Читать книгу Die Skrupellose - Schweden-Krimi - Ингер Фриманссон - Страница 17

13. Kennet

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Die Tasche war unhandlich. Es wäre leichter gewesen, sie auf den Arm zu nehmen, wie man es normalerweise tut, wenn man ein Kind trägt. Es wäre darüber hinaus auch für sie bequemer gewesen, aber reiner Selbstmord für ihn.

Er drückte den Knopf, und der Aufzug kam herunter. Er war leer. Vorsichtig stellte er die Tasche an die Wand. Er hatte etwas über sie geworfen und den Reißverschluss zugezogen, für ihre Nase jedoch eine Öffnung gelassen. Wenn ihn jemand überraschte, konnte er immer noch sagen, er hätte einen Hund in der Tasche, einen Hund, mit dem er beim Tierarzt gewesen war. Er würde sich abweisend geben, um sie glauben zu machen, dass der Hund sehr krank war, vielleicht sogar im Sterben lag. Dann würden sie ihn nicht weiter belästigen, denn ein Mensch hatte das Recht, mit seiner Trauer in Ruhe gelassen zu werden.

Aber er begegnete niemandem und dachte mechanisch, dass er einmal mehr Glück hatte.

Sie war ausgegangen, was ihn eigenartigerweise erleichterte. Er stellte die Tasche im Flur ab und beeilte sich, das Mädchen herauszuheben. Der kleine Körper war glühend heiß. Die ganze Zeit über redete er beruhigend auf sie ein, was er nun bedenkenlos tun konnte, denn es gab ja niemanden, der ihn hörte. Er betrachtete ihr zierliches, wohlgeformtes Gesicht und hielt sie an seine Brust. Daraufhin öffnete sie schmatzend den Mund, und ein Zipfel seines Hemds glitt zwischen ihre Lippen, und sie begann daran zu saugen. Es war fast, als würde er ihr die Brust geben.

»Du kleines, liebes Kind«, flüsterte er. »Du wirst es so gut bei uns haben, du wirst durch dichtes, grünes Gras laufen dürfen, wo es keinerlei Verschmutzungen gibt – die Luft wird klar und taufrisch sein und nichts wird dir Schaden zufügen können. Aber du musst jetzt tapfer sein und noch eine Weile still liegen, du kannst ja so tun, als wärst du eine Schmetterlingspuppe, du hast doch bestimmt schon mal eine gesehen und weißt, was eines Tages aus den Puppen herauskommt, es sind die Schmetterlinge, bringt man euch so etwas im Kindergarten bei, erzählt man euch von den Schmetterlingen mit ihren glänzenden Flügeln?«

Dann sah er ihren Gesichtsausdruck, als sie ihn, die Tasche und den Vorhangstoff sah. Halblaut rief sie aus: »Ist das wahr, Kennet, ist das wirklich wahr?«

Sie war stundenlang fort gewesen, und in der Zwischenzeit hatten seine Gedanken ihn mehr und mehr gequält. So ein liebenswertes, kleines Kind musste doch Eltern haben. Wie sollten sie es nur mit ihrem Gewissen vereinbaren, diesen Eltern solchen Schmerz zuzufügen?

Nein. Es gab eine andere Lösung.

Er stand bereit, es ihr zu sagen, vermochte sie jedoch nicht daran zu hindern, in das Zimmer zu eilen, wo sie abrupt stehen blieb. Das Kind lag auf dem Rücken und schlief. »Sie ist bezaubernd, Kennet, sie ist besser, als ich es mir jemals hätte vorstellen können!«

Da ging er ihr nach und umarmte sie von hinten, und sie drehte sich zu ihm um und küsste ihn. Als er in ihr Gesicht sah, entdeckte er Tränen in ihren Augen.

Plötzlich wurde er unbezwinglich stark, und die Worte kamen wie von selbst.

»Hör mir bitte mal zu, ich habe nachgedacht. Das geht einfach nicht, wir müssen sie zurückgeben. Sie hat Eltern, man kann doch nicht einfach ein Kind stehlen, ganz gleich, wie gut man es meint. Es ist Sache der Eltern, sie vor Gefahren zu beschützen, nicht unsere. Wir machen stattdessen unser eigenes Kind, unser eigenes, kleines Mädchen, wir haben es heute Morgen gemacht, ich habe es gespürt.«

Ihr Lachen war kurz und metallisch.

»Sieh einer an, Mister Gewissen spricht!«

»Sag so was nicht! Ich liebe dich.«

Die Schwäche sickerte wieder in ihn hinein und ergriff Besitz von ihm. Sie hörte ihm nicht mehr zu, sondern ging zu dem Kind und begann, es zu untersuchen, strich über die verschwitzten Haare, hob ein Augenlid an.

»Gute Arbeit, Kennet! Aber sie wird bald aufwachen. Ich werde ihr etwas Beruhigendes geben müssen.«

Sie saßen in der Küche, und sie war jetzt nett zu ihm und kochte für sie. Kennet schwieg. Sie merkte es und sorgte sich um ihn.

»Du machst dir zu viele Gedanken, Liebling. Wir tun diesem kleinen Wesen einen Gefallen. Das haben wir doch von Anfang an gesagt, hast du das etwa vergessen? Wir ziehen einen Schlussstrich unter alles, was früher gewesen ist. Wir fangen jetzt von vorn an, du und ich und das Kind. Bei Null! Wir fahren nach Gällviken und werden eine große, gesunde Familie.«

Sie schenkte Cidre in ihre Gläser und prostete ihm zu, als wäre es Champagner.

»Da fällt mir ein, wir müssen ihr noch einen Namen geben, was meinst du, wie könnte sie ihrem Aussehen nach heißen?«

Er mühte sich redlich, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, Freude zu empfinden.

»Wir haben Mai!« Sie holte einen kleinen, roten Kalender heraus und blätterte in ihm. »Hier gibt es jede Menge schöner Namen, Vivan, Filippa oder Mona. Sieht sie aus, als könnte sie so heißen? Nee, eigentlich nicht. Warte, wie wäre es hiermit: Linnea, Sonja oder Hilma«, und sie summte und tanzte aufreizend durch die Küche.

Aber er fühlte sich innerlich leer.

»Nora«, sagte sie schließlich. »Ein Maikind. Der Namenstag wird gleichzeitig auch ihr Geburtstag sein. Nächste Woche hat die kleine Nora Geburtstag. Dann sind wir zu Hause und werden feiern.«

Er sah sie mit einem Glas zu dem Kind gehen. Sie hatte ein Pulver in das Wasser geschüttet.

»Sie kommt mir so heiß vor«, hörte er sich sagen. »Ich glaube, sie ist krank. Vielleicht sollten wir sie zum Arzt bringen.«

Sie wandte sich zu ihm um, und er sah einen Blick in ihren Augen, den er auch früher schon einmal gesehen hatte.

In seinen Eingeweiden brannte es wie Feuer.

»Vertrau mir, Kennet, ich kenne mich da aus.«

Sie saß bei dem Kind, und das Wasser lief ins Kissen. Er begann zu zittern, und seine Hände waren eiskalt und feucht.

»Du«, sagte er gepresst. »Ich glaube, wir müssen auf jeden Fall umdenken ...so geht es einfach nicht weiter.«

Sie fuhr herum wie ein Reptil.

»Wie bitte? Willst du jetzt etwa aussteigen!«

»Nein, aber ...«

Aus den Augenwinkeln ahnte er eine Bewegung, das Mädchen war offenbar dabei, wach zu werden.

»Denk doch mal an ihre Familie«, sagte er flehend, aber sie kam auf ihn zu und ihre Haare schienen Funken zu sprühen.

»Wir, wir sind ihre Familie, hast du das vergessen, hast du alles vergessen, was wir geplant haben?!«

Er war jetzt im Zimmer, griff nach ihr. »Liebling, natürlich habe ich das nicht vergessen.«

Sie war in der Küche beschäftigt. Er hörte ihre Geräusche, setzte sich neben dem Bett auf den Fußboden. Sie hatte dem Kind die Augen verbunden, warum hatte sie das getan? Was durfte das Kind nicht sehen? Die Arme des Mädchens waren so klein und dünn, er sah die Adern wie Blattnerven in der Haut.

Ich habe sie gestochen, dachte er. Ich habe ihr Schmerz zugefügt. Oh, wir haben ihr ja so wehgetan.

Sein Gesicht näherte sich ihrem, atmete sie? Ja, ein kaum merklicher Lufthauch traf seine Oberlippe, das geht einfach nicht, schoss es ihm durch den Kopf, wir können das nicht tun. Daraufhin brach er in Tränen aus, presste die Handflächen an die Wangen, wo es nass und salzig war, ich liebe dich so sehr, komm und rette mich.

Sie war nicht mehr wütend. Das war schön. Sie brachte ihn dazu, sich auf dem Boden auszustrecken, strich ihm über den Kopf: »Nimm diese Tabletten hier, sie werden dich beruhigen, Kennet, du hast einen schweren und anstrengenden Tag hinter dir, aber es wird alles gut werden, und du hast mir das schönste Geschenk meines Lebens gemacht.«

Ihr Arm schob sich in seinen Nacken, und er schluckte die Tabletten, eine nach der anderen. Ruhe breitete sich in ihm aus und ließ seine Glieder schwer werden.

In deine guten Hände lege ich nun mein Leben.

Das wollte er ihr sagen, laut, damit sie es hörte, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr, er brachte nur ein unverständliches Lallen heraus.

Sie versteht auch so, was ich sagen will, dachte er, und während er in den Schlaf hinüberglitt, nahm er entfernt wahr, dass ihre Hände ihm etwas um den Hals schlangen, es war ein Halstuch, er sah noch für einen Moment die hellgrüne Farbe, und sie strich ihm über die Wangen und wischte sie mit den Enden des Halstuchs trocken, und kurz darauf, als er eingeschlafen war, zog sie zu, so fest sie konnte.

Doch da hatte er die Fähigkeit, etwas zu fühlen, bereits verloren.

Die Skrupellose - Schweden-Krimi

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