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Omas Geschichten

Dora war sechs,

als sie Oma lauschte.

Einmal im Monat besuchte Doras Familie die Großmutter, Vaters Mutter. Auch der Großvater war meistens dabei. Er war Dora fremd.

Was Oma auszeichnete, war ihre unglaubliche Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, selbst erfundene Märchen, von Riesen, Zwergen, Palästen. Wenn Dora sie bat, eine Geschichte zum Wort ‚Katzengold‘ zu erfinden, dann wusste Oma sofort, dass die Kratergräben auf der Marsoberfläche eigentlich Katzengoldadern waren, die sich alle 700 Jahre verbreitern und auseinanderbrechen, und dann quellen da alle möglichen Gestalten hervor: Feen in Organza, Zwerge in Samt, mit verzauberten langen Nasen, Elevinnen in türkisfarbenen Tutus. Und dann tanzten in Omas Geschichten diese Gestalten zu Flöten- und Gambenmusik.

Dora befand sich mitten in diesem Tanz. Sie tanzte mit den Feen, mit den Zwergen. Besonders die Elevinnen in ihren schimmernden, hellgrünen Kleidern hatten es ihr angetan. Sie hatte selbst ja solch ein Kleid daheim, mit Rüschen und hellgrünen Volants. In diesem Kleid wollte sie doch schon so oft vom Balkon aus in die Weite fliegen, bis zur Sonne oder bis zum Mars mit seinen Katzengoldadern, vielleicht bis zum Neptun, dem Meeresgott. Dora kannte sich aus in der griechischen und römischen Sagenwelt. Da machte ihr niemand etwas vor.

Die besten Geschichten waren die, in denen silberne Paläste mit goldenen Fensterrahmen vorkamen. Und manchmal auch Prinzen, die in diesen Palästen wohnten, mit goldenen Haaren, farblich verwandt mit den Fensterrahmen. Alles funkelte, auch die Gesichter der edlen Prinzen.

Natürlich wusste Dora ganz genau, dass Oma diese Geschichten nicht gelesen hatte, sondern sie allesamt erfand. Nichts war real, das wusste sie, und obwohl sie schon sechs war, also nach Mamas Ansicht ein großes Mädchen, mochte sie diese Spiele mit der Großmutter. Ihre Schwester war wohl schon zu alt für solche Märchen. Sie saß mit Opa und den anderen im getäfelten Esszimmer der alten Villa und hörte dem realen Tratsch des letzten Monats zu.

Dora aber saß mit Oma im Nebenzimmer und lauschte den wunderbaren Erzählungen über türkisfarbene Tutus und goldhaarige Prinzen. In ihrem Kopf vermischte sich das von Oma Geschilderte mit ihrer eigenen Phantasiewelt. Sie vergaß, dass sie mit ihrer Familie nur auf Besuch hier war, und sie vergaß die Zeit. Die Zeit existierte nicht mehr. Es war wunderbar.

Dora genoss diese kostbaren Stunden mit der Märchenoma.

Ihrer großen Schwester konnte sie von all dem nichts erzählen, die würde sie auslachen und sagen: ‚Kinderkram‘.

Daheim hatte Dora eine alte Holzkiste voller Glitzerzeug und Tüllkleidern. Masken, Federboas, goldene Reifen und Perlenketten aus Glas besaß sie. Mit all diesen Dingen verkleidete sie sich immer wieder, und dann spielte sie Theater. Es war eine Vorbereitung auf die geplante Laufbahn als Schauspielerin, dessen war Dora sich sicher. Und wenn sie spielte, dann machte die Welt rundherum einem riesengroßen Zauber Platz. Sie war Zirkusprinzessin, Seiltänzerin und Filmdiva in einem.

Und immer wieder spielte sie die Geschichten ihrer Großmutter nach. Sorgfältig darauf bedacht, die Erzählungen nicht nur zu wiederholen, sondern sie zu ergänzen und auszuweiten.

Der letzte Stein

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