Читать книгу Dialekt und Standardsprache in der Deutschdidaktik - Hubert Klausmann - Страница 5
1. Einführung 1.1 Problemstellung
ОглавлениеHistorische Sprachen sind keine einheitlichen Sprachsysteme; in ihnen sind zugleich die Dimension der Homogenität und die Dimension der Varietät gegeben.
Eugenio CoseriuCoseriu, Eugenio: Sprachkompetenz, S. 139
DialektDialekt und StandardspracheStandardsprache sind zwei Seiten einer Medaille. Bei der Auseinandersetzung mit der Frage, wie man die deutsche Sprache korrekt zu schreiben und auszusprechen habe, müssen sie daher grundsätzlich zusammen betrachtet werden: Während der Begriff Dialekt die historisch gewachsene Vielfalt des deutschen Sprachraums beschreibt, bezeichnet der Begriff HochspracheHochsprache bzw. Standardsprache das seit dem 19. Jahrhundert, vor allem seit der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 anhaltende Bemühen um Normierung und Vereinheitlichung der deutschen Sprache. Daraus ergibt sich ein natürliches Spannungsverhältnis zwischen dem Bestreben nach Normierung einerseits und der hartnäckigen Weigerung der sprachlichen Wirklichkeit, sich dem ohne Weiteres zu beugen. Dies betrifft sowohl die deutsche Schriftsprache als auch das gesprochene Deutsch, das gesprochene Deutsch jedoch in einem weit höheren Maße. Daher liegt der Schwerpunkt dieser Einführung auf dem Mündlichen; die Problematik der Standardisierung der deutschen Schriftsprache wird aber mitthematisiert, nicht zuletzt deshalb, weil sich dadurch wertvolle Erkenntnisse über den (wesentlichen) Unterschied zwischen mündlichem und schriftlichem SprachgebrauchSprachgebrauch ergeben und weil z.B. im Lexikon1 mündlicher und schriftlicher Sprachgebrauch durchaus zusammenhängen.
Dass die Beschäftigung mit den Themen Dialekt und Standardsprache im deutschen Sprachraum auch und gerade in einer sich immer rascher wandelnden Welt eine besondere Virulenz besitzt, zeigt bereits ein flüchtiger Blick in die Suchmaschine Google: Ein einziger Klick zum Suchwort „Dialekt“ fördert bereits zahllose Internetlinks zu allen möglichen Aspekten und Facetten des besagten Suchworts zutage, wobei neben sehr prinzipiellen Fragen nach der Herkunft und Identität, wie sie in der großen Landesausstellung zum Mythos und zur Marke Schwaben 2016/17 in Stuttgart aufgeworfen wurden, ganz konkrete Fragen beispielsweise nach den karrierehemmenden Wirkungen einer dialektalen Aussprache oder auch dem (mehr oder weniger guten) Image der unterschiedlichen im deutschen Sprachraum gesprochenen Dialekte zu finden sind. Entsprechend groß ist – innerhalb und außerhalb von Schule und Universität – das Ausmaß an Unsicherheit und Irritation im Umgang mit der deutschen Sprache, was sich insbesondere populäre SprachpflegerSprachpflege zu Nutze machen: In oft fragwürdiger, weil fachlich verkürzter bzw. linguistisch nicht haltbarer Weise werden um den richtigen SprachgebrauchSprachgebrauch bemühten Laien und Profis (wie etwa Deutschlehrern und Journalisten) gleichermaßen Ratschläge und Hilfestellungen gegeben. So stellen beispielsweise die beiden Sprachwissenschaftler Péter MaitzMaitz, Péter und Stephan ElspaßElspaß, Stephan, die ihrerseits wesentliche Erkenntnisse zu einem reflektierten Umgang mit Dialekt und Standardsprache beigetragen haben, mit Blick auf den bekannten Sprachratgeber „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ bzw. dessen Autor und linguistischen Laien Bastian SickSick, Bastian fest: Er „kann sich aber von seinem latenten Ideal der kultivierten und über allen Varietäten stehenden standardsprachlichen Norm nicht lösen“2 – obwohl nicht nur die (nicht-standardsprachliche) Alltagssprache, sondern auch die Standardsprache selbst Variation aufweist.
