Читать книгу Die Skrupellose - Schweden-Krimi - Ингер Фриманссон - Страница 6

2. Daniel

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Zur Not konnte man immer noch unter den Brücken schlafen. So lange es Sommer war, würde das hervorragend gehen. Daniel hatte Spuren von Leuten gesehen, die das taten. Aufgeschlagene, etwas zerrissene Zeitungen, ein paar Stofffetzen. Einen Pappkarton, in den man den Kopf stecken konnte, wenn es einem zu hell wurde. Wie das Verdeck eines Kinderwagens. So würde sich die Wohnungsfrage lösen lassen.

Allerdings natürlich nur, wenn nicht schon alle Plätze besetzt waren. Er hatte keine Lust auf Handgreiflichkeiten. Es gab sicher auch solche und solche Brücken, einige waren bestimmt weniger beliebt als andere. Die Brücke, die nach Solna hinüberführte, war doch zum Beispiel fast schon eine Vorortbrücke. Dort würde man bestimmt kampieren können. Zumindest jetzt, im Sommer.

Aber was war im Winter?

Er nahm die Rolltreppe am Fridhemsplan und lief durch die U-Bahn-Station. Er ging mit langen Schritten, so als könnte er jeden Moment gezwungen sein zu laufen. Intensiver Uringeruch schlug ihm entgegen. Es gab Leute, die hier unten übernachteten, das war natürlich auch ein Ausweg. Er wusste, wer sie waren, er erkannte sie. Aber er konnte nicht behaupten, dass er sich nach ihrer Gesellschaft sehnte.

Ach was. So weit brauchte es ja nicht zu kommen. Vielleicht überlegte Ulrika es sich noch einmal anders und ließ ihn weiter bei sich wohnen. Sie hatte auch früher schon versucht, ihn hinauszuwerfen, ihn dann aber immer wieder bei sich aufgenommen. Sie brauchte ihn. Er würde es ihr zeigen: Du brauchst mich, wir sind füreinander bestimmt.

Er kam zu einem der großen Mietshäuser in der Industrigatan, in dem er das Treppenhaus und die Aufzüge putzte. Man verdiente nicht viel damit, aber immerhin etwas. Außerdem war es relativ leicht verdientes Geld. Im Sommer war es nicht besonders dreckig, schlimmer war es da schon im Frühling, wenn die Leute Lehm und Hundekot ins Haus trugen.

Tragen, trug, getragen, dachte er auf Deutsch.

Er gab den Türcode ein und betrat das Haus. Er nahm die Hintertür. Hier unten lagen der Fahrradkeller, die Waschküche und eine eigene Tür für die Müllabfuhr, damit die Männer nicht um das ganze Haus herumgehen mussten. Jetzt hatten sie schon eine Weile nicht mehr geleert, und der ganze Flur stank nach Ruß und faulen Eiern.

Er öffnete die Tür zu seiner kleinen Abstellkammer, in der die Putzsachen aufbewahrt wurden. Der Schlüssel hakte ein bisschen, das hatte er schon immer getan. Der Vermieter hatte ihn angewiesen, den Schlüssel nachschleifen zu lassen, aber das gehörte zu den Dingen, aus denen nie etwas wurde. Im Grunde fand er, war es Sache des Vermieters, dafür zu sorgen, dass seine Angestellten ordentliche Schlüssel bekamen. Er als Arbeitnehmer brauchte sich um so etwas doch wohl nicht zu kümmern! Es machte ihn wütend, daran zu denken. Seine Bewegungen wurden ruckhaft. Wasser in den Eimer, ein wenig Schmierseife, ganz gewöhnliche Schmierseife, aber nicht so viel, dass der Boden glatt wurde und irgendeine verdammte alte Schachtel hinflog und sich einen Oberschenkelhalsbruch holte. Aber genug, um die grauen Flecken eingetrockneten Drecks wegzukriegen.

Er begann mit dem Aufzug, schrubbte erst und wischte anschließend mit dem Aufnehmer nach. Es war immer das Gleiche, irgendwer drückte immer genau in dem Moment den Knopf, sodass er manchmal mehrmals auf und ab fuhr, während er in dem kleinen Aufzug stand und putzte.

