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Die Panzer

Dora war neun,

als die Panzer walzten.

Ihre Eltern verfolgten seit kurzem oft die Nachrichten im Radio. Und sie sahen immer besorgter drein. Dora getraute sich nicht zu fragen, was los war. Bis ihr Vater die Mutter entsetzt ansah und sagte:

„Jetzt sind die russischen Panzer in Ungarn. Die walzen alles nieder!“

Dora verstand wenig, nur ‚russisch‘, das kannte sie. Und auch, dass die Russen seit einem Jahr nicht mehr da waren. ‚Wieso jetzt Ungarn? Was sind Panzer?‘ Dora kannte keine russischen Panzer, aber sie erinnerte sich an die freundlichen Soldaten, die Kinder mochten, vor allem blondzopfige.

‚Was war in Ungarn passiert?‘ Es schien sehr ernst zu sein. Vater versuchte zu erklären. Dass die Ungarn einen Volksaufstand gemacht hatten gegen die russische Besatzung, dass die russischen Politiker das nicht duldeten, und dass sie in Ungarn einmarschiert sind und mit Panzern alles niederwalzten.

‚Wie können Panzer walzen?‘ Dora kannte nur Straßenwalzen, die den heißen Asphalt platt machten‚ aber wieso machten in Ungarn Panzer alles platt?

„Viele Flüchtlinge werden kommen, das ist sicher“,

meinte Mutter, und Dora fragte sich, was Flüchtlinge eigentlich waren. Sie hatte erst wenig von Flucht gehört. Der nächste Fasching fiel ihr ein. Sie wollte nicht aussehen wie alle anderen. Sie wollte weder als Cowboy noch als Prinzessin noch als Matrose verkleidet sein.

„Darf ich im nächsten Fasching als Flüchtling gehen, Mama?“

„Auf keinen Fall, Kind. Flüchtlinge, das sind arme Leute, denen man die Heimat genommen hat, die aus ihren Häusern vertrieben worden sind oder die vor Krieg oder sonst was Fürchterlichem fliehen mussten. Damit spaßt man nicht. Und niemand sollte sich im Fasching als Flüchtling verkleiden. Das wäre sehr dumm und geschmacklos.“

Also was Heimat bedeutete, dass hatten sie in der Schule gerade durchgenommen. Damit kannte Dora sich aus, und sie hatte auch schon begriffen, dass es schlimm war, die Heimat zu verlieren. Diese Heimatlosen meinte also ihre Mutter, wenn sie sagte, dass viele Flüchtlinge kommen würden. Und dass sie aus Ungarn kommen würden, war Dora klar.

„Wie viele werden da kommen, Mama?“

„Ich glaube, sehr viele.“

„Wie viele?“

„Vielleicht Hunderte oder Tausende oder zweihunderttausend.“

Dora verstand diese Zahl nicht ganz.

„Was denn nun? Zwei oder hundert oder tausend?“

Mutter erklärte ihr diese große Zahl, und dann fiel Dora ein, dass im Rechenunterricht und auch in Geografie solche Zahlen seit neuestem vorkamen. Unvorstellbare Zahlen.

„Das sind ja so viele wie in einer sehr großen Stadt wohnen!“

„Ja.“

Drei Tage später fuhren ihre Mutter, ihre Schwester und sie mit einem Onkel zur österreichisch-ungarischen Grenze. Österreich-Ungarn, das kannte sie aus dem Geschichtsunterricht. Aber dieses eigenartige Kaiserreich gab es schon lange nicht mehr. Also wieso fuhren sie jetzt zu dieser Grenze? Dora dachte nicht mehr weiter nach. Es würde sich alles zeigen.

An der Grenze schienen ihr alle ziellos durcheinander zu laufen. Mutter meinte, das seien Flüchtlinge, Helfer, Rotkreuzmitarbeiter. Alle rannten geschäftig herum. Dora hatte Angst, verloren zu gehen. Wieso waren sie überhaupt hierhergefahren? Ach ja, Mutter hatte etwas von Decken und Kleidung gesagt. Und die lieferten sie jetzt ab, bei einer Rotkreuzstelle. Acht alte, aber gute Decken, und einen Berg voll warmer Kleider, die daheim niemand mehr trug, weil sie zu klein geworden waren oder nicht mehr gefielen. Auch Dora verschenkte etwas. Ihren alten braunen Teddybären. Damit die ungarischen Kinder damit spielen konnten, wenn sie schon flüchten mussten. Der Rotkreuzmann bedankte sich, und Dora und ihre Familie fuhren wieder zurück nach Hause. Nicht die ganze Familie. Vater fehlte. Er hatte wieder einmal beruflich ins Ausland fahren müssen, wie so oft. Er war ja ‚beim Film‘.

Dora beschloss, aus Ärger über seine Abwesenheit, Papa einfach nichts von ihrer Rettungsaktion zu erzählen. Die Flüchtlinge hatten jetzt acht Decken und eine Menge Kleider von ihnen bekommen, auch ohne Papa.

In der folgenden Woche saß plötzlich ein Flüchtlingskind, ein Mädchen, in ihrer Klasse, der 3b. Auch dieses Mädchen war neun Jahre alt, wie Dora. Die Lehrerin bat alle, sie gut zu behandeln. Sie spreche kein Deutsch, sagte Frau Stober, und das sei für sie nicht einfach.

„Stellt euch vor, ganz allein mit vielen anderen zusammen zu sein und kein Wort zu verstehen, das ist hart. Helft ihr, wo ihr könnt, gut?“

Ilona, so hieß die Neue, saß im Klassenzimmer ganz in Doras Nähe. Das fand Dora aufregend. Das Flüchtlingsmädchen sah zwar aus wie eine von ihnen, aber sie war Ungarin! Ein schweigendes Mädchen, das während des Unterrichts nichts tat als Vögel aus Papier zu falten. Als Ilona Dora einen solchen Papiervogel schenkte, war Dora fast glücklich.

Von diesem Tag an waren sie Freundinnen, Ilona und sie. Sie lernte, Papiervögel zu falten, und sie schwiegen beide, wenn sie zusammen waren, aber das war Dora ganz recht. Es war angenehmer, als ständig zu reden. Sie hatte nun also ein Flüchtlingskind als Freundin. Und sie war stolz darauf.

Der letzte Stein

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