Читать книгу Die Skrupellose - Schweden-Krimi - Ингер Фриманссон - Страница 10

6. Magda

Оглавление

Sie konnte nicht schlafen. Sie hatte versucht, wie jeden Abend ins Bett zu gehen, sich an die alltäglichen Gewohnheiten zu halten. Aber nichts funktionierte mehr wie sonst. Sie war völlig überdreht, Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Schließlich schlug sie die Decke zur Seite und stand auf. Das Nachthemd war feucht, und trotz der Wärme bekam sie eine Gänsehaut.

Angelica, was habe ich nur getan, was machen die mit dir?

Die Polizei war gekommen, sie hatte gesehen, wie die Streifenwagen auf dem Wendeplatz parkten. Sie hatte Angst bekommen, war aber gleichzeitig erleichtert gewesen. Immer wieder hatte sie erklären müssen, wie sie den Wagen im Schatten des Baumes stehen gelassen hatte und dass sie sich nur für kurze Zeit entfernt hatte. Wenn sie den Beamten erzählen sollte, wie es war, als sie zurückkehrte, musste sie jedes Mal weinen. Eine Polizistin tätschelte ihre Hand. Ihre Augen waren voller Mitleid.

»Haben Sie eine Vermutung, was passiert sein könnte?«

Florian, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie sprach den Namen nicht aus, schüttelte nur den Kopf. Tränen liefen ihr den Hals hinab, und der Pullover wurde nass.

Auf dem Hof stand Carita und nahm die Eltern in Empfang. Bedauerte, erklärte und tröstete. Es waren keine lauten Stimmen zu hören, sondern nur ein säuselndes Murmeln, eine ungewohnte, plötzliche Stille. So leise war es sonst nie in den Räumen des Kindergartens, nicht einmal, wenn Mittagsschlaf gehalten wurde.

Der Arm der Polizistin war sonnengebräunt und von kurzen, feinen, blonden Härchen bedeckt. Ihr Kajal war ein wenig verlaufen, vielleicht wegen des grellen Sonnenlichts.

»Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, egal was, rufen Sie uns bitte an! Hier ist die Nummer. Sie können mit mir sprechen oder mit ihm dort er heißt Greger. Im Grunde können Sie natürlich mit jedem unserer Kollegen sprechen, aber fragen Sie ruhig erst nach uns. Tun Sie das bitte!«

Die Polizisten nahmen sie mit in den Wald. So machte man es auch mit Tatverdächtigen, das wusste sie, man führte sie herum. Wie Kühe. Sie hatte eiskalte Fingerspitzen, musste ihnen alles zeigen.

»Hier habe ich den Kinderwagen abgestellt, da unten waren Kattis und die anderen Kinder. Und da drüben bin ich reingerobbt, weil ich dachte, ich hätte ein paar Buschwindröschen gesehen, Sie können es selber sehen, ich glaube, die Stiele, die ich abgebrochen habe, liegen noch da.«

Es tauchten weitere Polizisten auf, die einen Hund dabei hatten, einen Rottweiler. Im Nachbarhaus gab es auch einen, der allerdings kleiner war als dieser Polizeihund. Sie hörte, dass die Beamten den Hund Rex nannten. Man hatte ihm eine Art Zaumzeug angelegt, und er begann eifrig zu schnüffeln, wo der Wagen gestanden hatte.

Immer wieder musste sie alles erzählen.

Die Polizisten sprachen auch mit den Kindern, den ganzen Nachmittag wurden sie verhört. Sie hörte das Geräusch eines Hubschraubers.

Sie zog sich an. Von dem Schlag, den sie bei ihrem Sturz abbekommen hatte, tat ihr das Kreuz weh. In gewisser Weise geschah es ihr nur recht. Es war eine Art Strafe dafür, dass sie Angelica allein gelassen hatte. Je mehr es schmerzte, desto besser würden die Chancen stehen, dass das Mädchen unverletzt gefunden wurde.

Eine Begegnung mit Eva, Angelicas Mutter, war ihr Gott sei Dank erspart geblieben. Sie war mit den Polizisten im Wald gewesen, als Eva eintraf. Sie hatte Kattis fragen wollen, was sie gesagt, wie sie es aufgenommen, was sie getan hatte. Aber sie hatte nicht die Kraft dazu gehabt.