Weitere Brisanz gewinnt die Auseinandersetzung mit den Themen Dialekt und Standardsprache vor dem Hintergrund der seit dem sogenannten Pisa-Schock (2000) anhaltenden bildungspolitischen Diskussion über nationale BildungsstandardsBildungsstandards und deren Umsetzung auf unterschiedlichen Ebenen: in den Bildungsplänen der Länder, in zentralen Prüfungen wie etwa dem Abitur oder auch in bundesweiten Lernstandserhebungen wie z.B. Vera 3 und Vera 8.3 Denn der politisch motivierte Versuch der Vereinheitlichung von Bildungsprozessen setzt (fast) zwangsläufig ein Konzept von sprachlicher KompetenzKompetenz, sprachliche voraus, welches die – von Kultusministerkonferenz (KMK), Bildungsplanmachern usw. – definierten Standards über die Vielfalt, das National-Einheitliche über das Regional-Besondere stellt. Aus den genannten Gründen wollen wir uns unserem Thema nicht nur in beschreibender und erklärender Weise nähern; wir geben auch Hinweise zum sinnvollen Umgang mit bzw. zum sinnvollen Gebrauch von Dialekt und UmgangsspracheUmgangssprache, wobei wir unseren Fokus insbesondere auf die folgenden Schwerpunkte legen:
die Entwicklung und Fundierung der Konzepte „Dialekt“, „Standardsprache“ und „Umgangssprache“ auf der Basis sprachwissenschaftlicher Grundlagen,4
die Frage nach dem „richtigen“ Umgang mit diesen Konzepten im sprachlichen Alltag, insbesondere in Schule und Universität,
die Formulierung eines (dialektfreundlichen) Konzepts sprachlicher KompetenzKompetenz, sprachliche, in dem die genannten Teilaspekte in sinnvoller Weise berücksichtigt werden.
Unser eigener sprachwissenschaftlicher und didaktischer Standpunkt (Point of view), den wir am Ende des Kapitels „Grundlagen“ weiter ausführen und mit Blick auf die Fragen nach einem sinnvollen Umgang mit den Themen Dialekt und Standardsprache konkretisieren werden, ist dabei die linguistisch fundierte SprachkritikSprachkritiklinguistische, wie sie Jürgen SchieweSchiewe, Jürgen, Martin WenglerWengler, Martin, Jörg KilianKilian, Jörg u.a. in den letzten Jahren in diversen Publikationen differenziert begründet und überzeugend ausformuliert haben (vgl. Kap. 4.4).5 Darüber hinaus teilen wir die Sicht des Kulturwissenschaftlers Thomas BauerBauer, Thomas, nach der es die Vielfalt nicht nur in der Natur, sondern auch in kultureller und sprachlicher Hinsicht zu erhalten gilt. In seinem Essay „Die Vereindeutigung der Welt – Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ kritisiert Bauer neben dem Artensterben in der Natur „in nie dagewesenem Umfang“ auch das Aussterben bedrohter Sprachen und Dialekte.6 Wenn man wie dieser Kulturwissenschaftler der Ansicht ist, dass auch das Verschwinden von sprachlicher Vielfalt einen Verlust darstellt – und wir sind dieser Ansicht –, dann gilt es, zum einen, zumindest mit Blick auf Deutschland bzw. die deutsche Sprache, nach den Faktoren für dieses Verschwinden und geeigneten Gegenstrategien zu fragen (vgl. Kap. 3); zum anderen ist bei der Bestimmung dessen, was aus deutschdidaktischer Perspektive unter sprachlicher KompetenzKompetenz, sprachliche zu verstehen ist, auf diese Herausforderung angemessen zu reagieren. Dazu, wie dies geschehen kann, werden wir gegen Ende des theoretischen Teils (in Kap. 4) einen Vorschlag unterbreiten.
Auch wenn unser Schwerpunkt auf der Situation in Deutschland liegt, kann dieses Arbeitsbuch für Interessierte anderer deutschsprachiger Länder ebenfalls von Nutzen sein, da grundsätzliche Aussagen über Konzepte und Strategien verallgemeinerbar und auf unterschiedliche Sprachsituationen anwendbar sind. Es richtet sich in erster Linie an Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer, Studierende des Faches Germanistik sowie Referendarinnen und Referendare des Faches Deutsch, aber auch Personengruppen, die außerhalb des Fachbereichs Deutsch professionellen Umgang mit der Sprache haben, wie z. B. Zeitungsredakteure, Journalisten und Verantwortliche in Radio und Fernsehen.