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Der Niedergang des Rechts
ОглавлениеDie Forderung und Begünstigung »national« gesonnener Straftäter war politisch verhängnisvoll, sie ermutigte rechtsradikale Umstürzler und verunsicherte republikanische Kreise. Noch folgenreicher war jedoch die damit verbundene Erosion des Rechts.
Nach dem Versailler Friedensvertrag, der als sogenanntes Gesetz über den Friedensschluss deutsches Reichsgesetz war und im Rang sogar noch über der Verfassung stand, war Deutschland rigorosen Rüstungsbeschränkungen unterworfen. Das Gesetz enthielt genaue Vorschriften über Stärke, Ausrüstung und Ausbildung der auf 100.000 Mann limitierten Reichswehr.68 Die »neue alte Armee« (Seeckt) nutzte aber jede Möglichkeit, sich zu verstärken, um das »Versailler Schanddiktat« eventuell militärisch zu revidieren. Sie stellte illegale Verbände auf (die bereits erwähnte Schwarze Reichswehr), zog sogenannte Zeitfreiwillige zu Manövern und Wehrübungen ein, unterhielt geheime Waffenlager und baute sogar illegal eine Luftwaffe auf. Bei all diesen Aktivitäten ging die Reichswehr ausgesprochen konspirativ vor. Um sich gegen den »Verrat« des verbotenen Treibens an die Interalliierte Militärkommission, das Kontrollorgan der Siegermächte, zu schützen, wurden mutmaßliche Informanten ermordet. Die deutschen Behörden, die über die gesetzwidrige Aufrüstung wohlinformiert waren, deckten soweit irgend möglich diese Fememorde. Dennoch ließ es sich nicht verhindern, dass einige der Morde bekannt wurden und Gerichtsverfahren eingeleitet werden mussten. Die Verteidigung der Mörder – von denen etliche später im Dritten Reich große Karrieren machten – plädierte regelmäßig auf Freispruch, da die Täter »in Notwehr« gehandelt hatten, stellvertretend für den Staat, dem durch das Gesetz die Hände gebunden seien.
Diese Konstruktion der rechtfertigenden »Staatsnotwehr« oder des »Staatsnotstandes« – nach dem Urteil des renommierten republikanischen Staatsrechtslehrers Georg Jellinek »nur ein anderer Ausdruck für den Satz, dass Macht vor Recht geht«69 – übernahmen die Gerichte bis hinauf zum Reichsgericht, das jedenfalls prinzipiell anerkannte, dass vermeintliche Staatsnot Gesetzesbrüche rechtfertigen könne. Dabei hatte die Justiz schon selbst dafür gesorgt, dass die Grundlage solcher Rechtfertigung gar nicht bestand und dem Staat bei Bekanntwerden der illegalen Reichswehrmachenschaften keineswegs die Hände gebunden waren. Die Gerichte jener Zeit führten Tausende von Landesverratsverfahren gegen Pazifisten und Republikaner durch, die die Rechtsbrüche bekannt gemacht hatten. In jedem Jahr der Republik wurden doppelt so viele Personen wegen Landesverrats verurteilt wie in den 32 Vorkriegsjahren zusammen.70 Die ebenso simple wie arrogante Argumentation, die diesen Verurteilungen zugrunde lag, charakterisierte treffend der Justizkritiker Emil Julius Gumbel: »1. Eine Schwarze Reichswehr hat nie existiert. 2. Sie ist längst aufgelöst. 3. Wer von ihr redet, begeht Landesverrat.«71 Opfer dieser Justiz wurden nahezu alle prominenten deutschen Pazifisten, darunter die beiden Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde und Carl von Ossietzky.
