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Das Blut

Dora war neun,

als das mit Lisa passierte.

Lisa war nicht nur Kusine, auch Freundin. Und sie riss sich beim Hinfallen auf der großen Wiese, auf der sie beide ohne Aufsicht spielten, den Oberschenkel an einem Stacheldraht auf. Sehr tief.‚Warum ist Blut rot und nicht blau oder grün?‘, dachte Dora.

‚Warum ist die Wunde ihrer Kusine so groß und so tief?

Warum sieht man in dieser Wunde weißes Muskelfleisch, das wie Grießpudding aussieht?

Und warum sang die Frau in dem alten Haus neben der Wiese, auf der sie spielten, immer wieder zuerst Opernarien und als Abschluss ‚Deutschland, Deutschland über alles‘? Bei offenem Fenster.

Obwohl doch Deutschland früher sehr böse war. Das sagte Mama.

Und warum waren die Augen von diesem Herrn Hitler, den Oma manchmal zornig erwähnte, braun und nicht rosa?‘

Wo man singt, da lass dich nicht gleich nieder,

auch böse Menschen haben ihre Lieder.

Das hatte Oma sie gelehrt. ‚Vielleicht hatten die bösen Deutschen früher böse Lieder, und die Sängerin in dem alten Haus neben der Wiese konnte das nicht vergessen … Sie sang schön, wie ein Engel.‘

Lisas Blut.

Doras Kusine Lisa saß mit gepunktetem Rock, aber grießpuddingähnlichem blutigem Muskelfleisch auf einem Baumstamm und war bleich im Gesicht. Das rote Blut – nicht blau, nicht grün, nein, rot war es – schoss plötzlich wie aus einem leicht verstopften Springbrunnen aus ihrem Oberschenkel.

Doras Augen starrten auf die Verletzung.

‚Warum sind Augen niemals rosa oder lila?‘

Lisas Blut.

Dora rannte zu dem alten Haus mit der Sängerin, um Hilfe zu holen. Sie rannte nicht nach Hause, nein. Sie hetzte zur Sängerin. Wie ein Blitz die Stufen hinauf, und schon war sie im Sängerinnenzimmer. Die Frau, die oft Opernarien und danach das Deutschlandlied sang, rief die Rettung an. Gott sei Dank hatte sie Telefon, Doras Eltern hatten keines. ‚Warum nicht?‘

Dora dachte an ihren Papa, der selbst keine Opernarien sang, sondern solchen Gesängen nur lauschte. Mit Kopfhörern und geschlossenen Augen. Ansprechbar war er nicht, wenn er dies tat, und Dora hasste diesen Rückzug ihres Vaters in die Arienwelt.

Gut, dass die Kusine jetzt in guten Händen war. Dora schaute zu den Wolken hinauf, die heute weiß waren. ‚Warum sind Wolken weiß oder grau und nicht kariert?‘

Und sie sah, wie aus den Wolken über ihr eine grießbreiähnliche Masse floss und einen blutroten Regen ankündigte.

‚Warum ist Blut rot?‘, fragte sie sich wieder und wieder.

Der letzte Stein

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