Читать книгу Wirtschaft, die arm macht - Horst Afheldt - Страница 4
Einleitung
ОглавлениеAm Anfang steht ein Paradox: Seit 1970 hat sich die Summe aller in der Bundesrepublik produzierten Waren und Dienstleistungen, das Sozialprodukt also, mehr als verdoppelt. Warum wuchsen dann aber die Staatsschulden, leerten sich die Kassen der Kommunen, führte die öffentliche Armut zur Schließung von Schulen, Schwimmbädern, Bibliotheken und Polizeirevieren?
1970 gab es knapp 1,5 Millionen Sozialhilfeempfänger1, im Jahre 2002 waren es rund 4,5 Millionen.2 Warum nimmt die private Armut trotz einer Verdopplung des Sozialprodukts zu? Was ist das für eine Wirtschaft, in der mit einer Verdopplung des Wirtschaftsertrags Armut in die Gesellschaft einzieht? Und, wenn überall Mittel fehlen: Wo sind denn die Werte geblieben, die die Wirtschaft erzeugt hat und die das Sozialprodukt ausweist?
Dass es so nicht weitergehen kann, darüber herrscht mittlerweile fast Einigkeit. Was und wie reformiert werden soll, liegt für die überwiegende Mehrheit der Ökonomen in Universitäten, Sachverständigenräten und in der Presse ebenfalls fest: »In Sachen Wirtschaftsreform gibt es unter Ökonomen eine klare Mehrheitsmeinung: Das Land braucht niedrigere Steuern, Abgaben und Schulden, weniger Regulierung auf dem Arbeitsmarkt, Lohnzurückhaltung und einen schlankeren Sozialstaat.«3 Und dazu natürlich weltweiten Abbau aller Handelshemmnisse.
Die Senkung von Löhnen und Lohnnebenkosten soll die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen verbessern. Das Senken der Steuern auf Unternehmen und obere Einkommen soll Kapital anziehen und Investitionen anreizen, um durch Wirtschaftswachstum die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Durch l-Euro-Löhne soll ein Niedriglohnsektor gebildet werden, der durch »fördern und fordern« Arbeitslose zu – bisher für die amerikanische Wirtschaft typischen – »working poor« befördert.
Die Politik folgte diesem »Mainstream des Denkens« mit der sogenannten Agenda 2010. Der SPD-Vorsitzende Müntefering beschreibt sie so: »Die Agenda 2010 ist … eine sozialdemokratische Perspektive für die Zukunft des Landes. Das große Ziel heißt soziale Gerechtigkeit bei hohem Wohlstand – dauerhaft.«
Aber haben die verabreichten neoliberalen Arzneien wirklich etwas mit einer langfristigen Zukunftssicherung unserer Gesellschaft zu tun? Kann ein dauerhaftes Wachstum, das die Arbeitslosigkeit beseitigt, erreicht werden, wenn selbst bei Verdoppelung des Sozialprodukts in den letzten 30 Jahren die Arbeitslosigkeit nicht beseitigt wurde, sondern erst entstanden ist? Denn aus nur wenigen Arbeitslosen 1970 wurden in Gesamtdeutschland bis 2004 mindestens viereinhalb Millionen4.
Können Lohnverzichte von 10, 20 oder 30% oder längere Arbeitszeiten wirklich die internationale Konkurrenzfähigkeit längerfristig sichern? Einmaliger Lohnverzicht genügt dazu nicht, denn der weltweite Druck auf die Arbeitseinkommen nimmt ständig weiter zu. Wird es so aber später noch Löhne geben, die einerseits auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind und von denen andererseits Menschen auch in Europa noch leben können? Längere Arbeitszeiten wiederum mögen einzelnen Unternehmen nützen – aber nützen sie auch der gesamten Volkswirtschaft, wenn schon mehr als vier Millionen Menschen überhaupt keine Arbeit haben?
Vor allem aber: Ist die schrankenlose Öffnung zum Weltmarkt, die der Neoliberalismus lehrt, für die europäischen Industriestaaten überhaupt ein Weg zu Wohlstand? Bringt offener Handel wirklich stets allen Partnern erhöhten Wohlstand – oder ist diese Behauptung gerade für die alten Industriestaaten in der Welt von heute »grundfalsch« und eine »populär-polemische Unwahrheit« (popular polemical untruth), wie der Nobelpreisträger Paul A. Samuelson heute sagt?5
Soll man weiter dem neoliberalen Glauben trauen, der Markt werde alleine die Weltwirtschaft optimal zum allgemeinen Wohl leiten, wenn man ihn nur von allen Regelungen und Fesseln befreit? Wirtschaftsexperten wie der Nobelpreisträger und frühere Chefvolkswirt und Vizepräsident der Weltbank, Joseph Stiglitz, haben inzwischen die beschränkten Fähigkeiten des freien Marktes und die oft verheerenden Folgen der Liberalisierungspolitik auf die Weltwirtschaft und insbesondere die Entwicklungsländer mit statistischem Material nachgewiesen.
