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Blonde, obergärige Biere an der Wiege der Zivilisation
ОглавлениеDie meisten Archäologen und Anthropologen sind sich einig, dass die ersten Biere der Geschichte der Menschheit in der Jungsteinzeit in einer Region ungefähr zwischen den Flüssen Tigris und Euphrat, also im Zweistromland des Fruchtbaren Halbmonds des Nahen Ostens (im Wesentlichen im heutigen Irak), gebraut wurden. Sie behaupten dies aufgrund von Ausgrabungen, in denen sie bis zu 9000 Jahre alte Körner aus gemälztem Getreide gefunden haben! Die Zivilisation, die diese Errungenschaft der Weltkultur vollbracht hat, nennen wir heute die Sumerer. Sie sind die ersten nachweisbaren Einwohner des Zweistromlandes. Ursprünglich waren die Sumerer nomadische Jäger und Sammler; und es ist unklar, wann genau oder von woher sie damals in ihre neue Heimat wanderten, aber viele Experten halten es für wahrscheinlich, dass sie aus Westasien oder gar aus dem heutigen Indien in die fruchtbare Ebene zwischen Tigris und Euphrat gezogen sind. Es waren die Griechen, die dem Land der Sumerer den Namen Mesopotamien gaben, was „zwischen den Flüssen“ – also Zweistromland – bedeutet. Das geschah im Jahre 331 v. Chr., als sie unter Alexander dem Großen Babylon, die damals bedeutendste Stadt im Nahen Osten, eroberten.
In diesem Zusammenhang sollte noch kurz erwähnt werden, dass einige Forscher auch die Chinesen als zeitgenössische Bierhersteller der Sumerer aufführen. Allerdings hat sich die frühe, meist auf Reis aufgebaute, chinesische Braukunst nicht in der weiten Welt verbreitet. Im Gegensatz dazu wurde die sumerische Braukunst in Abwandlungen zunächst von den alten Ägyptern übernommen und breitete sich dann spätestens im ersten Millennium v. Chr. (wahrscheinlich jedoch schon früher) entlang der Levante und quer durch den Balkan bis ins keltische und germanische Mitteleuropa aus, von wo sie sich schließlich ab dem Zeitalter der Entdeckungen in der Renaissance weltweit durchsetzte.
Wichtig für unsere Biergeschichte ist, dass die Sumerer die ersten Menschen waren, die ihre urzeitliche, nomadische Existenz aufgaben, um in ihrer neuen Heimat sesshaft zu werden und dort Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Mit diesem monumentalen Schritt wurden die Sumerer das erste Volk, welches aus dem Nebel der Vorgeschichte in das helle Licht der Zivilisation trat! Wir nennen diesen Schritt heute die neolithische Revolution. Einer der Hauptvorteile dieser epochalen Transformation unserer Art, Homo sapiens, von Nomaden im Naturzustand zu Siedlern im Zivilisationszustand war der Übergang vom permanenten, allgegenwärtigen, zufallsbedingten und damit auch potenziell lebensbedrohenden Nahrungsmangel zu einer relativ gesicherten landwirtschaftlichen Ernährungsgrundlage und schließlich sogar zu Agrarüberschüssen. Einige anthropologisch orientierte Ernährungswissenschaftler sehen in dieser Revolution im Neolithikum nicht nur eine neue Form der Lebensmittelproduktion, sondern auch den Anfang dessen, was wir heute als Freizeit bezeichnen; und sie betrachten die Befreiung vom konstanten Sachzwang der Nahrungssuche als die wichtigste und notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Zivilisation.
Einer dieser Forscher ist Michael Pollan, Autor des wegweisenden Buches zu diesem Thema, Cooked: A Natural History of Transformation. In diesem Werk vertritt er die fundamentale These, dass Kochen eine Form der Vorverdauung außerhalb des Körpers ist, welche dem Menschen – anders als allen anderen Kreaturen – Zeit und Energie gewährt, sich anderen Aktivitäten als nur der Nahrungssicherung, der Verdauung und dem Schlaf zu widmen. Für Pollan ist die Fähigkeit, Lebensmittel auf Vorrat zu halten und sie zu kochen, statt sie roh essen zu müssen, was eine längere Verdauung erfordert, der wohl größte evolutionäre Schritt vom Menschenaffen zur Gattung Homo. Die Sumerer als vormalige Nomaden waren damit die ersten, die von diesem kolossalen Luxus der Überschusszeit und -energie ausgiebig Gebrauch machten und Kultur produzierten. Hing das kollektive Wohlergehen der Sumerer in deren früheren Dasein im Naturzustand noch primär vom Glück bei der Jagd und der Suche nach wilden Früchten und Cerealien ab, so genossen sie in ihrer Sesshaftigkeit wohl als erstes Volk der Menschheitsgeschichte eine Art von Wohlstand.
Eine Zeichnung mesopotamischer Biertrinker auf einer Amphore von ca. 2600 v. Chr. ist offenbar die älteste Darstellung von Biertrinken in der Welt. Sie zeigt zwei Personen, die aus einer gemeinschaftlichen Amphore Bier — möglicherweise in einer Kneipe — durch Strohhalme saugen. Die Halme dienen dazu, die im Bier suspendierten Partikel herauszufiltern.
Ein anderer Wissenschaftler, der Biologe und Professor für angewandte Ökologie an der North Carolina State University in den Vereinigten Staaten, Robert Dunn, geht sogar noch einen Schritt weiter. In seinem Essay „The internal, external and extended microbiomes of hominins“, welcher 2020 in der Fachzeitschrift Frontiers in Ecology and Evolution erschien, vertritt er die These, dass primär adaptive Mikrobiota in unserem Verdauungssystem dafür verantwortlich sind, dass die Menschheit sich verbreiten und unter unterschiedlichen geografischen Bedingungen überleben konnte. Sein Hauptargument dafür ist, dass „Homo erectus die Intelligenz und die Werkzeuge entwickelte, sowohl Fleisch als auch Alkohol zu vergären.“ Man darf wohl davon ausgehen, dass diese These, nach der sozial kooperierende Menschen überlebensfördernde Mikroben über vergorene Nahrungsmittel miteinander teilen können, nicht nur auf Homo erectus, wie Neandertaler, sondern auch auf uns, Homo sapiens, anwendbar ist.
Aus dieser anthropologischen Perspektive war die neolithische Revolution speziell eine kulinarische Revolution, denn die Sumerer konnten mit zunehmender Erfahrung im Ackerbau schließlich sogar mehr Getreide anpflanzen, als sie für ihre eigene Ernährung und für die Verpflegung ihres Viehs benötigten. Historiker und Archäologen versichern uns, dass die Sumerer in manchen Jahren in der Tat doppelt so viel Getreide ernteten, als sie konsumieren konnten. Somit standen die Sumerer zum ersten Mal vor einem Problem, welches den Nomaden in der Urzeit vollkommen unbekannt war, nämlich der Frage, wie man überschüssige Körner als Rücklage gegen Missernten aufbewahren kann, ohne dass sie verderben. Diese neue Problematik führte schließlich zu zwei umwerfenden neuen Errungenschaften in der Lebensmittelverarbeitung, dem Backen und dem Brauen! Diese beiden Künste der Haltbarmachung von Getreide gelten heute als wichtige Triebkräfte der menschlichen Evolution, denn sie trugen damals dazu bei, uns als kulturelle Kreaturen zu definieren.