Читать книгу Madame Beaumarie und die Melodie des Todes - Ingrid Walther - Страница 11

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Florence wusste, dass sie längst in der kleinen Bar hätte sein müssen. Wahrscheinlich wartete Monsieur Florentin schon ungeduldig auf sie. Der Kreuzgang hinter der Kirche, in dessen Eingang der Chauffeur des Dirigenten verschwunden war, zog sie jedoch magisch an. Sie zögerte nur kurz, dann betrat sie durch das offene Tor den düsteren Durchgang, der in den Innenhof führte. Ihre Neugierde hatte wieder einmal gesiegt. Ehe sie den noch taghellen Innenhof betrat, blieb sie im Schatten des Gemäuers stehen und sondierte die Lage. Der Chauffeur war nicht mehr zu sehen. Es waren nur wenige Leute anwesend. Zwei Polizisten standen vor dem Eingang zur Sakristei. Der Pfarrer lehnte an einer Säule und wirkte müde und erschöpft. Es wurde leise mit unterdrückten Stimmen gesprochen. Wie anders war doch der Anblick gewesen, den dieser schöne Ort morgens und mittags geboten hatte. Alles kam ihr auf einmal unwirklich vor. Wie ein Bühnenbild, das sich mit jedem Akt eines Theaterstücks vom heiteren Anfang hin zur Tragödie verwandelte. Zuerst die friedliche Stille des frühen Vormittags, dann die aufgeregte Stimmung zu Mittag und jetzt diese bedrückende, ja gespenstische Atmosphäre. Florence zog sich noch ein Stück weiter in den Schatten zurück, denn nun strebte jene elegante blonde Dame, die sie schon während der Vorkommnisse in der Kirche beobachtet hatte, in Begleitung des Herrn im weißen Anzug dem Ausgang zu. Als sie näher kamen, zuckte Florence zusammen, denn sie erkannte jenen Mann, der ihr noch gestern in der Früh am Gare de Lyon ihren Sitzplatz vor dem roten Klavier streitig machen wollte. Die beiden schenkten ihr jedoch keinerlei Beachtung, gingen an ihr vorbei und waren bald in Richtung Stadt verschwunden. Florence trat aus dem Schatten des Ganges und ging auf den Pfarrer zu.

„Ah, die Madame von der Pariser Polizei“, murmelte dieser. „Sie haben sich ja wirklich den richtigen Ort für Ihren Urlaub ausgesucht.“

„Hochwürden, Sie können mir glauben, dass ich mir gewiss einen anderen Auftakt für meinen Aufenthalt hier in Avignon gewünscht hätte. Der plötzliche Tod unseres hochverehrten Meisters ist eine so furchtbare Sache, dass ich dafür keine Worte finde. Wie schrecklich, dass das ausgerechnet heute und hier in Ihrem herrlichen Gotteshaus passieren musste.“

„Ja, es ist entsetzlich, aber ganz besonders schlimm ist es für all die Menschen, die ihm nahestehen.“

„Da haben Sie natürlich vollkommen recht und Madame Lemercier ist von allen am meisten zu bedauern. Ist sie die Dame, die soeben mit einem Begleiter durch das Tor hinausgegangen ist?“

„Ja, das war Madame Lemercier. Es ist absolut bewundernswert, welche Haltung sie nach der fürchterlichen Entdeckung bewahrt hat.“

„Es reagiert eben ein jeder Mensch anders auf so ein Ereignis. Manche brechen erst Stunden später zusammen. Ich hoffe, sie hat Menschen um sich, die sich um sie kümmern.“

„Das hoffe ich auch. Ich habe ihr selbstverständlich meinen geistlichen Beistand angeboten und morgen werde ich sie aufsuchen. Sie hat mir aber auch klargemacht, dass sie heute Abend noch mit ihrer Trauer alleine sein will. Deshalb wird Monsieur Amontero sie erst einmal zu ihrem Hotel begleiten.“

„Monsieur Amontero? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.“

„Das ist kein Wunder. Er ist ja auch ein großer Klaviervirtuose und wird demnächst beim Festival von La Roque-d’Anthéron auftreten.“

„Aha“, Florence war bemüht, sich ihre Bestürzung über diese Information nicht anmerken zu lassen. Da hatte sie also am Gare de Lyon tatsächlich einem berühmten Pianisten das Klavierspiel verwehrt!

Der Pfarrer bemerkte ihren veränderten Gemütszustand. „Was ist, Madame? Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein? Ich muss mich wieder um die Polizisten kümmern, die sich noch am Tatort befinden, und kann es schon nicht mehr erwarten, dass hier endlich Ruhe eintritt!“

Tatort!? Florence starrte ihn mit großen Augen an, und schon hatte er seinen Fehler bemerkt.

„Nun gut, Madame, jetzt wissen Sie es also. Außer Ihnen wissen nur ich, Madame Lemercier und Monsieur Amontero, dass Monsieur Lemercier nicht eines natürlichen Todes gestorben ist. Bitte behalten Sie das bis morgen noch für sich. Morgen wird es ohnedies die ganze Welt erfahren. Der berühmte Dirigent Lemercier ist in unserem schönen Avignon und noch dazu in der Sakristei meiner Kirche grausam ermordet worden!“

„Mord“, flüsterte sie, „es ist also doch Mord.“ Dann gab sie sich einen Ruck, warf den Kopf in einer resignierenden Geste zurück und blickte dem Pfarrer in die Augen.

„Natürlich. Ich werde Sie jetzt in Ruhe lassen. Noch einmal vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft heute Morgen. Es war schön, Sie kennengelernt zu haben. Ich hätte unser Gespräch gerne noch fortgesetzt und mit Ihnen über etwas anderes gesprochen als über dieses schreckliche Ereignis. Aber nun müssen wir uns dem Schicksal fügen.“

„Wir fügen uns dem Willen Gottes, Madame“, sagte er und sein Gesichtsausdruck wurde mit einem Mal wieder freundlich. „Und es würde mich freuen, wenn Sie mich in den nächsten Tagen einmal aufsuchen würden, damit wir unsere Gespräche – über das Gute und über das Böse – weiterführen und abschließen können.“

„Amen“, hätte Florence am liebsten gesagt, aber das behielt sie für sich. Stattdessen verabschiedete sie sich. Sie war ohnedies schon viel zu spät dran und Monsieur Florentin würde bereits ungeduldig sein.

Monsieur Florentin war keinesfalls verärgert. Zusammen mit Chantal saß er an einem der Tischchen vor der Bar und nippte an einem Glas Rotwein. Chantal hingegen umklammerte eine große Tasse Kräutertee. Kein Wunder, dass sie nach diesem furchtbaren Ereignis ein beruhigendes heißes Getränk nötig hatte.

„Sie müssen hungrig sein, Florence! Ich habe schon eine Kleinigkeit gegessen, aber Chantal bringt nichts hinunter.“ Monsieur Florentin sprang auf und rückte für Florence einen Sessel zurecht. Chantal blieb sitzen, lächelte traurig und nickte Florence müde zu.

„Merci, Monsieur!“ Florence ließ sich auf einen der bunten Sessel nieder. „Ja, ich sollte wahrscheinlich auch etwas essen.“ Sie wandte sich an Chantal: „Wie geht es Ihnen denn, Chantal? Sie haben so wunderbar gespielt – und dann diese schreckliche Wendung der Dinge.“

„Ja, Madame, ich kann es noch immer nicht fassen, was da passiert ist. Dass mich heute Monsieur Lemercier aufgefordert hat, in der Bach-Suite die dritte Trompete zu spielen, kommt mir wie ein ferner Traum vor. Fast so, als wäre es in einem anderen Leben passiert.“

Eine Kellnerin kam an den Tisch und teilte mit, dass sie außer einem Croque-Monsieur auch noch Lamm mit grünen Bohnen oder ein Bœuf Bourguignon sowie diverse Salate anbieten könne. Monsieur Florentin empfahl das Lamm und wandte sich an die Kellnerin: „Richten Sie bitte Arnaud aus, dass er mit dem Lamm wieder eine Meisterleistung vollbracht hat.“ Die Kellnerin lächelte. „Merci, Monsieur, ich werde es dem Chef sagen! Wollen Sie es auch probieren, Madame?“ Florence lehnte dankend ab. Sie hatte nach all den Aufregungen keinen besonderen Appetit, entschied sich daher für einen schlichten Croque-Monsieur und nahm denselben Rotwein wie Monsieur Florentin, einen Sancerre. Dann wandte sie sich wieder an Chantal.

„Hat man Ihnen denn schon gesagt, wie es mit dem Festival weitergehen soll, Chantal?“

„Das hat man tatsächlich. Heute nach dem Konzert ist alles sehr schnell gegangen. Madame Petermann hat uns sofort in den Pfarrsaal geschickt. Papa hat zu seinem Bedauern draußen warten müssen.“ Sie schenkte ihrem Vater ein müdes Lächeln und fuhr dann fort. „Madame Petermann hat uns zu einer Trauerminute für den Verstorbenen aufgefordert und uns mitgeteilt, dass Monsieur Lemercier bestimmt keine Unterbrechung des Festivals gewünscht hätte. Sie wird ab jetzt selbst am Dirigentenpult stehen. Sie hat auch eine Ausbildung als Dirigentin und ist Barockspezialistin. Es ist nicht zum ersten Mal, dass sie in Vertretung von Monsieur Lemercier das Orchester leitet.“

Monsieur Florentin mischte sich ein. „Heute Abend scheint die Petermann ihre Sache ja sehr gut gemacht zu haben. Ich kann mir dennoch nicht vorstellen, dass ein so bemerkenswerter Dirigent ohne weiteres ersetzbar ist?“

Seine Tochter nickte. „Da hast du schon recht, Papa“, Chantal wirkte nun wieder etwas munterer, „jeder Dirigent hat seine ganz besonderen Eigenheiten und Vorlieben, seine spezielle Handschrift sozusagen, und diese Handschrift ist gewiss nicht ersetzbar. Aber Madame Petermann kennt seine Handschrift vermutlich in- und auswendig, denn sie ist schon seit der Gründung des Ensembles dabei.“

„Eigentlich verwunderlich, dass sich eine Frau ihres Formats so lange damit zufriedengegeben hat, im Orchester zwar die erste, als Dirigentin jedoch immer nur die zweite Geige zu spielen.“ Florence hob nachdenklich ihr Weinglas und hielt es ans Licht, so als wollte sie darin eine Erklärung finden.

