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Lineares Wachstum bedeutet abnehmende
jährliche Wachstumsraten

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Lineares Wachstum bedeutet, dass jedes Jahr (etwa) die gleiche Summe zum Sozialprodukt hinzukommt. Gemessen am seit mehr als fünfzig Jahren kontinuierlich jedes Jahr wachsenden Sozialprodukt wird diese Zusatz-Summe aber prozentual immer kleiner. So wuchs das jährliche Sozialprodukt der Bundesrepublik in jedem Jahrzehnt seit 1950 um ungefähr denselben Betrag: ca. 500 Mrd. DM.16 Aber 1960 waren das rund 500 (540) Mrd. DM, die in zehn Jahren zu dem Sozialprodukt von 1950 von 456 Mrd. DM hinzugekommen waren, – und das sind etwa 120% mehr in zehn Jahren oder ein durchschnittliches Wachstum von zwölf Prozent im Jahr. Von 1990 bis 2000 kamen ebenfalls rund 500 (472) Mrd. DM hinzu, doch die addierten sich jetzt zu einem BIP in Höhe von 2520 Mrd. DM. Und von 2520 Mrd. DM sind 472 Mrd. DM nur noch rund 19%. 19% in zehn Jahren sind 1,9% pro Jahr.

Für die ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends wird das Wachstum der Wirtschaft der BRD nach demselben Gesetz des linearen Wachstums nur noch 1,6% per Jahr betragen. Dieser Durchschnitt des Jahreswachstums über die kommenden Jahre liegt nach allen bisherigen Erfahrungen fest. Die Wachstumsraten der einzelnen Jahre dagegen nicht. Sie können über einige Jahre durchaus deutlich über oder unter diesen Durchschnittswerten liegen. Über lange Zeiträume führt lineares Wachstum aber unvermeidlich immer näher an Nullwachstum heran.

Nicht nur das Wachstum in der Bundesrepublik, sondern das Wachstum praktisch aller »frühindustrialisierten« Nationen folgt diesem Gesetz des linearen Wachstums. Eine Reihe von Beispielen ist im Anhang wiedergegeben.17 Mehr als lineares Wachstum hat sich nur in einzelnen wenigen Ausnahmefällen gezeigt. Weder irgend ein größerer europäischer Staat noch die Gesamtheit der europäischen Staaten machen hier eine Ausnahme. Und auch die USA, die beim Wachstum des Sozialprodukts im Ganzen noch eine Ausnahme bilden, zeigen beim Sozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung nur lineares Wachstum.18

Die üblichen Diskussionen um »Wachstumsschwäche«, »Aufbrechen verkrusteter Strukturen für einen Wachstumsschub« und ähnliche Argumente liegen nach dieser jetzt fünfzig Jahre alten Erfahrung neben der Sache. Diesen Wachstumsschub wird es nicht geben. Unsere Volkswirtschaft befindet sich genau auf dem Wachstumspfad, den sie seit dem Jahre 1950 unbeirrbar eingeschlagen hat. Warum soll ausgerechnet jetzt, bei deutlich erschwerten Weltwirtschaftsbedingungen, dieser bisherige lineare Wachstumspfad plötzlich nach oben verlassen werden können?

Eine andere Frage ist dagegen, ob sich nicht besondere, die Konjunktur zusätzlich abschwächende Umstände eingestellt haben, die unsere Wirtschaft von diesem linearen Pfad nach unten abweichen lassen. Und da gibt es allerdings eine Reihe von Verdachtsmomenten.

Wenn heute seit Jahren steigende Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und stagnierende bzw. sinkende Einkommen der Massen in der Bundesrepublik als Krise empfunden werden, dann kann die Schuld an dieser langfristigen Entwicklung also nicht »zu geringem Wachstum« zugeschoben werden. Sicher, Wachstum längs einer Geraden, lineares Wachstum, ist Wachstum mit abnehmenden jährlichen Wachstumsraten. Aber ein solches Wachstum reichte, um aus der armen Bundesrepublik von 1950 den »Wohlstand für alle« des Anfangs und der Mitte der 70er Jahre zu machen. Der Weg aus dem Nachkriegsdeutschland mit seinen weitgehend zerstörten Städten, zerstörten Straßen und Eisenbahnen, seinen zerstörten oder demontierten Fabriken in ein funktionierendes Industriesystem erforderte eine Unzahl von Investitionen, ehe sich bei den Verbrauchern Wohlstand einstellen konnte. Einem funktionierenden Industriesystem müsste lineares Wachstum daher erst recht reichen. Es müsste mit sehr viel weniger Wachstum wachsenden Wohlstand schaffen können. Es sei denn, das Wirtschaftssystem lenkt die Erträge in Sackgassen.

Wirtschaft, die arm macht

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