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2. Die forcierte Anpassung
ОглавлениеNach der Reichsgründung von 1871 und vor allem nachdem der zum Reichskanzler aufgerückte Bismarck seit 1878 seine Regierung nicht mehr auf die nationalliberale Fraktion des Reichstags, sondern auf die Konservativen stützte, machte er sich mit einer Reihe ultrakonservativer Säuberungsmaßnahmen daran, dem fortschrittlicheren Teil der Richterschaft das liberale Kreuz zu brechen. Aufgrund einer drastischen Verminderung der Zahl der Gerichte wurden die Richter der zehn ältesten Jahrgänge entlassen, jener Jahrgänge also, deren politisches Bewusstsein noch durch die Revolution von 1848 und den Verfassungskonflikt geschärft war. Da in den folgenden zehn Jahren keine Richterstellen frei wurden, musste, wer das Richteramt anstrebte, nach Studium und vierjähriger unbezahlter Referendarzeit ein acht bis zehn Jahre dauerndes Assessoriat durchlaufen.12 Als Hilfsrichter auf Probe hatte er ohne die Garantie richterlicher Unabhängigkeit zu arbeiten. Das wirkte in mehrfacher Hinsicht prägend auf die künftige Richterschaft. Zunächst einmal war damit die soziale Selektion gewährleistetet, nur sehr Begüterte konnten sich die rund 20jährige Ausbildung leisten, und außerdem wurde bis 1911 in Preußen nur zum Referendardienst zugelassen, wer 7500 Mark hinterlegt und ferner noch nachgewiesen hatte, dass er über einen »standesgemäßen« Unterhalt von jährlich 1500 Mark verfügt.13 Aus dem Vorbereitungsdienst und dem Richteramt auf Probe konnte der künftige Richter jederzeit entlassen werden. Während der langen Ausbildung war die Möglichkeit gegeben, die Richter zu beobachten, alle oppositionellen Elemente auszusondern und jede liberale Regung zu unterdrücken. Diese permanente Examinierung überstand nur, wer in besonderem Maße staatstreu und willfährig war, das heißt, wer das damalige Gesellschafts- und Staatssystem bedingungslos akzeptierte.
Die 1878 proklamierte »freie Advokatur« (für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wurden alle politischen Sperren aufgehoben) hatte zusätzlich zur Folge, dass Richter mit liberaler Einstellung, um dem politischen Druck zu entgehen, den Dienst quittierten und als Rechtsanwälte arbeiteten.
Die staatliche Kontrolle über die Richter war mit der Ernennung auf Lebenszeit aber nicht beendet. Höhere Richterstellen besetzte man vorzugsweise mit bewährten Staatsanwälten. Diese waren im Gegensatz zu Richtern abhängige, an Weisungen der vorgesetzten Behörde gebundene Beamte, die in langer Berufsausübung gehorchen gelernt hatten. Als »politische Beamte« konnten sie jederzeit ohne Angabe von Gründen in den Ruhestand versetzt werden; daher hielt sich in jener Berufsgruppe nur der hochkonservative neue Typ des extrem obrigkeitsgläubigen Staatsdieners, dessen Denkweise und Gebaren Leo Kofler in seiner Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft treffend beschrieb: »formalistische Pflichtbetonung, falscher, weil mit dem Leben in einem ständigen, oft tragischen Konflikt geratender Ehrbegriff, Duckmäuserei, verbunden mit Neigung zur ›heldischen‹ Haltung, rationalisierte Sentimentalität und – preußischer Haarschnitt«14. Obzwar die Staatsanwälte nur rund 8 Prozent des höheren Justizpersonals stellten, war um die Jahrhundertwende die Mehrzahl der Gerichtspräsidien mit ehemaligen Anklägern besetzt.15
Erst 1889 begann eine Richterstellenvermehrung, und die gesamte Richterschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts fand nun ihre Ausbilder und Vorgesetzten in den Assessoren der achtziger Jahre. Leitbild der Beamten und Staatsanwälte wurde der Reserveoffizier, jenes Glied zwischen liberalem Bürgertum und feudalem Militärstaat, das sich zur Symbolfigur des zweiten Kaiserreichs entwickelte. Der »liberale Geheimrat musste aus der Beamtenschaft verschwinden«, konstatierte der Historiker Eckart Kehr, »und er verschwand erstaunlich schnell ... Die Antinomie dieses Systems bestand darin, dass es das Bürgertum für die Besetzung der Beamten- und Offiziersposten quantitativ nicht mehr entbehren konnte, bürgerliche Beamte und Offiziere aber nur dann avancieren ließ, wenn sie ihre bürgerliche Gesinnung abgelegt und die neu-feudale angenommen hatten.«16