Aber wenn schon die Diagnose zweifelhaft ist – können dann die verordneten Therapien besser sein?
Fangen wir deshalb wieder von vorne an: Warum haben wir trotz eines Wachstums von 100% in 30 Jahren öffentliche und private Armut? Verbraucht vielleicht die Wirtschaft selbst zu viel des Wirtschaftsertrags, oder handelt es sich um ein Verteilungsproblem? Hat der Sozialstaat zu viel Ressourcen verschlungen? Haben Teile der Bevölkerung zu viel von dem Kuchen genommen? Oder ist der Massenwohlstand zusammengebrochen, weil große Bevölkerungsgruppen aus der Wirtschaft zu wenig Nutzen ziehen konnten?
Wie hängen öffentlicher und privater Wohlstand überhaupt mit Wirtschaftswachstum zusammen? Und wenn Wirtschaftswachstum nicht hinreicht, um den Wohlstand zu tragen, was müsste an seiner Stelle gefördert werden?
Auch die neoliberale Wirtschaft mit ihrer Freihandelsdoktrin ist eine Wirtschaftslehre, die mit dem Versprechen angetreten ist, Wohlstand für alle (gerade auch in den Entwicklungsländern) zu schaffen. An diesem Versprechen muss sie sich jetzt messen lassen.
Was bewirkte also die Öffnung des Weltmarkts seit Mitte der 70er Jahre tatsächlich? Führte sie zu einer neuen Steigerung des Welthandels? Beschleunigte sie, wie versprochen, die Zunahme der insgesamt in der Welt produzierten Güter und Dienstleistungen, des Weltsozialprodukts also? Und noch wichtiger: Nahm das Weltsozialprodukt pro Kopf in der »neoliberalistischen Phase« der Weltwirtschaft von 1973 bis zum Jahr 2000, wie immer wieder prophezeit, schneller zu oder verlangsamte sich dieses Wachstum gar?
Und wie wirkte sich diese neue Form der Weltwirtschaft auf den Wohlstand der Menschen in der Welt aus? Kommt neu entstehender Wohlstand auch bei den unteren Schichten an, oder verschärft ungeregelter Freihandel weltweit die Ungleichheiten und destabilisiert so die Weltgesellschaft?
Die wirtschaftliche Krise der Bundesrepublik und der meisten anderen EU-Staaten ist naturgemäß ein Schwerpunkt des Buches. Wie hat sich die Entwicklung der Weltwirtschaft auf die Bundesrepublik ausgewirkt?
Bis Anfang der 80er Jahre stiegen mit dem wachsenden Sozialprodukt etwa gleichermaßen die Einkommen aus Unternehmen und Vermögen und die Einkommen der abhängig Beschäftigten. Die Wirtschaft diente so beiden Gruppen. Die BRD war tatsächlich ein Sozialstaat im Sinne Erhards. Doch in der Phase des Neoliberalismus spaltete sich die Gesellschaft immer schneller. Die Nettoeinkommen aus Unternehmen und Vermögen stiegen steil an. Im Jahr 2004, in dem wir doch alle »den Gürtel enger schnallen« sollten, um die Rekordhöhe von 10,7%. Die abhängig Beschäftigten trugen die Lasten der Arbeitslosigkeit, erlitten die Folgen der Reduzierung der sozialen Sicherheit. Ihr privater Wohlstand nahm mit dem Rückgang der durchschnittlichen Nettorealeinkommen ab. Und sie sind auch am stärksten vom sinkenden öffentlichen Wohlstand betroffen. Doch die abhängig Beschäftigten sind mit fast 90% der Erwerbstätigen (fast) »das ganze Volk«. Der großen Masse der Bürger hat diese Wirtschaft daher nicht mehr gedient. Doch »Maßstab und Richter über Gut und Böse der Wirtschaftspolitik sind nicht Dogmen oder Gruppenstandpunkte, sondern ist ausschließlich der Mensch, der Verbraucher, das Volk. Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht«, hätten die Anhänger der sozialen Marktwirtschaft bereits bei Ludwig Erhard lernen können.
