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2.2 Das Phänomen des Sprachwandels1

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Als gesprochene Sprache befindet sich die deutsche Sprache – im Unterschied zu nicht (mehr) bzw. nur noch von wenigen Liebhabern gesprochenen Sprachen wie z.B. Latein oder Altgriechisch – in permanentem Wandel. Nach Gerhart WolffWolff, Gerhard ist dabei der Begriff SprachwandelSprachwandel den Begriffen Veränderung und Entwicklung vorzuziehen.2 Denn der Begriff Veränderung beziehe sich lediglich auf „beobachtbare Oberflächenphänomene“, sei also eine quantitative Kategorie, „die dem dynamischen Charakter von Sprache nicht gerecht werden“ könne; der Begriff Entwicklung werde dagegen mit der „Vorstellung von einem kontinuierlichen, zielgerichteten Ablauf“ verbunden und sei damit eine teleologische Kategorie, die „ganz bestimmte Regulative (Entwicklungsgesetze), Einteilungen (Entwicklungsstufen) und Deutungen (z.B. fortschreitende Vervollkommnung, Sprachdifferenzierung oder auch Sprachzerfall)“ impliziere. Lediglich der Begriff Sprachwandel werde dem „dynamisch-veränderbaren Charakter der Sprache“ gerecht, nicht zuletzt deshalb, weil es „die Interpretationsoffenheit einzelner Phänomene gebe“ und Veränderungen funktionell erklärt würden, also die Frage nach den dahinterstehenden kommunikativen Bedürfnissen das wissenschaftliche Interesse leite. Wolff nennt den Begriff Sprachwandel deshalb treffend eine pragmatische Kategorie.

Was damit gemeint ist, zeigt Uwe HinrichsHinrichs, Uwe eindrücklich am Beispiel des sogenannten Gastarbeiterdeutsch auf, sprich dem ungesteuert erworbenen Deutsch von Migranten, die zwischen den 1950er und den frühen 1970er Jahren nach Deutschland kamen.3 Da sie lediglich für einen „begrenzten Zeitraum“ und „ohne Perspektive auf Integration“ nach Deutschland eingereist seien, sei ihre Motivation, die deutsche Sprache zu erlernen, nur gering gewesen; auch hätten die meisten Gastarbeiter keinen Fremdsprachen- bzw. Deutschunterricht besucht. Hinrichs geht dabei von der Annahme aus, dass typische Züge des Gastarbeiterdeutsch „unabhängig von der Herkunftssprache auftreten“, wozu z. B. „fehlende Artikel, Präpositionen und Pronomen; falsche Präpositionen, falsches Genus, andere Wortfolge etc.“ zählen. Für die Frage nach dem SprachwandelSprachwandel entscheidend ist jedoch ein anderer Befund, nämlich die Tatsache, dass diese Merkmale und Besonderheiten des Gastarbeiterdeutsch „auch im Zusammenhang mit aktuellen Veränderungen in der deutschen Standard-UmgangsspracheUmgangssprache“ auftauchen. So werden in dieser beispielsweise zunehmend alte Kasus durch Präpositionen ersetzt, was laut Hinrichs auf den intensiven Sprachkontakt zwischen Muttersprachlern und Migranten zurückzuführen ist. Denn diese „geben Präpositionen den Vorzug“, weil sich ihre eigene Muttersprache – so z.B. das Türkische und das Arabische – weit „von dem alten Kasusmodell“ entfernt hat.4 Im Kern handelt es sich bei all diesen Veränderungen durch Sprachkontakt also um „kommunikativ bedingte Vereinfachungen der Grammatik“ und damit um ein pragmatisch bedingtes Sprachwandelphänomen in dem von Gerhart WolffWolff, Gerhard beschriebenen Sinn.

Neben den durch Sprachkontakt bedingten Formen des SprachwandelsSprachwandel lässt sich nach HinrichsHinrichs, Uwe eine zweite große Gruppe von Veränderungen ausmachen, die für die deutsche Sprache gegenwärtig kennzeichnend sind. Dazu gehören zum einen Veränderungen „die aus dem Englischen herüberkommen („Denglisch“)“ und zum anderen Veränderungen, die „aus den Dialekten stammen (Ich bin gerade die Uhr am Reparieren).“5 Bei (noch) genauerer Betrachtung ist das Verhältnis zwischen Dialekt und mündlicher „Standard-UmgangsspracheUmgangssprache“ tatsächlich noch etwas komplizierter, als es die Unterscheidung von Hinrichs suggeriert, denn es beruht auf Gegenseitigkeit: Die deutschen Dialekte wirken auf die am schriftlichen Standard orientierte Umgangssprache ein, weswegen nicht von der einen deutschen Standard-Umgangssprache gesprochen werden kann, sondern von verschiedenen regionalen (mündlichen) GebrauchsstandardsGebrauchsstandard gesprochen werden muss; diese wirken ihrerseits auf den Gebrauch der Dialekte zurück. So ist das dialektale Sprechen in Deutschland zwar immer noch weit verbreitet, aber es findet in erster Linie im privaten und kommunalen Bereich statt, z.B. in der Familie, im Freundeskreis und im Sportverein, während im öffentlichen Raum zunehmend Formen und Varianten eines „abgemilderten“, an der regionalen Umgangssprache orientierten dialektalen Sprechens anzutreffen sind.6 Schließlich ist noch zu unterscheiden zwischen einem gelenkten und einem nicht gelenkten SprachwandelSprachwandel: Während Hinrichs (in erster Linie) nicht gelenkte Formen der Einflussnahme meint, sind politisch bzw. pädagogisch motivierte Formen der Einflussnahme auf Bildungsprozesse im Sinne von HennesHenne, Helmut Primat der Standardsprache mehr oder weniger gelenkt.

Dialekt und Standardsprache in der Deutschdidaktik

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