Sie verstellte die Jalousien so, dass sie hinausschauen konnte. Es war halb zwölf und mittlerweile ziemlich dunkel. Sie wohnte in der Grundtvigsgatan in Blackeberg in einem dreistöckigen Backsteingebäude. Ihre Wohnung lag im Souterrain. Die Miete war in Ordnung. Aber die Kosten für ein weiß lackiertes, schmiedeeisernes Einbruchsgitter hatte sie selber übernehmen müssen. Es sah recht gut aus, versuchte sie sich einzureden, wie erstarrte oder gefrorene Spitze.

Ihre Wohnung bestand aus einem zehn Quadratmeter großen, rechteckigen Raum, in dem ihr ganzer Hausrat Platz fand. Die Küche war nur eine Kochnische mit einem Kühlschrank und einem primitiven Herd. Wenn man den Ofen benutzte, funktionierte die größere der beiden Kochplatten nicht. Unter der Decke verliefen Rohre, in denen es fortwährend säuselte. Normalerweise fand sie das gemütlich, aber jetzt störte und quälte es sie.

Sie schaltete den Computer ein und öffnete eine Datei, der sie den Namen Mein Jetzt gegeben hatte. Es war eine Art Tagebuch. Manchmal schrieb sie auch Gedichte, oder vielmehr Entwürfe zu Gedichten, die sie in dieser Datei sammelte. Sie hatte die Texte bislang nur einer einzigen Person gezeigt.

Im Moment, schrieb sie, im Moment geht es mir sehr schlecht. Was geschehen ist, erscheint mir so grauenvoll, dass ich nicht einmal darüber schreiben kann. Wird das Leben jemals wieder normal sein? Woher soll ich die Kraft nehmen, mit allem weiterzumachen? Ich habe etwas Schreckliches getan. Ich habe zugelassen, dass ein kleines Kind verschwunden ist.

Sie konnte einfach nicht mehr in der Wohnung bleiben, hatte das Gefühl, die Wände würden auf sie herabstürzen und ihr die Luft zum Atmen nehmen. Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich ab. Der Schlüssel hakte ein wenig, sie vergaß immer, Schmieröl zu kaufen. Vor einer Woche hatte sie es mit Margarine versucht, eine Messerspitze davon in das Schloss gepresst, aber das hatte nichts genützt. Stattdessen hatte ihre neue Hose Flecken bekommen. Fettflecken bekam man nie mehr heraus. Das hatte Tante Gunilla ihr immer wieder gepredigt. Wie sich nun herausstellte, hatte sie Recht gehabt. Als sie auf den Hof hinaustrat, schoss eine Katze lautlos in die Sträucher. Magda zuckte zusammen. Das war Bruno, ein großer und bissiger Kater, der sie schon einmal fast angesprungen hätte. Damals hatte sie versucht, ihn von einer verletzten Taube wegzuscheuchen, die an der Wand hockte. Bruno kam und ging, wie er wollte, sein Besitzer ließ das Fenster immer einen Spaltbreit offen stehen, sogar im Winter. Der beißende Gestank von Katzenurin stieg direkt neben den Fahrradständern vom Boden auf. Sie dachte an Fredriksson, den Hausmeister. Sie hatte ihn einmal mit seinem lehmverschmierten Holzschuh nach der Katze treten sehen.

Erst konnte sie ihren Fahrradschlüssel nicht finden, aber dann lag er doch in der Jackentasche, wo sie schon nach ihm gesucht hatte. Es war ein kühler Abend. Sie fror ein wenig, zog den Reißverschluss bis zum Hals zu. Sie fuhr gerne Rad, es tat ihr gut, es kam ihr vor, als würde der Fahrtwind einen reinigen. Als ihre Tante letztes Jahr ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert und ein neues Fahrrad mit mehreren Gängen geschenkt bekommen hatte, übernahm Magda den alten Drahtesel. Es war ein Rad der Marke Crescent, das in den Sechzigern glänzend und neu gewesen war. Zum Sattel gehörte ein Regenschutz aus gepunktetem Wachstuch, den ihre Tante selber genäht hatte.

