Читать книгу Die Skrupellose - Schweden-Krimi - Ингер Фриманссон - Страница 15

11. Daniel

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Er stand auf dem falschen Bahnsteig. Erst als er den Zug kommen hörte, erkannte er, dass er den anderen Aufgang hätte nehmen müssen, denn er musste doch in die Stadt, nicht nach Hässelby hinaus. Jetzt konnte er genauso gut hier einsteigen. Er wusste ja eh nicht, wo er hin sollte, also konnte er sich ebenso gut in den Zug setzen und für den Rest seines Lebens zwischen den Haltestellen hin und her pendeln.

Ihm brummte der Schädel, es war ein dumpfer und bohrender Schmerz, der von dem Schlag herrührte, den er versetzt bekommen hatte. Der Mann in dem Jackett hatte ihm eine verpasst, dass er kopfüber auf den Küchenfußboden gefallen war, und während er dort lag, hatte der Mann ihn weiter misshandelt. Er hatte Ulrikas nackte Füße gesehen und nach ihnen getastet. Sie hatte versucht, die Füße wegzuziehen, sie vom Boden zu heben, aber sie war fett und schwer, sodass er schließlich ihre Knöchel packen konnte, an die er sich geklammert hatte, bis sie einen Ruck machte und ihn zur Seite warf.

Er hatte ihr zugerufen. Flehend hatte er gerufen. »Sorg bitte dafür, dass er aufhört, Ulrikchen, sag ihm, er soll aufhören.« Das hatte den Mann nur noch wütender gemacht.

»Ist ja gut, ich geh ja schon«, hatte er schließlich geschluchzt, ja, er hatte geschluchzt, und die Stimme war nicht seine eigene, sondern verzerrt und verwandelt gewesen, hell und dünn wie bei einem Kastraten hatte sie geklungen. Er hatte sich mit den Fingern an den Mund gegriffen und hatte Blut auf den Fingernägeln, hatte auf dem Fußboden gekauert und sich leer gefühlt.

»Das wirst du noch bereuen, Ulrika, der Tag wird kommen, an dem du das bereuen wirst.«

Ein neuerlicher Tritt gegen den Brustkorb ließ ihn auf alle viere fallen wie ein Tier.

»Verschwinde jetzt, ehe ich dich zu Tode trample!«

»Ja, ja ... lass gut sein! Ich bin doch schon unterwegs, verdammt! Aber ich muss meine Sachen haben, meine Sachen, ich muss sie doch mitnehmen.«

Sie hatte alles in ein paar Plastiktüten gestopft, weiß der Teufel, wann sie das getan hatte. Vermutlich, als er schlief. Er dachte, dass die beiden im Raum gestanden und ihn angeglotzt hatten, und ihm wurde schlecht.

Er war allein in dem Wagon, jedenfalls fast. Schemenhaft sah er ein Paar mittleren Alters, das die Köpfe eng aneinander geschmiegt hatte.

Helft mir, dachte er, aber sie waren ganz eng zusammen, es gab keinen Spalt, in den er seine Worte hätte schieben können.

Wo soll ich nur hin?, schoss ihm durch den Kopf, aber er war noch zu benommen und geschockt, um sich wirklich Sorgen zu machen.

Der Zug fuhr ruckelnd, so als könnte er jeden Moment kaputtgehen. Plötzlich hielt er an. Daniel lehnte die Stirn gegen das Fenster und starrte hinaus. Eine einsame Frau fuhr unter ihm Fahrrad. Sie trat in die Pedale, als würde sie verfolgt. Sie wusste, wo sie hinwollte. Er nicht.

Er blieb im Wagon sitzen, während der Zug bis zur Endstation in Hässelby strand fuhr, um dort zu wenden und wieder Richtung Hagsätra zu fahren. Das ältere Paar stieg aus. Sie sahen weg, er machte ihnen Angst. Der Fahrer schaute zu ihm herein, während er auf dem Weg zum letzten Wagen war, der nun die Rolle der Lokomotive übernehmen würde. Er war Ausländer, die Augäpfel leuchteten weiß in seinem dunklen Gesicht.

»Du nicht aussteigen?«, fragte er.

»Ich will in die Stadt.« Daniel sprach undeutlich, seine Lippen waren geschwollen. Der Fahrer schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann schüttelte er nur den Kopf und schlenderte weiter.