Leute stiegen ein und aus, aber nicht alle grüßten ihn. Anfangs hatte er noch versucht, höflich zu sein, hatte locker Hallo gesagt oder auch guten Tag, wenn die Person schon etwas älter war. Es gab Leute, die einem darauf keine Antwort gaben, und dann versuchte er, es nicht persönlich zu nehmen.

Andererseits gab es auch einige, die sich gerne unterhielten und einen gar nicht mehr gehen lassen wollten.

»Kommen Sie doch mit, ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee ein«, hatte ihn eine dieser alten Schachteln immer wieder eingeladen. Sie trug meistens eine bekleckerte, karierte Hose und hatte kleine, blutunterlaufene Augen.

Ein einziges Mal war er mitgegangen. Die Frau wohnte in einer Einzimmerwohnung, die mit verstaubtem Nippes voll gestopft war. Ihre Hände zitterten, als sie Kaffeepulver in den Filter gab. Er hatte wie auf Kohlen gesessen. Der Kaffee war schwach, aber heiß gewesen, und er hatte sich die Zunge verbrannt. Von da an hielt er sie sich vom Leib.

»Ich habe leider keine Zeit.« Er hatte ihren Vornamen vergessen. S. stand an der Tür. S. Andersson, er wollte nicht daran erinnert werden, sich nicht erinnern. Schabracke Andersson.

Auf ihrer Etage musste er immer besonders schnell schrubben. Aber er wusste genau, dass sie hinter der Tür war, er spürte ihren Blick durch den Spion. Er war wie ein Laserstrahl, wenn er ihm zu nahe kam, würde er den Alarm auslösen. So ließ er seiner Fantasie freien Lauf, um stärker zu werden. Es galt, weiterzuschrubben, die abgetretene Treppe feucht zu machen, zu wienern und zu wischen, sich aber stets von dem Strahl fern zu halten.

Du bist kindisch, schoss es ihm manchmal durch den Kopf. Dann wurde er beinahe wütend auf sich selbst.

Aber es war eben ein Weg, die Arbeit erträglich zu gestalten.

Eine andere Möglichkeit waren die Namensschilder auf den Türen, zu denen man sich etwas einfallen lassen konnte. Buxterhud zum Beispiel. Wie mochte jemand aussehen, der so hieß? Er hatte noch nie jemanden aus dieser Wohnung kommen sehen, stellte sich aber einen großen und angeberischen Kerl mit breitem Kreuz vor. Wenn er schlampig schrubbte und Buxterhud ihn dabei erwischte, dass er es mal nicht so genau nahm, würden sich die krallenartigen Finger des Mannes in seinen Nacken bohren und er in Buxterhuds kleinen Flur geschleift werden. Manchmal bekam er eine Erektion, wenn er sich vorstellte, was hinter dieser Tür alles geschehen könnte.

Mittlerweile hatte er sich schon in die vierte Etage heruntergearbeitet. Trotz der Wärme kam er heute schnell voran. Das halbe Haus war fertig, allerdings kam der Flur im Keller noch hinzu. Andererseits war es dort unten dunkel, es gab kein entlarvendes Sonnenlicht. Wenn er diese Etage fertig hatte, würde er frisches Wasser holen müssen. Er drehte sich um und summte, hier ging die Arbeit leicht von der Hand, es stand nicht jede Menge Zeug vor den Türen wie an anderen Stellen im Haus: Kinderwägen, Fahrräder, leere Getränkekästen und Müll. Im Grunde war das verboten. Aber wer war er, so etwas zu beanstanden?

Die Leute darauf ansprechen? Nein, das war bestimmt falsch. Was hieß wohl beanstanden auf Deutsch?

Er hatte sich vorgenommen, Deutsch zu lernen. Seit fast einem Jahr paukte er nun, und schuld war sein Buder Jerry. Man könnte auch sagen, es war sein Verdienst. Sie waren im Tre backar ein Bier trinken gewesen, einer Kneipe mit Bücherregalen an den Wänden. Ein Buch war auf ihrem Tisch liegen geblieben, jemand hatte vergessen, es zurückzustellen. Daniel spielte damit und las plötzlich laut vor:

»Der Tod in Venedig.«

Der Tod.Aber er hatte das Wort schwedisch ausgesprochen, das O als ein U gelesen.