Seit dem Tag vor 22 Jahren, an dem ihre Eltern ins Meer gefallen und ertrunken waren, hatte sie bei Tante Gunilla und Onkel Olle gewohnt. Ihre Eltern hatten mit ihrer Motorsegelyacht Urlaub in den Schären von Sankt Anna an der schwedischen Ostküste gemacht. Vermutlich hatten sie zu viel getrunken, das hatte Magda sich anhand der Kommentare zusammengereimt, die sie im Laufe der Jahre aufgeschnappt hatte. Sie selbst war in ihrer Wiege in der schaukelnden Kajüte alleine zurückgeblieben. Das Boot trieb und trieb, bis sich schließlich der Seenotrettungsdienst seiner annahm. Sie besaß ein altes, verblichenes Zeitungsfoto, das einen Mann in einem Overall zeigte, der mit einem Säugling im Arm an Land ging. Dieser Säugling war sie gewesen.

Sie trat wie eine Wahnsinnige in die Pedale, und es rauschte in ihren Ohren. Im Zentrum von Blackeberg bog sie links auf den steilen Anstieg ab und fuhr auf den Fahrradweg. Sie kam an dem Kreisverkehr vorbei, in dem sie einmal einen Lastwagen umkippen und Feuer fangen gesehen hatte. Das war zu der Zeit gewesen, als sie noch ins Gymnasium ging, und sie hatten auf dem angrenzenden Sportplatz Brennball gespielt. Der Fahrer war bei dem Unfall ums Leben gekommen, sie musste jedes Mal daran denken, wenn sie hier vorbeifuhr, und träumte bisweilen, dass sie seine Hände durch den Rauch und die Windschutzscheibe sah, seine vergeblichen Versuche, sich aus der Fahrerkabine zu befreien, bevor das ganze Auto von den Flammen erfasst wurde.

Sie hielt sich an den großen Fahrradweg, der parallel zum Bergslagsvägen verlief. Der kürzere Weg hätte über Grimsta geführt, aber das Viertel hatte einen schlechten Ruf. In der Nähe des Autoverkehrs fühlte sie sich sicherer. Das Fahrrad glitt durch die Dämmerung, und die Luft duftete nach zartem, feuchtem Grün. Sie hielt den Lenker fest umklammert, war die ganze Zeit von der eigentümlichen Hoffnung erfüllt, dass sie die Augen für einen Moment schließen und anschließend wieder öffnen würde, und dann das Mädchen in seinem verknitterten gelben Kleid vor ihr stehen, mit dem Fuß aufstampfen und wütend sein würde.

»Ihr habt mich vergessen, ihr seid einfach weggegangen!«

Nein. Angelica war nur selten wütend. Sie saß am liebsten am Tisch und malte mit Wachsmalstiften kleine Kinder, die wie Tiger in Käfigen hockten. Oder sie zog sich in die Kissenecke zurück und lutschte an ihren Fingern. Ihren Eltern gefiel das nicht, es konnte schlecht für ihre Zähne sein. Das Kindergartenpersonal hatte deshalb Anweisung bekommen, darauf zu achten, dass sie nicht an den Fingern lutschte.

Ein einziges Mal hatte Angelica einen Wutanfall bekommen. Der Auslöser dafür war etwas gewesen, das Eva gesagt hatte. Magda war in dem Moment in den Flur gekommen. Ein kleiner, roter Stiefel flog an ihr vorbei. Eva hatte das brüllende Kind festgehalten.

»Was ist denn hier los?«, hatte Magda gerufen.

»Angelica mag ihre Mama nicht mehr.«

Um diese Uhrzeit waren nicht mehr viele Autos unterwegs. Ein Taxi fuhr Richtung Vällingby, und als sie sich Johannelund näherte, hörte sie die rhythmischen Laute einer U-Bahn, die an dieser Stelle oberirdisch fuhr. Dann sah Magda sie auch, es war einer von den neuen Zügen. Er wurde langsamer und hielt plötzlich auf freiem Feld. Wahrscheinlich eine Störung, die gab es auf der so genannten Grünen Linie häufiger. Sie fuhr in die Unterführung und dann entlang der asphaltierten Gehwege. Außer ihr war niemand auf der Straße.