Daniel zog die Tüten an sich heran. Es lag alles kunterbunt durcheinander, sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Unterhosen und Strümpfe zusammenzufalten. Er besaß nicht besonders viel. Ein zweites Paar Schuhe. Die Winterjacke. Die Mütze, die er im Second-Hand-Laden der Ärztemission in Johannelund gekauft hatte, eine dicke Strickmütze, die anscheinend nagelneu war. Er hatte sie noch nicht benutzt, sie auf Vorrat für den nächsten Winter gekauft.

»Schlampe«, dachte er und die Trauer überwältigte ihn. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund, er war alleine im Wagon. Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung und fuhr los.

Einen Moment lang kam ihm Jerry in den Sinn. Sein Bruder hatte eine Wohnung im Innenstadtbezirk Vasastan. Daniel hatte ihn dort ein einziges Mal besucht. Er schrumpfte, sobald er diese Wohnung betrat, fühlte sich gedemütigt.

Aber konnte er denn überhaupt noch mehr gedemütigt werden, als er es ohnehin schon war?

Guten Abend, mein Bruder. Oder wie auch immer es heißen mochte. Darf ich bei dir schlafen?

Nein. Das musste warten. Nur im äußersten Notfall würde er Kontakt zu seinem Bruder aufnehmen.

Der Zug sauste durch die Frühlingsnacht. Er hatte die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz gelegt und den Kopf an die Wand gelehnt, aber das tat ihm weh. Vielleicht sollte er sogar zur Polizei gehen und das Schwein anzeigen.

Obwohl man doch nicht auf ihn hören würde. Die Polizei würde sagen, er sei selber schuld. Daniel Magnusson, wir haben dich nicht vergessen. Wir behalten dich im Auge.

Er hatte vor ein paar Jahren ein Auto geklaut und ein paar Einbrüche verübt. Nichts Ernstes. Er hatte diese Dinge längst aufgegeben, jeder junge Bursche stellte doch mal etwas an. Aber die Bullen würden sich bestimmt nicht für ihn einsetzen. Einmal Dieb, immer Dieb.

Er erinnerte sich vage an etwas, das dieser Typ gesagt hatte, der bei Ulrika war.

»Wenn du dich hier noch einmal blicken lässt, gehen wir zur Polizei und erzählen, was du mit Ulrika gemacht hast. Vergewaltigung, mein Lieber! So etwas wird hart bestraft.«

Daniel hatte Ulrikas Augen gesucht, und sie hatte seinen Blick erwidert und ihn angestarrt, aber ihre Augen waren schmal und kalt gewesen. Leblos.

Er hatte Durst. Sein Mund schmeckte salzig. Er sehnte sich nach Limonade und Himbeeren, es war eine Kombination aus grauer Vorzeit, eine Erinnerung aus dem Haus seiner Großeltern: »Geh in den Keller, mein Junge, und hol dir eine Limonade.« Es war wahrscheinlich an seinem Geburtstag gewesen, seine Großmutter hatte einen Kuchen gebacken. Sie machte immer solche harten Kuchen, aber es gab Himbeermarmelade und Sahne dazu, und er aß so viel davon, dass er am Ende auf die Toilette gehen und sich übergeben musste.

Er stieg am Fridhemsplan aus, weil ihm eine Idee gekommen war. Er würde zu einem der Häuser gehen können, in denen er das Treppenhaus putzte. Dort würde er sich waschen und umziehen und vielleicht sogar ein wenig schlafen können. Dann würde er weitersehen.

Die Rolltreppe lief nicht. Er stapfte sie vorgebeugt mit seinen beiden Tüten hinauf, hatte Schmerzen im ganzen Körper. Um in die Industrigatan zu kommen, musste er die Kleine Platte überqueren, wie der Platz in der U-Bahn-Station genannt wurde.

Ich beachte sie gar nicht, ich gehe einfach weiter, dachte er.

Der Gedanke, jemand könnte ihn ansprechen, machte ihn nervös. Es kampierten Leute auf dem Steinfußboden, die aggressiv werden und sich einbilden konnten, das sei ihr Grund und Boden. Die Obdachlosen. Sie saßen und lagen entlang der Wände und glotzten ihn an. Er musste weitergehen, war aber plötzlich nicht mehr fähig, auch nur einen einzigen Schritt zu machen. Natürlich fiel er ihnen sofort ins Auge.

»Komm her, Kamerad«, rief jemand, es war die grölende Stimme einer Frau. »Willst du ein Bier?«

Das war keine Frage, es war ein Befehl. Er stellte seine Tüten ab.

»Nun komm schon her! Hab keine Angst, mein Junge.«

Mein Junge, dachte er.

Er spürte eine Hand auf seiner Schulter und zuckte zusammen. Hinter ihm stand ein Mann.

»Bist du etwa schüchtern?«, sagte der Mann lallend, und aus seinem Mund schlug ihm eine Schnapsfahne entgegen. Daniel hob seine Tüten auf. Der Mann führte ihn zu der kleinen Menschengruppe. Sie rückten zusammen, machten Platz für ihn. Er wurde auf die ausgelegten Zeitungen herabgedrückt. Auf einmal merkte er, dass er pinkeln musste.

Die Frau streckte ihm einen mageren Arm entgegen.

»Victoria! Wie die Prinzessin. Herzlich willkommen in der Säulenhalle.«

»Daniel«, sagte er reserviert.

»Oh verdammt. Schon wieder wie die Prinzessin.«

»Wie bitte?«

»Na, Victorias Freund heißt doch Daniel. Du, wir beide könnten ein Paar werden.«

»Ich bin unterwegs wohin«, murmelte er.

Neben ihr stand ein alter, klappriger Kinderwagen, in dem sich etwas bewegte.

Ein Kind, dachte er träge. Dann aber sah er, dass es ein Tier war, erblickte eine spitze Schnauze und zwei glänzende Augen. Er reckte den Hals und versuchte mehr zu sehen.

Die Frau öffnete eine Dose Bier, die überschäumte.

»Mein Baby«, sagte sie und schaukelte den Wagen ein wenig. Die Schnauze verschwand zwischen den Lumpen.

Sie reichte ihm die Dose, und er trank vorsichtig einen Schluck. Er hatte schrecklichen Durst. Dann musste er sich aufrappeln und ein wenig zur Seite gehen. Er pinkelte an die Wand. Vor ihm war schon jemand an dieser Stelle gewesen, er sah einen Haufen Kot und Papier.

Als er sich wieder umdrehte, sah er, dass die Frau aufgestanden war. Sie trug eine schwarze Jeans, die über den Knien aufgerissen war. Ihr Bauch stand vor, als wäre sie schwanger. Ein grober Strickpullover hing herab und verbarg ihre schmächtigen Schenkel. Mit zitternden Händen steckte sie sich eine Zigarettenkippe an und begann augenblicklich zu husten.

»Setz dich«, brummte einer der Männer, er hatte linkisch gestochene Tätowierungen auf den Händen. »Victoria, nun setz dich schon hin, verdammt, du wirst dich noch erkälten.«

Sie wandte sich ihm zu, stand schwankend in der Dunkelheit.

»Gib ihm mehr Bier«, sagte sie gellend. »Er kann es gebrauchen, er hat eine Tracht Prügel bekommen. Hast du eine Tracht Prügel bekommen, Daniel? Wer ist so gemein gewesen und hat dich derart vermöbelt? Einen so lieben und hübschen Jungen wie dich.«

»Ach, das ist halb so wild.«

Sie kam zu ihm, kam nahe heran, roch nach Fisch und Rauch.

»Wir setzen uns hin, verdammt, so ist es gemütlicher, gemütlicher für uns alle.«

Sie zog ihn zu sich herab, klopfte auf die Zeitungen. »Setz dich, du darfst bei mir bleiben.«

Eine seltsame Ruhe breitete sich sachte in ihm aus.

Der Mann mit den Tätowierungen zog eine Flasche heraus und reichte sie schweigend weiter. Daniel trank. Es brannte wie Pfeffer in seiner Kehle, und er musste sich etwas hinlegen. Ihm wurde erneut schwindlig, die bohrenden Kopfschmerzen meldeten sich wieder. Victoria ordnete ihre Haare. Er fror ein wenig, und ihm war schlecht, er kauerte sich zusammen, zog Arme und Beine an den Körper.

»Was ist das für ein Tier?«, flüsterte er.

»Was denn, meinst du die Ratten oder die Tauben? Oder vielleicht die Läuse, denkst du eher an sie?«

»Ich meine in dem Wagen.«

»Ach so, das ist Sally, sie ist mein Baby, mein Kind.«

»Ich habe euch manchmal gesehen«, flüsterte er, war aber nicht sicher, ob einer von ihnen es hörte. »Wohnt ihr hier?«

»Ja, wir wohnen hier in der Säulenhalle.«

Die Frau hatte angefangen zu singen. Sie hatte eine heisere und melodische Stimme, ihre Finger kraulten seine Haare.

