Читать книгу Der letzte Stein - Ilse Nekut - Страница 11

Оглавление

Das Mosaik

Dora war sieben,

als sie das Mosaik entdeckte.

Die Stunde der Kostbarkeiten, in denen die Großmutter beim monatlichen Besuch im Nebenzimmer Erfundenes erzählte, war wieder einmal fast zu Ende. Opa unterhielt sich inzwischen gut mit Mama, Papa und Terese.

Dora aber hatte seit kurzem das Gefühl, den glitzernden Geschichten eigentlich entwachsen zu sein, aber sie sagte nichts. Sie war nur nicht ganz bei der Sache.

Da meinte die Großmutter, sie hätte noch etwas für Dora. Auf dem Dachboden hätte sie es gefunden.

„Und was?“

„Ach, es ist nur eine Schachtel“, Oma lächelte verschmitzt.

„Und was ist drinnen in der Schachtel?“

Oma machte es spannend. Sie stieg mit Dora die Stufen zum Dachboden hinauf, wo ihnen stickige Luft aus dunklen Ecken entgegenkam.

„Hier ist es, mein Kind. Wir tragen es hinunter.“

Sie nahm die Schachtel, stützte sich ein wenig auf Doras Schultern und stieg ab Richtung Familie.

Auf dem großen Tisch im Nebenzimmer öffnete Dora die Schachtel. Staub und der Geruch nach vergilbten Büchern und alten Kellern gelangten in ihre Nase. Trotzdem blieb ihr Blick am Inhalt der Schachtel haften.

„Was ist das, Oma?“

„Schau es dir genauer an. Es sind kleine Mosaiksteine aus der Zeit vor dem ersten großen Krieg, von meinen Großeltern.“

„Aber woraus sind diese kleinen Steine gemacht? Sie sind rau und leicht.“

„Aus Sandstein, denke ich.“

Ab diesem Sonntag verzichtete Dora bei jedem Oma-Besuch auf das Geschichtenerzählen. Sie saß über den Steinen und bewunderte deren dumpfe, verblasste Farben und raue Oberflächen. Rostrot, Graugrün, verwaschenes Blau und mattes Beige gab es da. Die Großmutter gab ihr ein altes, kleines Heftchen, dessen einzelne vergilbte Blätter fast zerfielen. In diesem Heft waren Anleitungen zum Setzen der Steine und Beispiele für Bilder, die man mit ihnen legen konnte. Eine Vorlage also. Dora konnte noch nicht sehr gut lesen, aber das machte nichts. Die Bilder in diesem kleinen Heft waren ohnehin das Wichtigste.

Bei den kommenden Besuchen fischte Dora sich jeweils eines der Bilder heraus und legte die mattfarbigen Steine nach dieser Vorlage. Es waren meist symmetrische Figuren, die da entstehen sollten. Sechsecke wie Schneeflocken oder Bienenwaben. Oder auch Achtecke wie im Stammbuch ihrer Freundin. Dora fiel ihr Kaleidoskop daheim ein. Man musste die kleine Röhre vors Auge halten und drehen, dann entstanden ähnliche Bilder, wie die bei ihren Mosaikvorlagen.

Sie perfektionierte dieses Nachbauen aus den alten Heften. Bis sie es sich anders überlegte.

Sie beschloss, neue Steinbilder ohne Vorlagen zu legen. Und so kam es, dass sie die Bilder von jenen Palästen aus ihrem Kopf holte, von denen Oma ihr so oft erzählt hatte. Nach diesen Vorstelllungen formte sie Abbilder aus mindestens dreihundert Einzelsteinen. Das Gold der Paläste und die Haare der Prinzen legte sie aus den fahlbeigen Steinen, für die Kleider der Prinzessinnen die ziegelroten, für die exotischen Blumen und Sträucher die grünen, für den Himmel und die Seen die verwaschenen blauen.

Terese interessierte sich nicht für die Tätigkeit ihrer kleinen Schwester während der Familienbesuche, was Dora gerade recht war.

Es gab nur eine Situation, die sie ärgerte. Wenn fast alle Mosaiksteinchen ausgelegt waren, nur mehr der obere Abschluss des selbst ausgedachten Bildes fehlte, dann kam es vor, dass genau ein Stein fehlte, um das Bild zu vollenden. Dieser letzte Stein machte Dora öfter Kopfzerbrechen, doch mit der Zeit entstand diese Lücke immer seltener. Sie bekam Übung. Trotzdem passierte es manchmal.

Nach einem halben Jahr meinte Oma, Dora solle sich das Spiel mit nach Hause nehmen. Das tat sie.

Etwas Seltsames geschah. Seitdem sie die fahlbunten Mosaiksteine daheim hatte, rührte sie sie nicht mehr an. Entweder war es so, dass Dora langsam erwachsen wurde, oder die Schachtel samt Inhalt gehörte einfach zu Oma und ihrem alten verwunschenen Haus.

Dora verstaute alles im elterlichen Keller und wusste, dass das Spiel noch lange nicht zu Ende war.

Sie musste an den letzten Stein denken, der immer wieder einmal fehlte.

Der letzte Stein

Подняться наверх