„Das hat unser erster Trompeter auch über sie gesagt. Er ist ebenfalls schon seit der Gründung des Orchesters im Ensemble. Sie sei eine starke Persönlichkeit und habe hin und wieder versucht, Monsieur Lemercier einen Vorschlag zu machen. Da sei sie aber an den Falschen geraten, denn er habe keinerlei Einmischung in seine Interpretationen geduldet. Es wird aber auch gemunkelt, dass sie einmal ein Liebespaar gewesen seien.“

„Und mittlerweile hat sie ihn insgeheim gehasst und jetzt umgebracht“, mischte sich Monsieur Florentin ins Gespräch.

„Aber Papa, das ist geschmacklos. Wie kommst du nur auf die Idee, dass er ermordet worden ist? Mit dir geht schon wieder einmal deine Fantasie durch.“

„Du hast recht, Chantal, ich muss mich bei den Damen entschuldigen. Außerdem wäre es gar nicht möglich, denn sie hat ja dirigiert, während er gestorben ist.“

„Das wird man erst wissen, wenn man den Todeszeitpunkt und die Todesursache kennt.“ Florence konnte es nicht lassen, das Thema aufzugreifen.

„Aha“, Chantal klang erbost, „nun glaubt auch noch die Frau Kommissarin aus Paris an die Mordtheorie von Papa. Ich habe für heute genug, ich bin müde.“

Sie sprang auf und schnappte sich ihren Instrumentenkoffer. Dann fiel ihr Blick auf den noch halb vollen Teller von Florence. „Entschuldigen Sie, Madame! Es gehört sich nicht, dass ich Sie jetzt mit Ihrem Essen und mit Papa alleine lasse, aber ich muss wirklich ins Bett. Wir treffen uns morgen schon um zehn Uhr zur ersten Probe und davor muss ich mich noch einspielen.“

„Gehen Sie nur, Chantal! Wollen Sie sich nicht Ihrer Tochter anschließen, Monsieur? Ich komme sehr gut alleine zurecht.“

Monsieur Florentin zögerte, aber seine Tochter legte ihre Hand auf seine Schulter und drückte ihn auf seinen Stuhl.

„Nein, Papa, du kannst jetzt unseren Gast nicht alleine lassen und ich bin ohne dich sowieso schneller zuhause.“

Florence und Monsieur Florentin blickten der schlanken Gestalt in dem ärmellosen Kleidchen aus schwarzer Spitze und mit dem roten Instrumentenkoffer nach. Nun, da sie selbst schon zu den älteren Semestern gehörte, neigte Florence dazu, junge Leute zu unterschätzen. Es war gar nicht so einfach, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass jetzt schon die Generation der eigenen Kinder das Sagen hatte.

„Eine bemerkenswerte Tochter haben Sie, Monsieur. Gescheit und ambitioniert, wie sie ist, wird sie dieses Erlebnis bestimmt gut verkraften.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Insbesondere mit einem so fürsorglichen Vater an ihrer Seite.“

„Jaja, Madame, ich weiß. Unsere Fürsorge ist den Kindern meist lästig. Sie müssen aber jetzt Ihren Croque-Monsieur essen, sonst wird er noch kalt und ungenießbar.“

Florence nickte und widmete sich schweigend ihrem Essen, während sich Monsieur Florentin bemüßigt fühlte, seine Fürsorge für Chantal zu rechtfertigen.

„Wahrscheinlich halten Sie mich bereits genauso für eine Glucke, wie das andere Leute in meiner Umgebung tun. Jetzt, da Chantal endlich wieder aus Paris zurück ist, können meine väterlichen Gefühle schon einmal mit mir durchgehen. Sie war immer ein selbständiges Kind. Als ihre Mutter auf und davon ging, war sie erst acht. Dennoch hat sie sich damals mehr um mich gekümmert als ich mich um sie. Jetzt studiert sie schon seit vier Jahren in Paris und im Sommer ist sie ständig auf Konzertreisen und bei irgendwelchen Musikkursen. Ich sehe sie viel zu selten und das ist nicht ganz leicht zu ertragen.“

Florence hatte ihr Essen beendet, nickte ihm mitfühlend zu und schob den Teller zur Seite.

„Haben Sie auch Kinder, Madame?“

Florence bejahte. Sie habe einen Sohn und wisse, wie das sei, wenn ein Kind fernab von einem lebe. Ihr Michel sei schon vor einigen Jahren nach China gezogen und dort auch verheiratet. Es gehe ihm gut und das freue sie, aber leicht sei es auch für sie nicht gewesen, sich an diesen Umstand zu gewöhnen.

Sie erhob ihr Glas und prostete ihrem Leidensgenossen zu. „Auf das Wohl unserer Kinder, Monsieur!“

Madame Beaumarie und die Melodie des Todes

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