Dass die Richterschaft aber trotz aller beschriebenen Staatshörigkeit schon durch ihre formal gesicherte Unabhängigkeit nicht weisungsgebunden war – wie Bürokratie und Militär –, ließ man sie spüren. In der sozialen Hierarchie rangierte die Justiz weit unter den anderen Staatsgewalten, was sich beispielsweise darin ausdrückte, dass Juden der Zutritt zu Militär und Beamtenschaft verwehrt war, die richterliche Laufbahn ihnen aber offenstand, oder darin, dass die Praxis der Ordensverleihung die Richter auf eine Stufe mit den mittleren Beamten stellte.17 Die Richterschaft reagierte auf diese Zurücksetzung allerdings nicht etwa mit Trotz und Verweigerung, sondern – wie um zu beweisen, dass sie größeren Vertrauens würdig sei – eher mit erhöhter Anpassung, was die »Metamorphose liberaler Honoratioren zu Reserveoffizieren noch beschleunigte«.18
Die Bismarck‘sche Personalpolitik hatte schon bald Früchte getragen. Zur Zeit der Sozialistenverfolgung traf die Arbeiterschaft auf einen weitgehend geschlossenen Richterstand, der sich in einer Vielzahl von Strafprozessen mit der von den Sozialdemokraten radikal in Frage gestellten politischen Ordnung derart identifizierte, dass er sich den ebenso treffenden wie vernichtenden Vorwurf der »Klassenjustiz« einhandelte. Alle führenden Funktionäre der Arbeiterbewegung – von August Bebel über Wilhelm und Karl Liebknecht bis zu Rosa Luxemburg – hatten ihren fast obligatorischen Hochverratsprozess.
Rechtstheoretisch war die Wilhelminische Epoche von einem rigiden »Rechtspositivismus« geprägt, jener scheinbar entpolitisierten Theorie, die vorgab, das Recht »aus den Fesseln des politischen Doktrinarismus«19 befreit zu haben. Deren Hauptvertreter waren sich der politischen Bedeutung ihrer Lehre aber sehr wohl bewusst, wenn sie vor dem demokratischen Gedanken warnten – »jeder Schritt in Richtung zu demselben wäre eine Gefahr für das Reich«20 – und ein »wertfreies« System juristischer Dogmatik propagierten. »Hinter der neutralen Maske des Positivismus‘ ist die Parteinahme für die bestehende Staatsordnung des monarchisch-konstitutionellen Systems unverkennbar«, urteilte der Historiker Heinrich Heffter,21 denn mit seinem Formalismus und seiner strikten Beschränkung auf die bestehende Ordnung verstärkte dieses Rechtsdenken die geistige Abhängigkeit des Richters vom Wilhelminischen Staat. »Unabhängigkeit der Rechtspflege?«, beschreibt der Rechtssoziologe Ernst Fraenkel die Haltung der Richter jener Zeit, »de iure hat sie nie jemand angezweifelt; de facto nie jemand angestrebt.«22
Doch der Niedergang der alten, scheinbar so fest gefügten Ordnung kündigte sich schon geraume Zeit vor der Abdankung des Kaisers an. Als der Einfluss des Reichstages auf die Gesetzgebung wuchs und immer häufiger Gesetzesinitiativen nicht von der Regierung, sondern aus der Mitte des Parlaments kamen, wurden die antiparlamentarischen Stimmen aus der Richterschaft unüberhörbar. In der Deutschen Richterzeitung, dem Organ des Deutschen Richterbundes, äußerten führende Funktionäre der Richterschaft ihre »Überzeugung, dass die Politik die Justiz verdirbt«, dass »logische Beweisführung ... in den Parlamenten nicht brauchbar« und dass die Arbeit des Gesetzgebers vom »blutigsten Dilettantismus« geprägt sei.23 Die Richterschaft stand geschlossen und stramm zur Monarchie, und es war fast überflüssig, dass einer ihrer Sprecher, Senatspräsident Max Reichert, forderte: »Was die Wehrmacht nach draußen ist, das muss die Rechtsprechung nach innen sein!«24 Sie war es längst. Allerdings konnte auch sie das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen.