Читать книгу Der letzte Stein - Ilse Nekut - Страница 13

Оглавление

Die Russen

Dora war acht,

als die Russen abzogen.

Vor ein, zwei Jahren war sie sich noch sicher gewesen. Die Russen, das waren in Salzwasser eingelegte Heringe mit viel Zwiebeln. Bis sie erfahren hatte, dass es Männer aus dem Osten waren, die das Land besetzten. Wenn sie das tun, die Russen, dann darf sich kein anderer dorthin setzen. Also gut, es waren Männer aus dem Osten, meist in grauen Uniformen.

Als fünf- oder sechsjährige hatte sie gedacht, dass ihre um vier Jahre ältere Schwester etwas Besonderes sein musste, denn die russischen Besatzungssoldaten lächelten das blondzopfige Mädel wohlwollend an. Es war besser für Dora, die statt Zöpfen nur braune Borsten hatte, in der Nähe der Schwester zu bleiben. Die Russen mochten Kinder, hieß es, aber sie vergewaltigten auch Frauen. Dora wusste nicht, was das Wort ‚Vergewaltigung‘ bedeutete, und auf ihre Fragen hörte sie nur:

„Das verstehst du nicht.“

Es musste etwas Bedrohliches, Gefährliches sein, das las Dora in den Mienen der Erwachsenen.

Mit ihrer Schwester fühlte sie sich sicher, Dora war ja erst acht.

An einem Sonntag im Mai saß Dora auf Papas Schultern und überragte die dichte brodelnde Menschenmenge auf dem Wiener Rathausplatz. Viele schwenkten kleine Fähnchen in der Hand. Rot – Weiß – Rot. Dora hatte eine recht gute Aussicht da oben auf Papas Schultern, und sie fühlte sich wohl, trotz der Menschenmenge.

„Vorne ist das Rathaus“, erklärte Vati ihr.

Es war Mai 1955, und die Menschen feierten ‚Staatsvertrag‘, was immer das war. Sie verstand es nicht. ‚Wieder so ein Wort …‘, dachte Dora. Dass auch die Russen jetzt abzogen, hatte sie irgendwo aufgeschnappt.

Sie verstand nicht, warum die Russen jetzt Wien verließen, sie waren doch immer nett zu ihr und ihrer Schwester gewesen. ‚Warum also?‘ Aber die Menschen neben und unter ihr schienen den Tag zu genießen. Viele weinten, Dora hätte sie gerne getröstet, bis sie begriff, dass es Freudentränen waren.

Später, vor dem Einschlafen im Bett, musste Dora an Maria denken. Maria war wie sie selbst acht Jahre alt und wohnte in einem der Nachbarhäuser. Ihr Gesicht war fürchterlich entstellt, denn ihre Mutter hatte versucht, den Fötus mit einer Stricknadel abzutreiben. Ein Russenkind, entstanden aus einer Vergewaltigung, lebte jetzt mit entstelltem Gesicht in einem der Nachbarhäuser. ‚Ich verstehe so vieles noch nicht‘, dachte Dora. ‚Vergewaltigung‘, ‚Fötus‘, ‚abtreiben‘ – alles Worte, mit denen sie nichts anzufangen wusste. Also dachte sie lieber an die vielen Glücklichen auf dem Rathausplatz und an die Musiker, die den Donauwalzer spielten. Mit Musik kannte Dora sich schon ein wenig aus, aber mit anderen Dingen …? Sie konnte schon Sonatinen von Haydn spielen, aber ‚abtreiben‘, das konnte sie nicht.

Als sie an diesem Freudentag eingeschlafen war, träumte sie von einem Mann in grauer Uniform, in der einen Hand eine Stricknadel, in der anderen ein Fähnchen mit den rot-weiß-roten Farbstreifen, wie sie sie am Rathausplatz gesehen hatte. Der Uniformmann lächelte Dora in ihrem Traum ruhig zu, aber von seiner Stricknadel tropfte Blut. Und er hatte hinter seinem Lächeln schwarze Zähne.

Dora schrie in dieser Nacht. Mama kam zu ihr, um sie zu beruhigen. „So ein schöner Tag“, sagte sie, „… und du schreist. Lach doch lieber, Kind, lach doch!“

Der 15. Mai 1955 war vorbei. ‚Gut so‘, dachte Dora.

Der letzte Stein

Подняться наверх