Der Kindergarten war geschlossen. Sie hatte nichts anderes erwartet. Sie radelte an dem flachen, gelben Holzbau vorbei, der ihr Arbeitsplatz war, und weiter zu dem Wäldchen, in dem Angelica verschwunden war. Ein Hase richtete sich aus dem Gras auf. Sie sah sein Profil und die langen, sensiblen Löffel. Ganz ruhig blieb er sitzen und ließ sich von ihr keine Angst einjagen. Sie dachte an ein Buch über Hasen oder Kaninchen, das sie sich einmal ausgeliehen hatte. Es hatte Unten am Fluss geheißen und war eines der besten Bücher, die sie je gelesen hatte.

Als sie das Wäldchen erreichte, bremste sie und stieg ab. Sie blieb zunächst eine Weile stehen und lauschte, ehe sie das Fahrrad abstellte und abschloss. Langsam trat sie zwischen die Bäume. Das Areal war mit blauweiß gestreiftem Plastikband abgesperrt worden. Hinter der Absperrung sah alles so aus wie immer. Unzählige Male waren sie hier mit den Kindern gewesen, es war ein überschaubarer und friedlicher Vorortwald, im Grunde nicht einmal ein richtiger Wald, sondern eine Ansammlung von Bäumen und Sträuchern, ein Stück Natur zwischen all den Häusern, in dem Kinder Ameisen beobachten und Blaubeeren pflücken konnten.

Sie stand an der Eiche, wo sie den Kinderwagen abgestellt hatte, und berührte sie mit den Fingerspitzen.

Die gefurchte Rinde war kühl, und sie presste ihre Wange an den Stamm, bis es beinahe wehtat. Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Es war, als würde ihr der ganze Brustkorb zusammengeschnürt, sodass die Luft nicht mehr hineinkonnte. Sie breitete die Arme aus, versuchte tief durchzuatmen und strengte sich dabei so an, dass ihr Unterkiefer zitterte. Sie geriet ein wenig in Panik und war verunsichert. Und wenn Angelica nun doch bei ihrem Vater war? Wenn er sie mitgenommen hatte und weggefahren war? Sie hätte der Polizei sagen sollen, was sie über Eva und Florian wusste. Aber das fanden die Beamten wahrscheinlich ohnehin heraus. Außerdem hatten sie auch mit Carita gesprochen, und Carita wusste Bescheid. Als Leiterin musste sie über die Familienverhältnisse der Kinder informiert sein. Sie würden Florian bis in das kleine rumänische Dorf verfolgen, aus dem er stammte, und er würde sagen, jetzt ist sie hier, meine Tochter, sie ist bei mir und sie wird hier eine Weile bleiben, aber ich bringe sie dann wieder nach Hause, gebt mir nur etwas Zeit.

So musste, musste es einfach sein!

Aber da war noch die Sache mit dem Diadem. Das hätte er doch sicher mitgenommen und nicht im Kinderwagen zurückgelassen. Andererseits hatte es unter dem Kissen gelegen, wie hätte er es also sehen sollen?

Magda schloss die Augen, blickte zum Nachthimmel auf und zwang sich, langsam und tief durchzuatmen. Warum war sie eigentlich mitten in der Nacht hierher gefahren? Um Spuren zu finden? Nicht einmal die Polizei hatte das gemacht. Es war dumm, verrückt und konnte sogar gefährlich werden.

»Ist mir scheißegal!«, murmelte sie.

Es war windig geworden. Vielleicht würde es nun endlich Regen geben. Das wäre dringend nötig, denn alles dürstete nach Regen und Feuchtigkeit. Sie starrte zum Gewirr der Äste hinauf, die noch nicht vollständig begrünt waren. Eichen schlugen spät aus. Auf einmal war sie unruhig. Sie musste nach Hause. Im Laufschritt kehrte sie zu ihrem Fahrrad zurück und hatte Schmerzen im Kreuz.

Lieber Gott, mach bitte, dass Angelica bei ihrem Vater ist!

Die Skrupellose - Schweden-Krimi

Подняться наверх