So etwas hätte er niemals getan, wenn er nicht getrunken hätte, nicht in Jerrys Gegenwart, denn Jerry war jemand, der immer alles besser wusste. Er hatte Daniel das Buch aus der Hand genommen und mit überdeutlicher Stimme seine Aussprache korrigiert:

»Der Tood in Venedig. Von Thomas Mann.«

»Na und?«

»Das ist Deutsch. Man spricht es mit O. Es bedeutet Tod. Falls du das nicht wusstest.«

Es war doch klar wie Kloßbrühe, dass er das nicht wusste. Er hatte nie Deutsch gelernt, war ohnehin nicht sonderlich sprachbegabt und generell keine große Leuchte in der Schule gewesen.

Erst wurde er wütend. Konnten die nicht so schreiben, dass man es als Schwede richtig aussprach? Stattdessen machten sie es einfachen Leuten wie ihm absichtlich schwer. Musterten sie aus, schufen Klassenunterschiede. Aber er konnte auch verdammt stur sein. Als er an jenem Abend nach Hause ging, hatte er seinen Entschluss gefasst.

In seinem Elternhaus fand er eine deutsche Grammatik, die seine Mutter benutzt hatte, als sie jung war. Sie hatte den Umschlag mit Blumengirlanden verziert, Kurzgefaßte deutsche Grammatik von Hjalmar Hjort und Sven Lide. Er nahm sich unverzüglich die Ausspracheregeln vor und wäre bereits daran fast gescheitert.

Doch zu der Zeit hatte er Ulrika kennen gelernt.

Und sie konnte verdammt gut Deutsch.

Jetzt wischte er vor der letzten Tür in der vierten Etage. J. Bosch stand auf dem Namensschild, vielleicht war der Mieter ja Deutscher, J. Bosch. Sollte er klingeln und fragen? Irgendetwas sagen? Eine der Phrasen vorbringen, die er auswendig gelernt hatte?

Denen, die tapfer sind, steht die Welt offen.

Die Tür öffnete sich unvermittelt und eine Frau trat in den Flur hinaus. Sie schaute sich um, zog anschließend die Tür hinter sich sehr nachdrücklich zu und schloss ab. Sie war älter als er, ein paar Jahre vielleicht. Höchstens 35, ein breiter Hintern, um den sich ein eng sitzender Rock spannte, sodass er die Passform ihres Slips sah. Sie hatte blonde Haare, die nachlässig zu einem Knoten hochgesteckt waren. Da war etwas mit ihren Augen, sie starrten ihn an und brannten ihn in die Wand.

»Hallo«, entfuhr es ihm.

»Hei. Du bist das also, der hier putzt?«

Er nickte.

Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen. Ihre Beine schimmerten irgendwie. Als sie die Tür zum Aufzug öffnete, drehte sie sich noch einmal um und lächelte ihm zu.

»Wie heißt du?«

»Daniel.«

»Keep smiling, Daniel. Keep smiling.«

Sie ging ihm den ganzen Weg bis nach Vällingby nicht mehr aus dem Sinn. Er saß in der U-Bahn und musste dauernd an sie denken.

»Keep smiling, Daniel. Keep smiling.«

Ihre Art, seinen Namen auszusprechen, fast wie Dánniel. Ihre raue, etwas heisere Stimme. Als hätte sie in ihrem Leben viel geschrien.

Bei Orgasmen?

Er schloss die Augen und versuchte sich an ihr Aussehen zu erinnern, eine schmale Taille, er würde sie mit den Händen umfassen können, und üppige Hüften, sie hatte einen kurzen Rock getragen, der nur den halben Oberschenkel bedeckte, und ein T-Shirt, ihre Haut war glänzend und braun gewesen.

Es gibt andere Frauen, dachte er. Zum Teufel, es gibt auch noch andere Frauen als Ulrika. Wenn ich ihr nicht mehr gut genug bin.

Aber ich könnte sie vielleicht überraschen.

Mit einer Flasche Wein. Und einem Strauß Rosen. Nein, das geht zu weit, der Wein muss reichen. Im Grunde kann ich mir nicht einmal den leisten.

Die Skrupellose - Schweden-Krimi

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