Er musste eingeschlafen sein, hörte dann aber das Geräusch einer rollenden Büchse. Sein Kopf lag direkt auf dem Steinboden, neben seiner Wange war Stoff. Die Frau lag da wie tot.

»Hoch mit euch!«

Daniel öffnete die Augen und setzte sich auf.

»Ihr könnt hier nicht bleiben. Haut ab!«

Er hörte das Geräusch fließenden Wassers, das Flattern von Flügeln, ein knatterndes Donnern, das immer lauter wurde. Die Tauben.

Er musste wieder pinkeln und beugte sich über die Tüten, er fühlte sich schlapp. Die anderen blieben liegen, wie ein Haufen alter Stofffetzen. Langsam erwachten die Lumpen zum Leben und begannen, sich zu rühren.

Ich will nicht, dachte er, hätte aber nicht sagen können, was er damit eigentlich meinte. Vicoria wankte zur nächstgelegenen der breiten Säulen, die über den ganzen Platz verteilt waren, zog ihre Jeans herunter und ging in die Hocke. Er sah ein Stück ihres mageren, graubleichen Pos.

»Hör mal, verdammt!«, rief einer der Männer im Overall und richtete den Wasserschlauch in ihre Richtung. Sie blieb in der Hocke, bis sie fertig war, und kehrte anschließend mit einer Art stiller Würde zurück. Ihre Hände, ihr ganzer Körper zitterten vor Kälte.

Er dachte, dass er sich davonstehlen musste. Sie durften ihn nicht sehen, ihre Augen würden ihn festhalten und verhindern, dass er sie verließ. Er stand mit seinen beiden Tüten da und rührte sich nicht.

»Verdammt, was macht ihr hier nur für einen Dreck jede Nacht«, rief der Mann mit dem Wasserschlauch. Keiner von ihnen erwiderte etwas, an Vorhaltungen dieser Art waren sie sicher gewöhnt, hörten wahrscheinlich überhaupt nicht mehr hin.

»Aber das wird bald ein Ende haben«, fuhr der Mann fort. »Bald bleibt es uns erspart, eure verdammte Scheiße wegzuspülen, wisst ihr das eigentlich? Das Ganze hier wird zu einer Einkaufsgalerie umgebaut. Ich freue mich schon richtig darauf, wenn hier gründlich aufgeräumt wird. Das hätte man schon viel früher machen sollen.«

Der Mann mit den Tätowierungen hustete. Er schüttelte sich, vergrub die Hände in den Taschen, setzte sich in Bewegung. Widerwillig folgten ihm die anderen. Victoria öffnete den Mund, ihr fehlte ein Zahn, das war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Sie gähnte ausgiebig und traurig und reckte sich nach dem Kinderwagen.

Plötzlich begann sie zu deklamieren:

»So treibt es uns, verlorene Seelen, von Lagerstatt zu Lagerstatt, nichts wissend von der nächsten Rast und von der Reise Ziel.«

»Gedichte kannst du woanders aufsagen! Haut jetzt endlich ab!« Das Wasser spritzte in kleinen harten Tropfen vom Boden auf. Victoria erhob die Stimme und breitete die Arme aus.

»Wisse, hier wechseln Nacht und Tag, schwerer Abend und mächt’ger Sonnenaufgang, und dass unsere Reise mal kurz erscheint, mal unbarmherzig lang.«

»Wenn ihr einen Sonnenaufgang sehen wollt, müsst ihr rausgehen«, sagte der Mann mit dem Schlauch. »Hier unten gibt es verdammt noch mal keine Sonne, nur jede Menge Dreck und Müll.«

Daniel blieb stehen und sah sie davongehen. Victoria schob den Kinderwagen, der Tätowierte zündete sich eine Zigarette an. Sie drehten sich nicht um, forderten ihn nicht auf, sie zu begleiten, schienen ihn vergessen zu haben. Er hob seine Tüten an, die eine war am Boden feucht geworden. Einer der Männer hob seinen Schlauch wie eine Waffe und zielte direkt auf Daniel.

»Das gilt auch für dich!«

»Okay, verdammt, ich habe schon begriffen«, sagte er leise. Die eine Tüte an die Brust gepresst schlich er zur Treppe.

Die Skrupellose - Schweden-Krimi

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