind in der Bundesrepublik die Ursache für die schlechte Konjunktur. Und so zeigt sich: Es ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, für hinreichende Einkommen der großen Masse der Bevölkerung zu sorgen. Hinreichende Masseneinkommen sind auch die Voraussetzung dafür, dass die großen und kleinen Unternehmen ausreichende Gewinne machen können. Ohne diese Gewinne gedeihen die großen Vermögen auch nicht. Denn große Vermögen entstehen durch Verkauf von Massen an Gütern oder Dienstleistungen. Und nur Massen von kaufkräftigen Kunden kaufen Massen von Gütern und Dienstleistungen. Ohne millionenfache, ja milliardenfache hinreichend kaufkräftige Nachfrage wäre Bill Gates heute nicht der reichste Mann der Welt, und die Brüder Albrecht (Aldi) gehörten nicht zu den reichsten Deutschen.
Doch die Hoffnung, das Wirtschaftssystem werde sich deshalb von alleine in Richtung auf eine Begünstigung der unteren und mittleren Schichten einregulieren, dürfte trügen. Denn die einzelnen im System handelnden Akteure sind als Marktteilnehmer an die strengen Kriterien des Wirtschaftssystems gebunden, zu denen Effizienz und Kostenminimierung zählen – ebenso wie das Prinzip, Steuern zu vermeiden und Verluste der Allgemeinheit aufzuerlegen. Wer würde denn im »Ernstfall« als Manager freiwillig Millionen Euro an das Finanzamt abführen, statt seinen Firmensitz »legal« in eine Steueroase zu verlegen und die gesparten Millionen in seine im harten Existenzkampf steckende Firma zu investieren? Ist der von den Anteilseignern bestellte Manager nicht geradezu verpflichtet, so zu handeln – auch gegenüber den Arbeitnehmern seines Unternehmens? Denn die Konkurrenz tut das ja auch!
Aber so zwingend das System im für Kapital und Waren offenen Weltmarkt auch ist: Wenn schließlich alle so handeln, verhungert zuerst der Staat – und mit ihm die öffentliche Ordnung. Doch ohne öffentliche Ordnung auch keine Wirtschaft, jedenfalls keine liberale.