Die sozialistischen Gesellschaften, in denen die »volkseigenen« Produktionsstätten einen Teil der gesellschaftlichen Aufgaben mit übernommen hatten, scheiterten an ökonomischer Ineffizienz. Wir sind heute dabei, bei der Umsetzung unseres wirtschaftlichen Erfolges in den »Wohlstand der Nationen« zu scheitern.
Warum aber scheitern wir?
Mit dieser Frage landet man unabänderlich bei der Verdrängung des Faktors Arbeit durch die technische Entwicklung, die immer mehr Arbeit durch Maschinen ersetzt. Und man stößt ebenso unvermeidlich auf die Probleme eines offenen Weltmarkts, auf dem heute ein immer schnelleres Aufwachsen technisch konkurrenzfähiger Industrien in Niedriglohnländern zu einem Druck auf die Arbeitseinkommen in der Welt und so zu einem immer weiter sinkenden »Weltmarktpreis für Arbeit« führt. Man stößt auf die Schwächung des Staates zum Suppenkasparstaat, verursacht einmal durch den offenen Weltmarkt und die Steuerfluchtmöglichkeiten, die er für Unternehmen und Kapital eröffnet. Man stößt auf die Angebotstheorie und die unbegrenzte Anwendung des Konkurrenzprinzips, die den Staat vom Regelsetzer – in der Zeit der sozialen Marktwirtschaft – zum Mitspieler, Mitläufer in der Konkurrenz der Standorte degradieren.
Bleibt so letztlich nur die Wahl zwischen dem Verarmen eines großen Teils der Bevölkerung der Staaten Europas und dem Erzwingen einer anderen Form von Weltwirtschaft – zumindest für den europäischen Raum? Kann es überhaupt eine einheitliche Lösung für alle Regionen der Erde geben? Und welche Rolle muss der vielgeschmähte Staat spielen, damit Wirtschaft wieder den Interessen aller dient?
Die Umkehrung der den Wohlstand der Massen gefährdenden Trends der derzeitigen Form von Weltwirtschaft, ihre »Revolution«, erscheint so als Voraussetzung für die Neuschaffung der Sozialstaaten Europas, eine Ausbreitung des »rheinischen Kapitalismus«. Sozialstaatlichkeit wäre ein denkbares Markenzeichen für »Europa«, wäre eine Antwort auf die Frage: Warum wollen wir überhaupt »Europa«? Ohne eine identitätsstiftende Idee ist der Traum von Europa inhaltsleer, und deshalb wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt.
Bisher missriet jeder Versuch, diese grundlegenden Probleme in den Vordergrund der demokratischen öffentlichen Diskussion zu bringen, an der Abwehr der Anhänger des noch herrschenden Dogmas, weil nach ihrem Glauben der neoliberale Kanon bisher ja doch jedes Detail durch »Nicht-Regeln« zum Besten »geregelt« hat. Obwohl sich mittlerweile Gegenstimmen regen6, ist es bis heute nicht »politically correct« vorzuschlagen, über die Chancen von Schutzzöllen, Sozialklauseln oder ganz neue Rezepte nachzudenken, die der Verarmung eines großen Teils unserer Gesellschaften entgegenwirken könnten. Solange dieses Klima vorherrscht, können alle politisch durchsetzbaren Maßnahmen im besten Falle im bestehenden System Zeit für die notwendigen tiefgreifenden Veränderungen kaufen oder, falls sie ungeeignet sind – wie voraussichtlich Teile der Agenda 2010 –, das Dilemma noch verschärfen.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Niemand hatte das vorhergesehen. Von diesem Zeitpunkt an waren viele Vorschläge, die vorher sinnvoll waren, sinnlos und vorher sinnlos erscheinende Überlegungen sinnvoll. Sollte sich eines Tages die Erkenntnis durchsetzen, dass unsere Gesellschaft bei Fortführung der derzeitigen Wirtschaft nicht wie versprochen in einem modernisierten Sozialstaat ankommt, sondern die große Masse hoffnungslos verarmt, ändern sich ebenso alle Kriterien. Ob das der Fall sein wird und wenn ja, wann, weiß niemand. Es bleibt nur zu hoffen, dass dann noch Zeit ist, das Schlimmste zu verhüten. Denn sehr lange hält eine Gesellschaft nicht, der man eine Zukunftswirtschaft, die immer mehr Menschen arm und entbehrlich macht, als Perspektive vorsetzt.