Auf die politischen Folgen solcher Rechtsprechung hatte die SPD schon 1924 hingewiesen. Ihre Reichstagsfraktion beschwor in einer Interpellation die Regierung, »dass diese Rechtsprechung eine Gefahr für die Republik bedeutet, insofern sie Organisationen, die staatsfeindlich und monarchistisch sind, die Möglichkeit der Waffenrüstung gewährt, ohne der republikanischen Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, sich dagegen zu wehren oder auf Einhaltung von Recht und Gesetz zu bestehen«.72 Noch verderblichere Wirkung hatte aber die damit betriebene Zerstörung der Rechtsgrundlagen des Staates. Der Frankfurter Rechtsprofessor Hugo Sinzheimer hatte sich anlässlich der reichsgerichtlichen Anerkennung der Staatsnotwehr als Rechtfertigung für einen Mord zu Recht über die »prinzipielle Ungeheuerlichkeit, die dieses Urteil gewagt hat«, erregt: »Ein solcher Richterspruch erschüttert nicht die Rechtsordnung, zu deren Schutz er berufen ist. Er löst sie auf.«73
Das ganze Ausmaß der vom Reichsgericht betriebenen Auflösung der Rechtsordnung wird erst klar, wenn man die Fememordurteile im Zusammenhang mit den Landesverratsurteilen gegen pazifistische Journalisten sieht. Mit dem ihm eigenen Sinn für Zusammenhänge hat das Reichsgericht im 62. Band seiner amtlichen Entscheidungssammlung unmittelbar hinter einem Urteil, in dem die Staatsnotwehr erneut als Rechtfertigungsgrund für ein Verbrechen anerkannt wird,74 das »Ponton-Urteil« gegen die Journalisten Berthold Jacob und Fritz Küster veröffentlicht. Das Gericht hatte die beiden wegen des in dem pazifistischen Journal Das andere Deutschland erschienenen Artikels »Das Zeitfreiwilligengrab in der Weser« als Landesverräter verurteilt: Am 31. März 1925 waren anlässlich eines Reichswehrmanövers 81 Soldaten nahe Veltheim an der Porta Westfalica beim Übersetzen über die Weser ertrunken. Aus der Tatsache, dass für verschiedene Opfer dieses Unglücks in den Zeitschriften Der Jungdeutsche und Wiking Todesanzeigen erschienen waren, die jedoch keine militärischen Dienstränge, sondern nur zivile Berufe nannten, hatte Jacob geschlossen, dass unter den Ertrunkenen mindestens 11 Zeitfreiwillige gewesen seien. Diese Tatsache stand im Widerspruch zu den öffentlichen Beteuerungen von Reichswehrminister Geßler und Reichskanzler Luther, es gebe keine Zeitfreiwilligen. Aufgrund dreier Gutachten des Reichswehrministeriums über die Geheimhaltungsbedürftigkeit der recherchierten Tatsachen wurden Küster als Autor und Jacob als verantwortlicher Redakteur am 14. März 1928 zu je 9 Monaten Festungshaft verurteilt. Die entscheidenden, später so oft zitierten Sätze des Urteils lauteten: »Dem eigenen Staate hat jeder Staatsbürger die Treue zu halten. Das Wohl des eigenen Staates wahrzunehmen, ist für ihn höchstes Gebot, Interessen eines fremden Landes kommen für ihn demgegenüber nicht in Betracht. Auf die Beobachtung und Durchführung der bestehenden Gesetze hinzuwirken, kann nur durch Inanspruchnahme der hierzu berufenen innerstaatlichen Organe geschehen.«75
Wie weit das Reichsgericht mit der fatalen Botschaft, das (vermeintliche) Interesse des Staates stehe über dem Recht, und daher seien selbst schwerste Verbrechen nicht strafbar, wenn sie im Interesse des Staates begangen wurden, während andererseits gesetzmäßiges Handeln zu bestrafen sei, wenn es dem Staatsinteresse zuwiderlaufe, der völligen Pervertierung des Rechts vorgegriffen hat, erkannten hellsichtige Kritiker schon damals. Thomas Mann meinte, derlei Rechtskonstruktionen solle man »der faschistischen Diktatur vorbehalten«,76 und der Rechtsprofessor Gustav Radbruch hatte bereits 1929 gewarnt, man könne mit Hilfe der Staatsnotstands-Konstruktion »auch faschistische Aktivisten rechtfertigen, die es etwa unternahmen, den Staat aus dem permanenten Notstand seiner ›demoliberalen‹ Verfassung gewaltsam zu retten«.77 In der Tat war das letzte Kapitel von Hitlers Buch Mein Kampf mit »Notwehr als Recht« überschrieben, und das von Carl Schmitt als »vorläufige Verfassungsurkunde des Dritten Reichs«78 bezeichnete Ermächtigungsgesetz hieß mit vollem Namen: Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. Überhaupt rückte der Staatsnotstand in der NS-Zeit zur alles rechtfertigenden Rechtskonstruktion auf. Dabei wurde immer wieder das »Ponton-Urteil« des Reichsgerichts als »mutiger Schritt« gelobt, der dazu beigetragen habe, »entgegen den Buchstaben der Verfassung dem neuen Staatsgedanken zum Siege zu verhelfen«.79 Der oberste Rechtsgrundsatz der Nazi-Diktatur – »Recht ist, was dem Volke nützt« – war schon fünf Jahre vor der Machtergreifung höchstrichterliche Rechtsprechung geworden, und nationalsozialistische Rechtstheoretiker verwiesen später gern darauf, welch entscheidenden Beitrag das altehrwürdige Reichsgericht zur »Schaffung des neuen Rechts, für das allein der Bestand und die Sicherung des deutschen Volkes den Maßstab bilden«, geleistet hatte.80